Lamparter, Helmut - Zion - Der Berg des Heils

Lamparter, Helmut - Zion - Der Berg des Heils

Ihr seid nicht gekommen zu dem Berge, den man anrühren konnte und der mit Feuer brannte, noch zu dem Dunkel und Finsternis und Ungewitter noch zu dem Hall der Posaune und zur Stimme der Worte, da sich weigerten, die sie hörten, daß ihnen das Wort ja nicht gesagt würde, denn sie mochten’s nicht ertragen.
Sondern ihr seid gekommen zu dem Berge Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu der Menge vieler tausend Engel und zu der Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel angeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten und zu dem Mittler des neuen Testaments, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das da besser redet denn das Blut Abels. Sehet zu, daß ihr den nicht abweiset, der da redet.
Hebr. 12,18 ff.

Sie hieß Eva, war dreizehn Jahre alt und sollte im Frühjahr konfirmiert werden. Noch heute, nach Jahren, sehe ich sie vor mir, mit ihren hellblonden Zöpfen und den großen, blauen, ein wenig traurigen Augen. Sie war mir gleich aufgefallen, als ich zum erstenmal das Klassenzimmer betrat, Mädchenklasse VIII einer württembergischen Volksschule. Sie folgte mit einer besonderen Aufmerksamkeit dem Unterricht, und ihre Antworten lagen weit über dem Durchschnitt, was die innere Reife des Urteils anbelangte. Das mochte mit ihrem Schicksal zusammenhängen. Eva hatte einen verkürzten Fuß und hinkte, vermutlich die Folge einer spinalen Kinderlähmung. Sie trug ein frühes Leid. Nun geschah’s, daß wir im Religionsunterricht das Lied auswendig lernten: Jerusalem, du hochgebaute Stadt, wollt’ Gott, ich wär’ in dir – eine der strahlenden Perlen des evangelischen Kirchenlieds, großartig und wundervoll im Text wie in der Melodie. Wir waren eben beim zweitletzten Vers angelangt: Wenn dann zuletzt ich angelanget bin im schönen Paradeis, von höchster Freud erfüllet wird der Sinn, der Mund von Lob und Preis – da kam ein vom Geist des Dritten Reichs durchtränkter Erlaß des damaligen Kult(us)ministeriums, demzufolge dieses Lied wegen seiner „artfremden Anfangszeile“ nicht mehr in den Schulen erlernt und gesungen werden durfte, vielleicht auch darum, weil darin gar so deutlich von „der Tyrannen Pein“ die Rede ist. Ich war gezwungen, den Kindern in der nächsten Stunde von diesem Verbot Mitteilung zu machen. Natürlich haben sich die meisten nicht viel daraus gemacht, aber als ich sage: Kinder, das Lied dürfen wir künftig nicht mehr singen, da schaut mich Eva mit erschrockenen Augen an, die sich mit Tränen füllen. Niemand hat es bemerkt. Aber als ich sie nach Schluß der Stunde zurückbehalte, gesteht sie voll Schmerz und Zorn: Das ist doch mein Lieblingslied. Das kann ich mir doch nicht nehmen lassen!

