Lang, Heinrich - 10. Wißt ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid?

Lang, Heinrich - 10. Wißt ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid?

Luk. 9, 51 - 56.

Es ist ein Sprichwort: „Der Mensch ist der Gott des Menschen,“ und in der That, von Menschenhänden kommt uns von Jugend auf alle Hilfe. Im Umgang mit Menschen bildet sich unser Charakter, im Zusammenleben mit den Menschen erwachen unsere schönsten Gefühle, auf der Verbindung mit Menschen beruht unser Erdenglück. Der Mensch ist des Menschen Gott. Aber eben so wahr ist auch das andere: „Der Mensch ist des Menschen größte Plage.“ Fraget den Unglücklichen, er wird Menschen anklagen; fraget den Verbrecher, er wird Menschen anklagen; fraget die Reichen und Wohlhabenden, wovor fürchten sie sich; was macht sie oft so verdrießlich, so unruhig? - sie fürchten Menschen. Nennet mir einen Ort, wo die Menschen sich nicht anfeinden; nennet mir ein Haus, wo die Genossen sich nicht beleidigen; nennet mir eine Familie, deren Glieder sich niemals gekränkt haben! Kränken, beleidigen, anfeinden - gelinde Namen oft, um die schwersten Plagen anzudeuten, welche Menschen einander zufügen; und doch wollen Alle religiös sein, und doch ist so viel die Rede unter uns von Christenthum. Ach, wißt ihr denn nicht, weß Geistes Kinder ihr seid? Das ist ja eben die Absicht aller Religion, die Menschen wieder mit Gott und dadurch mit sich selbst zu vereinigen, und darauf weist auch Christus in unserm Texte hin, wenn er seinen Jüngern, welche über ihre Feinde Feuer vom Himmel verlangen, die Frage entgegenhält: „Wißt ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, Menschenseelen zu verderben, sondern zu erhalten.“

Laßt uns diese Frage, die Christus an seine Jünger richtete, an die Christenheit und an uns selber richten.

l. Wißt ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid?

Einige hundert Jahre vor der Reformation lebte im südlichen Frankreich ein stilles, zurückgezogenes Völklein, Waldenser geheißen; es schaffte ohne Geräusch und Aufsehen, fiel von den Satzungen der katholischen Kirche ab, führte einen dem Urchristenthum und den Urkunden des Neuen Testamente entsprechenden, einfachen Gottesdienst ein, und zeichnete sich dabei durch die Strenge feines sittlichen Lebenswandels aus. Als die Kirche Kunde erhielt von diesem Völklein und seinen Neuerungen, was that sie? Sie schickte bewaffnete Heere hin, plünderte, mordete, zerstörte; was nicht entfliehen konnte, fiel durch die Schärfe des Schwertes. Wißt ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, Menschenseelen zu verderben, sondern zu erretten.

Etwa ein Jahrhundert später, als das eben Erzählte vorgefallen war, traten an manchen Orten Vorläufer der Reformation auf, die mit erleuchtetem Geiste die einfachen Grundwahrheiten des Christenthums an's Tageslicht brachten und mit kühnem Schwert die eingerissenen Mißbräuche angriffen. Aber seht ihr die Scheiterhaufen, auf denen ein Huß, ein Hieronymus, ein Savonarola ihr Leben endeten; Gerechte, deren diese Welt nicht werth war? Und wer hat sie errichtet? Die christliche Kirche und ihre Diener. Ha, wißt ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, Menschenseelen zu verderben, sondern zu erretten. Und fast zur Zelt der Reformation, da schmachtet ein Mann, ein Forscher nach Wahrheit, die schönsten Jahre seines Lebens in einem dunkeln Kerker, bis er sein Augenlicht verloren hat! Warum? weil er gefunden hat, daß nicht die Sonne, wie man bisher gemeint hatte, sich um die Erde bewege, sondern umgekehrt. Wer hat diesen Mann in den Kerker geworfen? Die christliche Kirche und ihre Diener, weil sie fürchteten, wenn man die Erde frei sich drehen lasse, werden auch die Menschen anfangen, frei zu denken. Wißt ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, Menschenseelen zu verderben, sondern zu erretten.

Verweilen wir bei der Reformation selber und werfen einen Blick auf Frankreich, welch ein düsteres Gemälde rollt sich vor unsern Augen auf! Auch in jenem Lande hatten die Grundsätze der Reformation einen fruchtbaren Boden gefunden, durch siegreiche Kämpfe mit ihren Feinden hatten sich die Reformirten daselbst eine feste Stellung erobert, was geschieht? Unter dem Scheine gegenseitiger Versöhnung, unter der Maske der Freundschaft werden alle Reformirten zu einem Hochzeitsfeste in die Hauptstadt geladen, aber während sie hier arglos, keine Gefahr ahnend, versammelt sind, ertönt plötzlich die Sturmglocke, sie werden überfallen und in wenig Stunden sind viele tausend Reformirte das Opfer der Hinterlist und des Religionshasses geworden; der König selbst, der christlichste unter allen, schießt vom Balkone auf die Fliehenden herab und der Papst läßt ein Tedeum singen zur Feier dieses Blutbades. Ha, wißt ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, Menschenseelen zu verderben, sondern zu erretten.

