Lang, Heinrich - 4. Das Christenthum die weltverklärende Religion

Lang, Heinrich - 4. Das Christenthum die weltverklärende Religion

oder: Die Welt im Lichte des Christenthums.

Römer 8, 18 - 23.
Denn ich halte es dafür, daß dieser Zeit Leiden der Herrlichkeit nicht Werth sei, die an uns soll offenbaret werden. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes; sintemal die Kreatur unterworfen ist der Eitelkeit ohne ihren Willen, sondern um deßwillen, der sie unterworfen hat aus Hoffnung. Denn auch die Kreatur frei werden wird von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß alle Kreatur sehnet sich mit uns und ängstet sich noch immerdar; nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir haben des Geistes Erstlinge, sehnen uns auch bei uns selbst nach der Kindschaft und warten auf unseres Leibes Erlösung.

Meine chr. Freunde! Der Apostel Paulus spricht in unsern Textesworten von einem Gefühl der Unbehaglichkeit, das sich durch die ganze Schöpfung hindurchziehe, von einer daraus entspringenden bangen Sehnsucht der Kreatur nach Erlösung und Befreiung von der Knechtschaft des vergänglichen Wesens, dem sie unterworfen sei. Selbst diejenigen, die doch schon die Erstlingsgaben des Geistes empfangen haben durch Christus, fühlen sich doch immer noch gedrückt von der Knechtschaft des Fleisches und sehnen sich daher, vollkommen hindurch zu dringen zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Und diese Erlösung der Kreatur, die Stillung des bangen Sehnens der Schöpfung erwartet Paulus eben vom Christenthum; in der Offenbarung der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes sieht er die Vollendung des Christenthums. Aber - so wird hier der Unglaube oder der Kleinglaube fragen - hat das Christenthum diese hohe Erwartung erfüllt? Was hat es seit einem Bestand von tausend Jahren geleistet, um die seufzende Kreatur zu befreien und sie dem herrlichen Ziel der Freiheit der Kinder Gottes näher zu bringen? Ist nicht das Gefühl der Zerrissenheit und allgemeinen Unbehaglichkeit in unsern Tagen stärker als jemals? Erwartet man nicht von allen Seiten, Jeder in seinem Sinne, neue Messiasse? Hört man nicht durch alle Gauen bald in schweren Seufzern, bald in lauten Empörungen der Völker die Frage tausendmal wiederholen: „Hüter, ist die Nacht nicht bald hin?“ Wir antworten auf diese Frage einfach durch die Gegenfragen: Hat die Welt vom Christenthum nicht bisher mehr den Schein, als die Wahrheit, mehr die Formeln, als das Leben, mehr den Buchstaben, als den Geist gehabt? Hat man nicht zu allen Zeiten mehr die Kirche, als die Religion, mehr, die Theologie, als die Gottseligkeit gesucht? Mit welchem Recht kann man sich also/ beklagen, wenn das Christenthum statt der Trauben nur Heerlinge gebracht hat? Versuche es einmal, die Grundgedanken des Evangeliums zu den Grundgedanken deines eigenen Lebens zu machen, so bist du befreit von dem Dienste der Eitelkeit und der Knechtschaft des vergänglichen Wesens und athmest in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes; laß nur erst eine größere Anzahl von Menschen, eine Gemeinde, ein ganzes Volk, wenigstens seiner Mehrheit nach, im Geiste Christi leben und den sittlichen Forderungen des Evangeliums entsprechen, - du wirst dich wundern, wie schnell sich das Seufzen der Kreatur, das bange Gefühl der Unbehaglichkeit und des Unglücks verwandeln würde in Freude, Glück und Freiheit.

Um uns hievon tiefer zu überzeugen, lasset uns miteinander betrachten:

Das Christenthum als die weltverklärende Religion,

oder:

Die Welt im Lichte des Christenthums.