Du hast recht, liebe kleine Eva, das darf man sich nicht nehmen lassen, damals nicht und heute nicht. Sonst verliert unser menschliches Dasein jeden Sinn und jede Würde, es verliert sein Ziel. Oder ist es vielleicht ein Ziel, für das sich zu leben lohnt: Sechs Bretter, die der Schreiner XY zusammennagelt, ein dunkles Loch in der Erde, ein paar Tränen, wenn’s hochkommt, und ein paar Kränze, die das Grauen der Verwesung barmherzig verhüllen sollen? Man kann nur mitleidig den Kopf schütteln, wenn sich Menschen, lebendige Menschen mit dieser Zielsetzung zufriedengeben. Gott sei Dank, wir sind nicht dazu verdammt, daß wir diesen seichten, trostlosen Nihilismus teilen. Noch klingt’s uns in den Ohren: O Ehrenburg, sei nun gegrüßet mir, tu auf der Gnaden Pfort! Man muß sich wundern, woher der Dichter den Mut, die Kühnheit nimmt, hoch über dem Leichen- und Gräberfeld dieser Erde ein solches Lied anzustimmen. Sein Lied ist eine einzige Auslegung zu unserm Text, zusammengeschaut mit jener andren, unsagbar herrlichen Vision des himmlischen Jerusalem, die uns der Seher Johannes auf den letzten Blättern der Bibel schildert (Off. Joh. 21). „Ihr seid gekommen zu dem Berge Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem“ Nicht jener „Zion“ ist gemeint, auf dem die alte Davidsburg stand, der Tempel Salomos, den Nebukadnezar stürmte, und hernach der Tempel des Herodes, den der römische Feldherr Titus schleifte. Es ist der Berg, da die Wohnungen des Höchsten sind. Wollen wir diesen Berg zu Gesicht bekommen, so gilt es noch einmal und erst recht die Augen aufzuheben über alles, was auf Erden ist. Gewiß ist es kein Zufall, daß dieser Berg gerade diesen Namen trägt. Die Verbindung mit dem Schauplatz der geschichtlichen Offenbarung Gottes bleibt gewahrt. Der Name „Zion“ besagt, daß auf diesem Berge nicht irgendein Gott seinen Wohnsitz aufgeschlagen hat, sondern derselbe Gott, der durch das Gesetz und die Propheten Israels geredet hat. „Aus Zion bricht an der schöne Glanz Gottes“ (Ps. 50,2) – nicht aus Athen und Rom, nicht aus Mekka oder Moskau oder sonstwoher. Wir sind nicht gefragt, ob wir es lieber anders haben wollten. Es ist Gottes freie Wahl, daß Er seine Offenbarung mit diesem Berg, mit diesem Land und Volk verknüpft hat. Aber nun bleibt diese Offenbarung Gottes nicht stehen bei dem, was den Vätern gegeben war. Zu dem Alten tritt der Neue Bund, der ihn um so viel überragt an Herrlichkeit, als der Himmel höher denn die Erde ist. Und es zeigt sich, daß dieser Zion, auf dem ein David seinen Palast erbaut hat, nicht mehr als ein irdisches Abbild jenes andern himmlischen Zion war, auf dem der lebendige Gotte selbst seinen Wohnsitz hat und seine Stadt erbaut. Er wird an unsrer Stelle dem Berg Sinai entgegengestellt in scharfer Antithese, mit mächtigem Kontrast. Ihr seid nicht gekommen zu diesem Berg des Gesetzes, auf dem die Majestät Gottes so drohend und furchterregend in Erscheinung trat, sondern ihr seid gekommen zu dem Berg des Evangeliums, den man nicht fliehen muß mit Furcht und Zittern, dem man sich vielmehr nahen darf mit aller Zuversicht und Freudigkeit. Wir nennen diesen Berg Zion darum den Berg des Heils. Es ist der Berg, auf dem sich unsre Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott vollendet und der Glaube zum Schauen wird.

Wenn Gott auf diesem Berg seine “Stadt“ erbaut hat, so heißt das: Er will nicht einsam bleiben, sondern in ihren Mauern sein Volk um sich versammeln. Wir, die wir hier auf Erden keine bleibende Statt haben, sondern wie ein Schatten fliehen, sollen ein Bürgerrecht, eine ewige, unverlierbare Wohnstatt in dieser Stadt empfangen. Wenn das nicht Freude ist! Wir denken daran, in welch herrlichen Farben uns das letzte Buch der Bibel dieses “himmlische Jerusalem“ vor Augen malt:

Errichtet aus dem Holz des Lebens,
so steigt sie aus der Wolken Meer,
die Stadt, geschmückt gleich einer Braut,
aus Jaspis und Saphir erbaut.