Und später, hundert Jahre nach der Reformation, sehen wir zwischen Reformirten und Katholiken einen 30jährigen Religionskrieg entbrennen, den an Furchtbarkeit und Gräßlichkeit kein anderer Krieg je übertroffen hat. Bruderstämme wüthen gegen Bruderstämme, Genossen der gleichen Religion gegen einander nicht wie Menschen, sondern wie wilde Thiere. Wißt ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, Menschenseelen zu verderben, sondern zu erretten.

Auch jetzt - zwar sind die Waffen niedergelegt, die offenen Kämpfe ruhen, Glaubens- und Religionsfreiheit sind fast in allen Staaten gewährleistet, aber ruht darum auch der Haß im Herzen? der Groll und die Zwietracht der Konfessionen gegen einander? zerstört dieser Haß nicht noch immer das Glück, die Wohlfahrt und Eintracht so vieler Staaten? und wird er nicht immer von Priestern und Leitern der Völker absichtlich unterhalten und geschürt? Ach, wißt ihr denn nicht, weß Geistes Kinder ihr sei-d? Wollen sie's denn nicht lernen, die Priester aller Zeiten und Konfessionen, daß nicht Herrschsucht und Aufreizung der Leidenschaften, sondern Sanftmuth, hingebende Liebe und Duldsamkeit die Kennzeichen eines Jüngers Christi sind?

Auch unter uns, die wir der reformirten Konfession angehören, dürste wohl noch Vielen zugerufen werden: Wißt ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid? Nach den Grundsätzen unserer Kirche gibt es keine gemachte Gleichheit und Einheit der Lehre; wir haben freie Forschung in der Schrift und es wird Niemand zugemuthet, etwas zu glauben, was er nicht mit seiner innersten Ueberzeugung vereinigen kann. Daher herrscht denn unter uns manchfacher Streit über Lehre und Glaubenssätze, und das Christenthum wird das Rheinthal auf und ab oft in gar verschiedenem Sinn gepredigt. Sollen nun die Einen die Andern verdammen, weil sie sich über dies und das anders ausdrücken? Wollen wir das Richteramt führen und gleichsam ein neues Papstthum einsetzen? Sollen die Einen wegen Verschiedenheit der Lehren und Meinungen den Andern das Christenthum und die Seligkeit absprechen? Ach, wißt ihr denn nicht, weß Geistes Kinder ihr seid?

Den ächten Frommen werdet ihr immer auch duldsam finden. Er liebt jedes Menschengemüth, aus dem ihm irgend ein Funke von Religion entgegenleuchtet und hält sich am liebsten an das Wort des Petrus: „Unter allem Volk, so Jemand Gott fürchtet und recht thut, der ist Gott angenehm.“ Wie in der äußeren Natur die größte Mannigfaltigkeit und Abwechselung Statt findet, und nicht bloß die einfärbige Nacht, sondern auch der vielfarbige Tag uns entgegentritt, so ist auch auf dem Gebiete des religiösen Lebens Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit zur Schönheit und Vollkommenheit des Gottesreichs nothwendig. Jeder hat von Gott eine von den Andern unterschiedene Gabe erhalten; so ist der Eine mehr geneigt zur stilleren Betrachtung, der Andere mehr zu einem kräftigen, werkthätigen Handeln; der Eine mehr geeignet zu einer gefühlvollen, der Andere zu einer verstandesklaren Auffassung der Religion, und dadurch entsteht ein unvermeidlicher Kampf der Ansichten und Meinungen; aber wir müssen einander eben in Gottes Namen dulden, müssen lernen, einander zu vertragen und zu verstehen; nur wenn Alle zusammenwirken und Jeder sein Scherflein herbeibringt, bildet und erbaut sich immer von Neuem der bei allem Wechsel doch in sich Eine Tempel des göttlichen Geistes auf Erden.