Wenn wir die Religionen der Völker vor Christus betrachten, welch ein Seufzen der Kreatur tritt uns da entgegen! Welch ein Dienst des Vergänglichen war es, in dessen Knechtschaft die Heiden gefangen gehalten waren, wenn sie ihre Knie beugten vor steinernen und hölzernen Bildern, das Wohl und Wehe ihres Lebens leblosen Dingen anvertrauten. Und welch ein Seufzen unter dem Stabe Mosis bei den Israeliten, wie schwer lag das Joch des willkürlichen und oft kleinlichen Gesetzes auf ihrem Nacken, wie mühten sie sich ab, durch äußere Werke und Opfer die Gottheit zu versöhnen! Wir mögen es daher wohl begreifen , warum einzelne Gottesmänner ängstlich harrten auf die Zeit der Offenbarung der Kinder Gottes, warum ein Abraham sich freute, als er den Tag Jesu Christi in nebelgrauer Ferne aufdämmern sah; warum David so freudig die Harfe schlug und Jesajas in begeisterter Rede seinen Gesang dahinströmen ließ, wenn ihren Blicken die freundliche Gestalt Desjenigen begegnete, der die Mühseligen und Beladenen zu sich lud, um ihnen die Last leicht zu machen. Ja, wie hat Er, der Worte des ewigen Lebens hatte, von dem es heißt: „Wen der Sohn frei macht, der ist recht frei,“ wie hat er die Decke von den Augen der Menschen weggezogen, wie hat er das Seufzen des Menschenherzens gestillt und die Fesseln gebrochen, in denen der Menschengeist schmachtete! Er brauchte nur das eine seiner Lebensworte: „Gott ist Geist“ in die Welt hinauszurufen, um die Welt in einem ganz neuen Lichte erscheinen zu lassen. Gott ist Geist, also an keinen Ort gebunden, sondern überall, allgegenwärtig, „in ihm leben, weben und sind wir,“ und Er lebt, webt und ist in uns; vor ihm, „der Augen hat wie Feuerflammen,“ „der Herzen und Nieren prüft und unsere Gedanken von ferne erkennt,“ liegen wir aufgeschlossen und durchsichtig da bis in unsere innersten Tiefen mit unserm ganzen Thun und Denken. O welch ein freundlicher Trost liegt hierin für den Frommen! Wenn alle Schmerzen eines Menschenlebens über dein Herz hereinbrechen, wenn alle Blitze des Geschickes über deinem Haupte zusammenschlagen, wenn Kriegsstürme dich von Haus und Hof vertreiben, wenn Mißgunst der Menschen dir in der Wüste oder am äußersten Meere die Wohnung anwiese: siehe! so ist er auch da, so wird dich seine Hand daselbst führen und seine Rechte dich halten; Gott ist in dir und weiß als heiliger Geist (Joh. 14, 16) dem Müden und Bekümmerten Trostesworte zuzuflüstern und dem Ermatteten eine Siegeskraft zu verleihen, dadurch er wandelt und nicht müde wird; er weiß, wenn du dein Haupt auf einen kalten Stein zu legen genöthiget wirst, über dem Steine eine Himmelsleiter zu errichten, auf welcher ewige Kräfte, sich die goldnen Eimer reichend, auf- und niedersteigen und die Seele mit Himmelswonne füllen, daß du, aufwachend und aufschauend von deinem Schmerzenslager, ausrufest: „Gewißlich ist der Herr an diesem Orte und ich wußte es nicht; wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts Anderes denn Gottes Haus und hier ist die Pforte des Himmels.“ Aber wie vernichtend ist dieser Gedanke für den Gottlosen! Mag er fliehen vor seiner Schandthat bis an's äußerste Meer, oder sich verbergen in den Tiefen der Erde und sprechen: „Fallet über mich, ihr Berge, bedecket mich, ihr Hügel;“ er kann Gott nicht entrinnen und vor ihm sich nicht verbergen, er trägt ihn an alle Orte mit als den Richter^ in ihm selber. Mag er, wenn er heimlich Böses thut, bei sich sprechen: „Es ist finster um mich und die Wände verbergen mich, daß mich Niemand stehet; wen soll ich scheuen?“ mag er sich bei sich selbst trösten und sagen: „Der Herr stehet nach mir nicht, wer fraget im Himmel nach mir? Unter so großem Haufen denket er an mich nicht, was bin ich gegen so große Welt?“ (Sirach 23, 26. 16, 15.) Gott stehet es doch, er ist der Richter in dir, der auch deine heimlichsten Gedanken und verborgensten Handlungen mit seinem belohnenden oder bestrafenden Gerichte verfolgt. Oder, wenn das nicht so wäre, warum bist du so unsicher und unruhig in dir selber, warum verdammt dich Herz und Gewissen gleichwohl, wenn du deine Seele nur mit sündhaften Gedanken und Bildern befleckest, von denen ja doch Niemand Etwas weiß? Warum erröthest du vor dir selber? Siehe, der, vor dem du erröthest, ist Gott, der allgegenwärtige Geist; das ist das Göttliche in dir, vor dem du mit deinem ganzen Wesen offenbar und aufgeschlossen bist, das du hundertmal schon in deinem Leben weggewünscht hast und gewiß schon aus deinem Herzen herausgerissen hättest, wenn das in deiner Willkür gelegen wäre; aber es ist schwer, gegen den Stachel auszuschlagen und fruchtlos mit der Gottheit zu kämpfen; oft zurückgewiesen und verwünscht, tausendmal zurückgedrängt hinter den Sorgen oder Freuden des Lebens, tausendmal bekämpft von den Sophistereien des Verstandes - tritt dieser innere Richter doch immer wieder auf den Plan und spricht seinen Spruch über unser Leben und thut es uns kund, daß wir kein wahres Glück besitzen ohne Gehorsam gegen die göttlichen Gesetze, aber auch von keinem wahren Unglück getroffen werden können, so lange unser Leben den göttlichen Gesetzen unseres Wesens gemäß ist.