Zwölf Tore schmücken ihre Mauern, aus Perlen erbaut, zwölf Grundsteine bilden ihr Fundament, mit den Namen der Apostel beschriftet, zwölf Engel halten die Wacht auf ihren Toren. Ihre Gassen sind aus lauterem Gold, klar und rein wie durchsichtiges Glas. Sie bedarf keiner Sonne und keines Mondes, denn Gott selbst ist ihre Leuchte und das Lamm. Sie bedarf keines Tempels mehr, denn sie ist erfüllt von Gottes Gnadengegenwart. Gott selbst hat in dieser Stadt seine Hütte aufgeschlagen bei den Menschen. Sie werden sein Volk sein, und Er wird ihr Gott sein. Man hört kein Leid und kein Geschrei auf ihren Gassen. Keine Sünde, keine Angst, kein Unfriede, kein Tod wird mehr darin gefunden. Statt dessen ist sie erfüllt vom brausenden Jubel und Lobgesang der himmlischen Heerscharen. Die “Menge vieler tausend Engel“ ist in ihr versammelt um den Thron Gottes her, all die starken Helden, die seinen Ruhm erzählen und seine Befehle ausrichten (Ps. 103,20). Man sollte meinen, daß in den Mauern dieser Stadt kein Mensch etwas zu suchen hat. Aber siehe, da ist “die Gemeinde der Erstgeborenen“, deren Namen im Himmel eingetragen sind. Da sind “die Geister der vollendeten Gerechten“. Das heißt doch: Diese Stadt ist bewohnt, heute schon, von einer erlösten, triumphierenden Gemeinde. Man wird diesen Aussagen besondre Beachtung schenken müssen. Sie widerlegen die Meinung, als gäbe es vor dem Jüngsten Tag, an dem die Toten auferstehen, kein Heil und keine Seligkeit. Es gibt, dieser Stelle zufolge, schon jetzt eine triumphierende Schar in der himmlischen Welt. Unser Brief nennt sie die „Erstgeborenen“, weil sie als „Erstlinge“ der Kreaturen (Jak. 1,18) einer Vorvollendung teilhaft wurden. Sie sind einer „ersten Auferstehung“ gewürdigt worden (Phil. 3,10) und bilden so etwas wie eine Avantgarde der Erlösten. Wir können der Frage in diesem Zusammenhang nicht nachgehen, wie sich das mit andren Aussagen des Neuen Testaments zusammenreimt. Es genügt uns, solches an dieser Stelle zu wissen und zu hören – Gott wird es schon zusammenreimen.