Die Erfahrung dürftet ihr im Leben wohl immer bestätiget finden: Je unduldsamer, verdammungs- und verfolgungssüchtiger in Sachen der Religion, desto hochmüthiger, desto mehr ist die Religion nur Sache des Verstandes, nicht des Herzens und Lebens. Aber freilich, wenn hier Duldsamkeit als Zeichen des ächten Frommen genannt wird, so soll damit keineswegs der bei einem großen Theil unserer Zeitgenossen eingerissenen Faulheit in geistigen Dingen und Gleichgültigkeit gegen alle religiösen Fragen das Wort gesprochen werden; die Sorge um das Irdische und die Behaglichkeit im Genuß des weltlichen Lebens hat in dieser Beziehung eine gewisse Gleichgültigkeit weithin verbreitet, daß man oft nicht mehr darnach fragt, ob Einer heidnisch oder türkisch, katholisch oder reformirt gesinnt ist, wenn er nur im Uebrigen ein brauchbarer Mensch ist. Aber diese Gleichgültigkeit ist der Religion eben so schädlich, als die Unduldsamkeit und der ächte Fromme ist von beiden gleich weit entfernt. Er ist für die Religion begeistert; er wirkt dafür, daß die Nebel des Irrthums und Aberglaubens immer mehr zerstreut, die Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit immer weiter verbreitet werde; aber sobald ihn der Eifer um die Sache Gottes verzehren und zu unduldsamem Richten und Verdammen verleiten wollte, so fällt ihm die Frage des Herrn ein: Wißt ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, Menschenseelen zu verderben, sondern zu erretten.

II.

Haben wir im Bisherigen den nächsten Sinn unserer aufgestellten Frage darin gefunden, daß sie gegen alles unduldsame Eifern auf dem religiösen Gebiete gerichtet ist, so dürfen wir zweitens auch noch dieses Weitere darin ausgesprochen finden, daß sie überhaupt Haß, Zwietracht und unversöhnliches Wesen als unvereinbar mit dem Christenthum ausschließen will.

Wißt ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid? Ihr streitet oft um ein Stück Feld oder um ein Stück Geld, wegen gewisser irdischer Ansprüche an einander mit einer Leidenschaftlichkeit, mit einem Haß, mit einer Rachsucht, daß man wahrhaftig versucht sein könnte, zu glauben, es wollte euch Jemand euern Gott und eure Seligkeit nehmen. Wißt ihr denn nicht, weß Geistes Kinder ihr seid?

Ihr streitet oft wegen eines Angriffs auf eure Ehre, wegen einer Zurücksetzung, die ihr erfahren mußtet, wegen einer Versagung der Ehrerbietung, die man euch schuldig sein soll, mit solcher Leidenschaftlichkeit und zürnet mit solcher Unversöhnlichkeit, daß man meinen könnte, es hätte euch Jemand den Trost eines guten Gewissens und das Wohlgefallen Gottes geraubt. Wißt ihr denn nicht, weß Geistes Kinder ihr seid? Es soll damit nicht gesagt werden, daß man nicht berechtigt, ja verpflichtet sei, Angriffe auf sein Eigenthum und seine Ehre auf die gesetzmäßige Weise abzuwehren. Es kann Streitigkeiten geben, wo beide meinen, im Rechte zu sein; nun dann gehe man zum Richter, daß er entscheide, wo das Recht ist! Aber kann denn das nicht ohne Haß und Leidenschaftlichkeit und Feindschaft geschehen? Sollte man nicht auch hiebei zeigen, weß Geistes Kind man ist? Wißt ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid? Meine Brüder in Christus! wenn ich diese Versammlung überschaue und dabei denke, daß doch vielleicht Manche da sitzen, die in hartnäckigem Haß und unversöhnlicher Zwietracht mit einander leben, so muß Wehmuth die Seele erfüllen. Ach, Jahre lang sind oft Nachbarn Feinde und geben einander keinen herzlichen Gruß; Jahre lang befeinden sich Brüder und achten des gemeinschaftlichen Blutes nicht; Jahre lang meiden sich Verwandte und kein warmer Strahl des Wohlwollens fällt in ihr kaltes Herz; Jahre lang grollen Eltern und Kinder und achten des Bundes nicht, den die Natur unter ihnen errichtet hat. Sie kommen in's Gotteshaus und hören Worte des Friedens; sie kommen zum Abendmahl und trinken das Blut der Versöhnung- und versöhnen sich nicht. Wißt ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid? Wißt ihr nicht, daß man keine Religion haben kann, wenn man keine Liebe hat, daß man nicht zu Gott beten kann, wenn man Flüche gegen einen Mitmenschen auf den Lippen hat (Matth. 5, 23 f.).

O möchten wir immer mehr lernen, weß Geistes Kinder wir sind; Kinder desjenigen Gottes, der regnen und die Sonne aufgehen läßt über Gute und Böse, Nachfolger desjenigen, der gekommen ist, Menschenseelen nicht zu verderben, sondern zu retten, durch den Odem seines liebenden Geistes alle Herzenshärtigkeit zu zerstören und ein Reich Gottes, auf Tugend und Liebe gestützt, auf Erden zu stiften. Amen.

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