„Gott ist Geist!“ wie ist uns nun durch dieses Wort die Welt verklärt! Jetzt lacht der Himmel freundlich über uns und die Erde steht hierunten fest, und keine feindseligen Gewalten, keine bösen Mächte vermögen mehr den Boden unter unsern Füßen unsicher zu machen, um uns abwärts zu zieh'n und unsere Seelen mit schwarzen Bildern zu ängstigen; die Nachtgestalten, die Angst- und Trugbilder, welche die alte Erde den Menschen unfreundlich gemacht haben, sind verschwunden; da ist kein Hüben oder Drüben, kein Unten oder Oben, die ganze Welt ist der Tempel des Einen Geistes, Alles nur verschiedene „Wohnungen in dem Hause des Einen Vaters,“ und hier wie dort steht uns der Himmel offen.

Aber wie? wird dieser ewige Geist nicht ein verzehrendes Feuer sein für die Kreatur? Werden seine Gesetze uns nicht ewiglich fremd und äußerlich bleiben? Also wieder ein Joch für uns werden, unter dem wir uns plagen, eine Last, unter der wir seufzen! Werden wir, die schwachen, gebrechlichen Geschöpfe, Vertrauen fassen dürfen zu diesem Geist? Werden wir ihm nahen können auf Du und Du? Ja, meine christlichen Freunde, wir dürfen es, wir können es.

Gott ist Vater, das ist der eigenthümliche, Vertrauen erweckende Gottesname, den wir aus dem Munde Jesu vernehmen und nur aus seinem Munde mit dieser ganzen, eine neue Welt erschließenden Bedeutung dieses Wortes vernehmen. Aber wir sind es von Jugend auf zu sehr gewöhnt, Gott mit diesem Namen nennen zu hören, als daß wir das Ungeheure und Gewaltige ahnten und fühlten, das in diesem Worte verborgen ist. Aber denket euch einen Menschen, der, in früher Kindheit verirrt, Heimath und Vaterhaus verloren und mit der Länge der Zeit selbst die Erinnerung daran eingebüßt hätte, und ein solcher Mensch säße einsam und freudlos in einer öden Wüste, das Auge niedergeschlagen und das Haupt gebeugt vor dem Schmerz des Lebens - und es käme von Ohngefähr ein Anderer zu ihm und spräche: „Lieber Mensch, warum sitzest du hier so niedergeschlagen und betrübt? Weißt du nicht, daß du noch eine Heimath hast, ein Vaterhaus, einen Vater, der dich schon lange gesucht hat?“ Meinet ihr nicht, sein Auge werde wieder leuchten von wunderbarem Feuer bei Erwähnung des Vaternamens, und er werde aufspringen und dem Andern um den Hals fallen und sprechen: „Lieber Bruder, du hast einen Gotteslohn an mir verdient.“ So, meine christlichen Freunde, saßen ja die Menschen auch einst, seufzend unter der Knechtschaft des vergänglichen Wesens, in der freudlosen Wüste des Lebens und die Erinnerung an die ewige Heimath des Geistes war ihnen entschwunden: da kam Jesus Christus, als der Erstgeborne unter den Brüdern, zu seinen armen Mitbrüdern, und erzählte ihnen wieder von dem verlornen Vaterhause,