So wunderbar und herrlich uns dieser Berg Zion und diese Stadt des lebendigen Gottes geschildert wird, so können wir das alles nicht hören, ohne uns sofort zu fragen: Gibt es denn wirklich einen Zugang auf diesen Berg, einen Eingang in diese Stadt für Leute wie dich und mich? Wer wird auf des Herrn Berg gehen, und wer wird stehen an seiner heiligen Stätte? so fragt der 24. Psalm, und wir erhalten die Antwort: „Wer unschuldige Hände hat und reines Herzens ist!“ Muß uns da nicht jeder Mut entfallen, zumal wenn wir hören, daß auf diesem Berg Gott, der “Richter über alle“, seinen Wohnsitz aufgeschlagen hat? Unschuldige Hände, ein reines Herz – da ist wohl keiner, der sich dessen rühmen möchte. Aus unsrem Herzen kommen arge Gedanken, und jeder hat zu solchen Gedanken schon die schlimme, vor Gott verklagende Tat gefügt. Was hilft uns also der Anblick dieses Berges, dieser Gold- und Perlenstadt? Gleichen wir nicht den Unseligen, die eine Fata Morgana in der Wüste narrt – ein Ziel, das ihnen greifbar nahe dünkt und das sie doch niemals erreichen werden? Ja, wenn man so einfach ablegen und abstreifen könnte, was uns vor Gott befleckt, wie der Heide seine Schuhe abstreift, eh er den Tempel der Götter betritt! Aber das kann man nicht, es sitzt viel zu tief. Trotzdem müssen wir unsre Hoffnung nicht verlorengeben. Wohl ist es wahr, daß in diese Stadt kein Zutritt für Sünder ist. Aber da ist der “Mittler des Neuen Bundes, Jesus, dessen Blut besser redet denn das Blut Abels“. Wir wissen, an welche Geschichte der Bibel hier im Vorbeigehen erinnert wird: Es ist die furchtbare Geschichte von Kains Brudermord. Da liegt sein Bruder Abel von Kains Keule getroffen mit zerschmetterter Stirn am Boden und sein Blut schreit zum Himmel! Es ruft die Rache Gottes auf den Mörder herab. Dieses Blut redet eine drohende Sprache. Anders das Blut Jesu, das an dem Kreuz auf Golgatha vergossen wurde. Es redet auch, ja es schreit noch gewaltiger zum Himmel als all das viele schuldlos vergossene Blut, das die Erde schon getrunken hat. Aber es ruft nicht die Rache Gottes über die Schuldigen herab, weil es das Blut dessen ist, der sich mit unsrer Schuld belud und sie sterbend sühnte. Es redet „besser“, es schreit: Barmherzigkeit! Vergib ihnen, Vater, und wenn du strafen mußt, so strafe mich, und laß mein unschuldiges Leiden und Sterben die Sühne sein! Das ist die stumme und doch so beredte Bitte, welche dieses Blut Jesu Christi vor den Vater bringt. Wohl uns, daß dieses Blut Jesu Christi für uns alle redet! Nun dürfen wir „unsre Kleider waschen und helle machen im Blut des Lammes“ (Off. 7,14). Das geschieht, indem wir dem Gekreuzigten unsre Sünden bringen. Er nimmt sie uns ab und gibt uns statt dessen das fleckenlose Kleid seiner Gerechtigkeit. In diesem neuen Kleid dürfen wir vor Gott erscheinen. So geschieht’s, daß Er uns Einlaß in seine Stadt gewährt. Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, damit will ich vor Gott bestehen – und anders kann und wird kein sündiger Mensch je vor Ihm bestehen.

So dürfen wir also auch zu diesem letzten und herrlichsten Berg der Bibel unsre Augen aufheben voll Zuversicht und Freudigkeit. Gott läßt uns freundlich zu sich laden, und wir würden uns seines Erbarmens unwert erweisen, wollten wir keinen persönlichen Gebrauch von dieser Einladung machen. Sehet zu, daß ihr den nicht abweiset, der da redet! Mit dieser eindringlichen Warnung, schließt unser Text. Sie ist nicht überflüssig, denn zu den großen Torheiten, zu denen der Mensch fähig ist, gehört auch diese, um diesen Berg Zion einen weiten Bogen zu schlagen, ihm – bewußt oder unbewußt – den Rücken zu kehren und die eignen selbstgewählten Lebensziele für wichtiger und höher zu achten. Das kann freilich nicht gut ausgehen. Dadurch wird das Heil verscherzt, weil die Verachtung der Gnade viel mehr als alle Sünden, die ein Mensch begehen kann, Gottes Zorn erregt. Wer ihm entgehen will, der lenke seine Schritte zu diesem Berg, er nahe sich zu ihm im Glauben und schlage – ein begnadigter, gerechtfertigter Sünder – an seinem Fuß sein Zelt, seine Hütte auf! Wir sind dazu ermächtigt, und wenn wir’s tun, wird es uns nicht gereuen. Hier ist der Ort des Heils inmitten einer heillosen Welt. So oft wir aufblicken zu den Höhen dieses Berges, wird’s uns zur seligen Gewißheit:

1. Wir haben nicht einen drohenden, sondern einen gnädigen Gott

Er schreckt uns nicht mit dem drohenden Anblick seiner Majestät. Das ist durchaus nicht so selbstverständlich, wie wir Menschen von heute vielfach meinen, denen das Wort „Gnade“ zu einer abgegriffenen, salz- und kraftlosen Vokabel wurde. Es genügt, an den Berg Sinai zu erinnern, um sich klar zu machen, wie wenig sich die gnädige Herablassung Gottes von selbst versteht. Dort ist Gott seinem Volk mit drohender Gewalt begegnet. Er hat seine Forderungen gestellt, sein Gesetz aufgerichtet. Martin Luther hat dieses Gesetz einmal „die Donneraxt“ genannt, „damit er beide, die offenbarlichen Sünder und die falschen Heiligen, in einen Haufen schlägt und läßt keinen recht haben, treibt sie allesamt in das Schrecken und Verzagen“. Wer die Gebote ernst nimmt und sein Handeln daran mißt, wird zugeben, daß uns unter dieser Donneraxt nichts als verzweifeln übrigbliebe. Nun aber ist uns dieser drohende, fordernde Gott um Christi willen ein gnädiger Gott und Vater geworden. Wir dürfen „herzutreten mit Freudigkeit zu dem Gnadenstuhl, auf daß wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden auf die Zeit, da uns Hilfe not sein wird“ (Hebr. 5,16). Wir dürfen im Namen Jesu zu ihm beten, mit ihm sprechen, wie ein Kind mit seinem Vater spricht. Wir dürfen unsre Fragen und Zweifel, alle unsre Anliegen in seinen Schoß schütten und unsre Sorgenberge in das Meer seines Erbarmens werfen. Wir dürfen – ach wir könnten lange fortfahren, um das „auszustreichen“, was uns am Fuße dieses „Zion“ erlaubt, aus lauter überschwenglicher Barmherzigkeit Gottes verstattet ist. Warum nur machen wir so wenig Gebrauch davon? Warum so stumm und so scheu, so trotzig und so verschlossen? Es wird schon seine Gründe haben, und man kann sie kecklich beim Namen nennen: Entweder wir haben einen fernen Gott, der in irgendeiner unerreichbaren Ferne hoch über allen Sternen seinen Wohnsitz hat und keine menschliche Einmischung in seine Pläne duldet. Es ist klar: Zu diesem Gott betet man nicht. Es kommt ja doch alles, wie es kommen muß. Da bleibt nur jene fatalistische Ergebung, die immer wieder mit der Demut und dem Gehorsam des Christen verwechselt wird. Oder wir sind noch befangen in einer knechtischen, gesetzlichen Frömmigkeit. Wir leben, als wären wir nicht auf Christus, sondern auf Mose getauft, schlecht und recht bemüht, die Gebote zu halten und weil wir sie immer nur prozentual erfüllen, niemals der Gnade Gottes wirklich gewiß und froh. Hier ist das eine so verkehrt wie das andre. In jedem Fall verleugnen wir unsren Gnadenstand, unser Kindesrecht. Wir fassen es nicht, und wenn wir es schon einmal erfaßt haben, so halten wir es nicht fest, daß uns Gott aus freier Gnade zu sich ruft und aus lauter Gnade selig macht. Und doch bleibt's dabei: Ihr seid nicht gekommen zu dem Berg, der mit Feuer brannte, zu diesem finstren, drohenden Berg des Gesetzes, sondern ihr seid gekommen zu dem Berge Zion, zu dem leuchtenden, lockenden Berg des Evangeliums. Nicht die kühle Distanz zu einem fernen Gott, noch die zitternde Furcht vor einem drohenden Gott, sondern der freie Zugang zu einem gnädigen Gott, der persönliche, vertraute, vertraute Umgang mit ihm in Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung – das ist die rechte Art und Weise, wie ein Christ im Licht des Evangeliums seines Glaubens lebt. Schüttet euer Herz vor Ihm aus! Gott ist unsre Zuversicht.