Da kam ein Heiland, ein Befreier,
Ein Menschensohn voll Lieb' und Macht,
Und hat ein allbelebend Feuer
In unserm Innern angefacht;
Nun sehn wir erst den Himmel offen
Als unser altes Vaterland,
Wir lernten glauben nun und hoffen,
Und fühlten uns mit Gott verwandt.

Und wenn wir Gott Vater nennen dürfen, nun, so sind ja wir seine Kinder, Gotteskinder; zwar freilich Anfangs noch schwache, strauchelnde Kinder; aber darum steht ja Christus vor uns, als das vollendete Gotteskind. als der Gottessohn, der von sich sagte: „Ich und der Vater sind Eins;“ sein Geist hilft unserer Schwachheit auf (Röm. 8, 26), so daß wir an ihm hinaufwachsen und hinangelangen zu der vollendeten Mannesgröße des religiösen Lebens, in welcher Jesus Christus vor uns steht (Ephes. 4. 13).

In diesen wenigen Lebensworten, die, wie dieß bei der Wahrheit immer der Fall ist, so kindlich einfach und doch von unerschütterlichem Reichthum sind, liegt die ganze Bedeutung des Christenthums, die ganze weltverklärende Kraft dieser Religion. Denen, die aus dem Geiste Christi wiedergeboren sind, steht jetzt Gott nicht mehr gegenüber als ein fremdes, ihnen fernes und äußerliches Wesen, sondern als heiliger Geist hat er Wohnung in ihnen gemacht und dieser Geist ist reichlich ausgegossen über ihre Herzen. Der Wille Gottes steht jetzt nicht mehr als Gesetz und Gebot uns gegenüber, zu dessen Erfüllung wir uns zwingen müssen, als etwas unserm innersten Wesen Fremdes, dem wir uns nur mit dem ängstlichen Geiste der Furcht nähern, sondern die Liebe ist in den Herzen als des Gesetzes Erfüllung, das Gute ist eine lebendige Kraft in uns, eine innere Freudigkeit geworden; wir haben nicht mehr den Geist der Knechtschaft empfangen, daß wir uns abermal fürchten müßten, sondern den kindlichen Geist, mit dem wir rufen: Abba, lieber Vater! Jetzt sprechen wir nicht mehr: Wer fährt uns in den Himmel hinauf, Christum zu holen, oder wer fährt uns in die Tiefe hinunter, ihn heraufzuholen von den Todten? sondern das Wort und Heil ist nahe in unserm Munde und in unserm Herzen (Röm. 10, 6-8), das Himmelreich ist inwendig in uns. Da hört der unversöhnliche Zwiespalt zwischen Geist und Fleisch, zwischen dem Gesetz des Gemüthes und dem Gesetz in den Gliedern auf, der Leib wird ein Tempel des heiligen Geistes, der in uns ist, und der Mensch gelangt zu der ruhigen Klarheit und Freudigkeit des innern Lebens, in welcher Vernunft und Sinnentrieb sich die reinen Schwesterhände bieten; und wenn auch diese Quelle des Guten, die jetzt in uns strömt, hin und wieder getrübt wird durch die Sünde, so herrscht doch die Sünde nicht mehr in uns; es ist doch keine Knechtschaft des vergänglichen Wesens mehr, sondern die herrliche Freiheit der Kinder Gottes ist an uns offenbar geworden.