2. Wir haben Gemeinschaft mit allen Heiligen im Himmel und auf Erden

Bewohnt ist dieser Berg Zion, so haben wir gehört, bewohnt ist die Stadt des lebendigen Gottes, das himmlische Jerusalem, bewohnt von der Menge vieler tausend Engel und von der Gemeinde der Erstgeborenen, von den Geistern der vollendeten Gerechten. Was für ein Volk, was für eine edle Schar! Wahrscheinlich rechnen wir viel zu wenig damit, daß unser Bekenntnis: Ich glaube an den Heiligen Geist, eine heilige christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen … diese himmlische Gemeinde mitumfaßt. Und doch liegt gerade darin ein gewaltiger Trost. Neben der kämpfenden Kirche steht die triumphierende Kirche, und beide sind eins, verbunden in dem, der über beide der Herr und das Haupt ist, Christus. Das heißt doch, daß die Gemeinde Jesu viel größer ist, als unsre Augen sehen und wir auf Erden wahrnehmen. Was wir davon sehen, ist nur das Häuflein der Glaubenden, ein kleiner, vielleicht manchmal recht armseliger Ausschnitt. In Wirklichkeit aber hat Christus schon heute ein mächtiges Volk, unzählbar wie die Sterne am Himmel, wie der Sand am Meer. Wollte man ein Bild dieser Kirche Jesu Christi zeichnen, so müßte man zum Vergleich mit einer auf den Kopf gestellten Pyramide greifen. Was wir auf Erden von dieser Kirche wahrnehmen, ist nicht viel mehr als ihre schmale Spitze. Heben wir unsre Augen zum Himmel auf, so entdecken wir, daß die Basis dieser Pyramide jedenfalls wesentlich breiter ist! Das Fähnlein Christi auf Erden ist nur ein Teil, weitaus der kleinste Teil einer großen Armee, die aus den Engeln und aus der unzählbaren Menge der Überwinder gebildet ist. Wir sollen's uns darum nicht anfechten lassen, wenn wir auf dieser Welt ein kleines Häuflein bilden. Es soll uns nicht bekümmern, wenn wir in unsrer Umgebung – was durchaus möglich ist – mit unsrem glauben ganz allein stehen. Keiner ist allein, der den Kampf des Glaubens wagt! Alle sind wir eingegliedert in diese große, Himmel und Erde umspannende Gemeinschaft der Heiligen. Und das nicht nur auf dem Papier, dem Namen nach! Zwischen der irdischen und himmlischen Gemeinde besteht ein lebendiger Austausch der Gaben und Kräfte, der Bitte und Fürbitte. Es gibt – nach einem schönen Wort von Zinzendorf – eine „Gemeinschaft mit der oberen Schar“. Das ist gut evangelisch gedacht, auch wenn wir es ablehnen, irgendwelche Heiligen anzurufen. Daß unser an das Irdische gefesselter Blick diese himmlische Gemeinde nicht (noch nicht!) zu Gesicht bekommt, besagt keineswegs, daß diese Geister der vollendeten Gerechten an dem, was in der Gemeinde Jesu auf Erden geschieht, nicht lebendigen Anteil nehmen würden. Von ihrer Warte aus ist der Vorhang, der unsrem Auge verhüllt, was im Himmel ist, völlig durchsichtig. Wie könnte Jesus sonst sagen, daß Freude sei vor den Engeln Gottes über jeden Sünder, der Buße tut? Wie könnte der Verfasser des Hebräerbriefes sonst von der „Wolke von Zeugen“ sprechen, die unsren Glaubenskampf mit angespannter Aufmerksamkeit begleiten (Hebr. 12,1)? Aus diesen und ähnlichen Stellen geht doch hervor, daß zwischen der himmlischen und irdischen Gemeinde eine innige Verbindung, ein lebendiger Kontakt besteht. Jeder, der ein Glied am Leib des Christus ist, darf sich von dieser Gemeinschaft umfangen und getragen wissen.

Bin ich in diesem fremden Land
der blinden Welt schon unbekannt,
dort sind die Freunde, die mich kennen.
Dort werd ich mit der Himmelsschar
Dir jauchzend dienen immerdar
und in der reinsten Liebe brennen.