So, meine christlichen Freunde, hat uns Christus die innere Welt unseres Geistes verklärt; aber auch die Welt außer uns zeigt er uns in einem ganz neuen Licht. Da begegnen unserm Blicke zuerst unsere Mitmenschen. Wer sind sie, diese wunderbaren Wesen, Alle mit dem schönen Körper, der aufrechten, herrlichen Gestalt, mit dem Herzen, das Liebe sucht, mit dem Auge, das von überirdischem Feuer leuchtet, mit der Stirne voll ewiger Gedanken? Wer sind sie, diese Wesen, geschaffen bald zu unserer seligsten Lust, bald zu unserer größten Plage? Der natürliche Mensch betrachtet sie als Geschöpfe, die ihm Vortheil oder Schaden gewähren können, deren Werth er darnach schätzt, ob er von ihnen Lust oder Unlust zu erwarten hat. Die Ersten liebt er, die Zweiten haßt er, den Werthgeschätzten thut er wohl, den Widerwärtigen übel, und zwischen beiden gibt es für ihn noch eine Klasse von Solchen, die weder eine anziehende noch abstoßende Kraft auf ihn ausüben; diese sind ihm gleichgültig. Daher gehen die Menschen in der Welt so kalt und gleichgültig an einander vorüber, reichen sich zwar die Hand, aber nicht die Liebe; Laune wählet den Freund, Vortheil bestimmt den Gefährten und die Meisten bleiben sich fremde Wesen. Auf diesem Boden des natürlichen Herzens wachsen die Leidenschaften, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen vergiften und kein Glück in der Menschheit aufkommen lassen. Da wächst die Herrschsucht, diese satanische Leidenschaft, über die Mitmenschen zu herrschen durch Gewalt, durch Geburt, durch Geld, durch Talente, die im Interesse eines Einzigen die Völker zu Paaren treibt und als willenlose Heerden behandelt oder einer Kaste zu lieb Foltern und Scheiterhaufen für Tausende errichtet, die aber im Kleinen, in Haus und Dorf, wenn auch nicht so augenfällig, doch eben so empfindlich wüthet, wie im Großen; da ruht der Eigennutz und die Selbstsucht, die so allgemein als der Krebsschaden unserer Zeit beklagt wird; da stammen die verschrumpften, in Geiz und Habsucht verstrickten Seelen her, die vor der Roth des Mitmenschen sich verschließen und kälter sind als das Silber, das sie umklammern. Daher das lieblose Richten und Verdammen, das die Schwächen des Nebenmenschen hervorkehrt und sich an seinem Schaden weidet, daher die steinernen Herzen, die keine Weichheit, keine Milde, keine Liebe, keine Zartheit, keine Sanftmuth kennen.

Aber ein Blick der Religion fallt in diese Nacht des natürlichen Lebens und zeigt uns die Mitmenschen in einem neuen Lichte. Da sehen wir Einen, der geht, getrieben von einer selbstlosen, aufopfernden Liebe, durch Städte und Dörfer, um das Verlorne zu suchen, will für sich selbst keine Stätte haben, wo er sein Haupt hinlegen kann, will für sich arm und niedrig sein, um seine Mitbrüder reich zu machen in Gott; das Herz bricht ihm über sein Volk, weil es nicht bedenken wollte, was zu seinem Frieden dient, über Jerusalem, dessen Kinder er hatte um sich sammeln wollen, wie die Henne ihre Küchlein, und sie hatten nicht gewollt; und als sie ihn zum Lohn für seine Liebe an's Kreuz hefteten, fleht er für seine Mörder, die nicht wissen, was sie thun. Da sehen wir einen Anderen, der verläßt Haus und Hof, reißt sich vom Vater- und Mutterherzen los, geht hin unter Gefahren zu Wasser, unter Mördern, unter den Juden, unter den Heiden, in der Wüste, auf dem Meere, unter falschen Brüdern, in Mühe und Arbeit, in Wachen, Hunger und Durst, in Fasten, Frost und Blöße - zu Menschen, die er nie gesehen hatte, die er nicht kannte, die ihn höhnisch von sich wiesen. Was ist das, fragen wir, woher diese neue, unbegreifliche Gewalt der Liebe?

„Einer ist euer Vater im Himmel, ihr aber seid alle Brüder,“ antwortet das Gotteswort (Matth. 23, 8. 9). Alle sind als Kinder des Einen Vaters Brüder untereinander, theilhaftig des göttlichen Ebenbilds, angehaucht vom Ewigen zum ewigen Leben, dazu berufen, aus dem Verderben der Sünde zurückzukehren zu der Kindschaft Gottes, aus der Knechtschaft des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, dazu bestimmt, ein Himmelreich auf Erden aufzurichten, eine Gemeinschaft unter einander zu bilden, in welcher Alle, aus dem Geiste Christi wiedergeboren, zum ewigen Leben und zur Seligkeit in Gott geführt werden sollen. Da gibt es keine Zöllnerliebe mehr, die nur aus Selbstsucht liebt; da waltet ein innerer Drang, des Nebenmenschen wahrzunehmen mit Reizen zur Liebe und zu guten Werken (Hebr. 10, 24), und Alle, die vom Geiste dieser Liebe getrieben werden, treten nun hinaus unter ihre Mitmenschen im hohenpriesterlichen Gewande, den Trost des Evangeliums zu bringen, wo ein Sünderherz weint in seinem Schmerz, und den Ernst des Gesetzes, wo ein Sünderherz lacht in seinem Trotz. Dieser Liebe ist kein Mensch zu klein, um seiner nicht zu achten: „Hütet euch, daß ihr Keinem unter diesen Kleinsten ein Aergerniß gebet; denn Gottes Auge schauet mit Wohlgefallen auf sie,“ und kein Mensch zu schlecht und dem Herzen zu fern, um ihn von sich zu stoßen: „Segnet, die euch fluchen, thut wohl Denen, die euch beleidigen.“ Nur auf diesem heiligen Boden begreifen wir die Feindesliebe, welche den natürlichen Menschen als Schwärmerei erscheinen muß. Ob wir auch im Innersten abgestoßen werden von dem Gemeinen, das uns oft umgibt, ob wir tief empört werden von allem Niedrigen, wir lieben und achten das Menschliche, das auch dem Gemeinsten noch innewohnt; wir wecken und nähren den glimmenden Funken des Edleren, das auch in dem Schlechteren noch schlummert; wir bringen der Sünde das Schwert, aber dem Sünder die Palme entgegen; nicht mit Groll und Rachsucht, sondern mit dem Schmerz der verkannten und zurückgewiesenen Liebe schauen wir Denen nach, die unsere Friedenshand von sich stoßen und in bitterem Wesen verharren.

O, wenn diese Liebe in den Herzen blühte, wie viel fester, heiliger und schöner würden die natürlichen Bande werden, von denen die Menschen umschlungen sind! Wie innig würde der Gatte die Gattin an's Herz schließen! Wie würden die Eltern ihre Kinder betrachten als kostbare Pfänder, die ihnen die Menschheit geliehen, um sie ihr geheiligt zurückzustellen! Wie würde die Freundschaft zu einem tiefen, inhaltreichen Geistesbunde werden!

Lasset uns nun auch noch die Erde ansehen - als den Schauplatz, der den Menschen für ihre Thätigkeit angewiesen ist - und fragen: Wie erscheint uns die Erde im Lichte des Christenthums? Als ein Jammerthal, wird die allgemeinste Antwort sein. Und in der That, schon von den ersten Christen ist die Erde so betrachtet worden und nicht undeutlich blickt diese Ansicht auch im Hintergrunde der Urkunden des neuen Testamentes durch. Daher jenes fast ungeduldige Sichhinaussehnen aus dieser Welt, jene gespannte Erwartung der schnellen Wiederkunft Jesu Christi bei den ersten Christen. Je unbefriedigender die Verhältnisse dieser Welt für das religiöse Gemüth, je schlechter die Zeiten, je verdorbener die Masse der Menschen und je größer das Unglück der Zeiten, desto begreiflicher ist es, die Erde als Jammerthal zu betrachten und sich in die Tiefen des Gemüthes zurückzuziehen, um sich da eine schönere, ferne und jenseitige Welt aufzubauen; aber damit hat die Religion ihr Ziel nicht vollendet; so wird ja das Ewige nicht hereingebildet in das Vergängliche, das Natürliche wird nicht verklärt, Gott und Welt bleiben ewig außer einander. Die Erde soll kein Jammerthal sein, sondern ein Himmelreich werden. Die Frömmigkeit muß heraustreten aus dem stillen Kämmerlein, in das sie sich bisher so gerne eingeschlossen hielt, muß mit ihrem lebendigen Odem das Todte beleben und das Starre erwecken; wir sollen allen den verschiedenartigen Kreisen des Menschenlebens, die sich in bunten Formen um uns lagern, einen gottgemäßen Gehalt einverleiben, und mit regem Interesse an dem Werk der Freiheit arbeiten, welches der Menschheit vorgelegt ist, damit wir die Erde verwandeln in einen freundlichen Wohnplatz für Gotteskinder.

Aber werden damit alle Schmerzen der Menschheit abgenommen? wird alles Seufzen der Kreatur aufhören? wird es keine Leiden und keine Thränen mehr geben auf der verklärten Erde? Wohl wird es solches noch geben; aber doch wird der größte Theil der Leiden und zwar diejenigen, unter denen die Kreatur am schwersten geseufzt hat, mehr und mehr schwinden; die andern, die in der Endlichkeit der menschlichen Natur ihren Grund haben, erleichtert uns das Christenthum, indem es sie uns in einem neuen Lichte zeigt.

1. Es werden immer mehr schwinden diejenigen Leiden, die dem Menschen durch seine Mitmenschen entsprossen sind, wodurch der Mensch bisher des Menschen größte Plage war. Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit - die Schlagworte, von denen unser Zeitalter die Heilung der leidenden Menschheit erwartet: wohlan, ihr habt sie im Christenthum, aber entsprungen auf dem Boden des wiedergeborenen Menschenherzens, nicht des natürlichen, fleischlichen, das nur sich selbst und nur irdisches Wohlergehen sucht. Gleichheit: denn in Christus ist kein Jude, einem auserwählten Volke angehörig und darum besser, als Andere, kein Grieche, tief unter jenem geachtet; hier ist Keiner ein Freier, gewohnt über Andere zu herrschen, und Keiner ein Knecht und darum verachtet und geringgeschätzt als ein Werkzeug nur für den Willen Anderer; hier ist Keiner ein Mann, mit Willkür gebietend auch über die Gefährtin seines Lebens, noch ein Weib, der Willkür des Mannes unterworfen und deßhalb im Reich Gottes weniger, als jener; in Christus seid ihr Alle Eins (Gal. 3, 27. 23). Und daraus folgt die Freiheit: denn jetzt hat alles Herrschenkönnen und Herrschenwollen ein Ende; da ist Keiner, der durch Geburt, durch Geld, durch Talente sich die Herrschaft über die Anderen anmaßen wollte, sondern Einer will dem Andern dienen mit der Gabe, die er von Gott erhalten; welche die Höchsten sind, wollen die Niedrigsten sein, wie Christus, obwohl sie ihn Meister nannten, sich in dienstfertiger Liebe herabließ, seinen Jüngern die Füße zu waschen; da wird man immer mehr die schöne Erfahrung machen, daß das Glück des Einzelnen nur gedeiht, wenn alle Anderen glücklich sind. Und so entsteht ja ein schönes Reich der Brüderlichkeit: da betrachten sich Alle als lebendige Glieder eines Leibes, an dem Jesus Christus das Haupt ist, wo ein Glied am anderen hänget und eines dem anderen Handreichung thut nach dem Werk eines jeglichen Gliedes und machet, daß der Leib wüchset zu seiner Selbstbesserung und das Alles in der Liebe (Ephes. 4, 16). Die von Gott ausgerüstet worden sind mit einem heitern Muth und fröhlichen Sinn, die gehen hin als Tröster zu den gebeugten Seelen; die da begabt sind mit scharfem Blick und richtigem Geistesauge, die sollen die Gemeinde leiten, den Staat regieren, Künste und Wissenschaften fördern zum gemeinen Nutzen ihrer Mitbrüder; die da reichlich ausgestattet sind mit zeitlichen Gütern, die treten als Pfleger und barmherzige Brüder unter ihre bedrängten Mitmenschen; die da eine überlegene Kraft des besonnenen Gemüthes in sich tragen, treten in die Kreise der Entzweiten, um die Leidenschaften zu stillen und die Zwietracht in Frieden zu verwandeln; denen die Gabe der Lehre verliehen ist, die erwecken mit der Klarheit ihres Geistes das Licht der Erkenntniß und entzünden das Feuer des göttlichen Lebens in ihren Mitmenschen. Nur durch ein solches neidloses Zusammenwirken aller Kräfte kann der Leib der Menschheit gesunden und ein Ende sich finden der Leiden für die Menschheit.

Aber 2. die Leiden, die mit unserer endlichen Natur zusammenhängen und von uns als die Knechtschaft des vergänglichen Wesens empfunden werden, die Uebel, wie die Weltweisen sie nennen, das Kreuz, wie sie der Christ am liebsten nennt, ertragen wir nun leicht, da sie uns das Christenthum in einem neuen Lichte zeigt. Sie sind gottgeordnet; darum, wie der Fromme die Gesetze Gottes im Handeln ehrt, indem sie ihm eine innere Freudigkeit geworden sind und er mit kindlichem Geiste spricht: Abba, lieber Vater! so wird er seine Gesetze auch im Leiden ehren und auch da sprechen lernen: „Vater, nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ Wer nicht entsagen kann, wer seinen Eigenwillen nicht hingeben kann an die Gesetze des Ganzen, der ist nicht religiös; wer von der Religion die Befriedigung seiner sinnlichen, auf äußeres Glück gerichteten Wünsche erwartet, sei es hier oder in einem anderen Leben, wer das Sitzen auf Richterstühlen mit den Kindern Zebedäi in Kopf und Herzen trägt, der soll sich nach einem andern Erlöser umsehen als nach Jesus Christus. Aber die Entsagung wird dennoch belohnt; weil die Leiden von Gott geordnet sind, so müssen sie denen, die Gott lieben, auch zum Besten dienen. Während der äußere Mensch unterdrückt ist, gewinnt der innere an Stärke. Da wächst in uns der höher strebende Geists der in dem Treiben der vielgeschäftigen Welt, in den beschränkten Zielen nun und nimmermehr seine Befriedigung findet, da erhalten wir das zartere Herz, von dem alle Rinden der Eitelkeit und Selbstliebe abgenommen sind, abgenagt durch Kummer und Noch, so daß es nun offen steht für die Ansprache einer ganzen leidenden Welt; so bewährt der Geist in Kampf und Noth eben seine unüberwindliche Siegerkraft. „Sehet, welch ein Mensch!“ rief ja einst selbst ein Pilatus, erstaunt über die Größe des Menschensohnes im Leiden; sehet, welch ein Mensch! Diese Hoheit des Geistes in der tiefsten Niedrigkeit, diese Ruhe und Klarheit mitten unter dem Toben der entfesselten Leidenschaften, dieser Sieg des Unterliegenden über seine Sieger! So ist ja die scheinbare Niederlage zum Siege, die Klage zum Triumph geworden, und mitten in der Knechtschaft des vergänglichen Wesens offenbart sich an uns die herrliche Freiheit der Kinder Gottes.

So kommet über uns, ihr Leiden der Erde, fallet auf uns herein, ihr Uebel des Lebens! wir sind gewappnet; ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? Haben wir die ewigen Güter der Kindschaft Gottes, so sind wir erlöst von den Schrecken des irdischen Lebens; haben wir Theil am ewigen Leben, so hat der Tod den Stachel und die Hölle den Sieg verloren.

So, meine christlichen Freunde, hat unser Glaube die Welt überwunden und verklärt; der neue Himmel und die neue Erde, sie müssen nicht erst kommen, sie sind schon da für Alle, welche durch Christus erlöst sind; das Seufzen der Kreatur hat aufgehört; denn wer in Christo ist, der ist eine neue Kreatur. Der neue Himmel und die neue Erde sind da; denn wer sich in Christus freuen kann allewege, für den gibt es keinen Schmerz mehr und keine Thränen, welche eben ihren Ort haben unter dem alten Himmel und auf der alten Erde. Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch Jesus Christus; ihm sei Ehre in der Gemeine von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

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