Wohl dem, der hier unter dieser „edlen Schar“ seine Freunde hat! Er wird auch in der bittersten Einsamkeit wunderbar getröstet sein.

3. Wir haben ein Bürgerrecht im Himmel

Wenn wir auf den Weg zurückblicken, den wir durchwandert haben, so entdecken wir, daß es mit diesem letzten Berg der Bibel, dem Berg „Zion“ eine besondre Bewandtnis hat. Sie sind alle herrlich und voller Verheißung, diese Berge, von welchen uns die Hilfe Gottes kommt. Aber an diesem „Zion“ sollen wir nicht nur das Glauben lernen. Es ist der Berg, auf dem unser Glaube ins Schauen verwandelt wird. All die andern Berge sind ein Teil dieser irdischen Welt – mächtige Zeugen dafür, daß der lebendige Gott wirklich zu den Menschen dieser Erde geredet, auf dem Boden der irdischen Geschichte gehandelt hat. Sie werden vergehen, wenn Himmel und Erde vergeht. Anders der „Zion“ - er bleibt. Er ist der strahlende Mittelpunkt jener neuen, zukünftigen Welt, die unser Gott schaffen wird, wenn das Erste vergangen ist. Dieser Zion liegt nicht hinter uns, er säumt nicht nur unsre Straße, er liegt vor uns als ein leuchtendes Ziel. Er ist unsre Zukunft, wenn anders wir kleinen, sterblichen Menschenzwerge überhaupt eine Zukunft haben. Wollen wir seines Anblicks wirklich froh werden, müssen wir die Gewißheit haben, daß es uns vergönnt ist, auf diesem Berg wirklich Fuß zu fassen und uns in den Mauern der Stadt, die ihn schmück, wirklich anzusiedeln. Wie steht es damit? Haben wir dieses Wohnrecht auf Gottes Berg, dieses Heimatrecht in Gottes Stadt, dieses Bürgerrecht in Gottes Reich? Es ist klar, daß wir diese Frage nicht nach eignem Ermessen und Gutdünken entscheiden können. Mit Ahnungen und Vermutungen, mit irgendeiner Wahrscheinlichkeitsrechnung ist uns hier nicht gedient. Es geht um eine Rechtsfrage, und wer jemals in einen Rechtsstreit verwickelt war, der weiß, daß hier mit Beteuerungen nichts gewonnen ist. Will man sein Recht wahrnehmen, so muß man es vorweisen können. Man muß darauf “Brief und Siegel“ haben! Wohl lesen wir im Brief des Paulus an die Philipper: „Unser Bürgerrecht ist im Himmel“ (3,20). Wir hören in den Abschiedsreden Jesu an seine Jünger, daß er hingehe, ihnen die Stätte zu bereiten (Joh. 14,2). Wer aber bürgt uns dafür, daß unser persönliches Leben von diesen und ähnlichen Verheißungen umklammert ist?

So ernst diese Frage ist, so wenig sollen wir uns damit das Herz zerquälen. Denn Gott hat uns in seiner großen Barmherzigkeit wirklich „Brief und Siegel“ ausgestellt und eben damit verbürgt, urkundlich bezeugt, daß wir dies Bürgerrecht besitzen sollen: Wir sind getauft auf Seinen Namen, den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes! So unscheinbar dies Zeichen ist – von wenigen geglaubt, von vielen verkannt, von den meisten verachtet – hier gilt: Glaubst du, so hast du! Halte dich getrost an dieses Zeichen der Gnade, Barmherzigkeit und Treue Gottes in deinem Leben und schöpfe daraus die Gewißheit, daß Er dich bei deinem Namen gerufen und diesen deinen Namen in das „Buch des Lebens“ geschrieben hat. Wenn das nicht Freude ist! Ich denke daran, wie ich vor etlichen Jahren aus Krieg und Gefangenschaft heimkehrend über die Schwäbische Alb gewandert bin. Immer wieder befühlte ich den Entlassungsschein in der Rocktasche, um mich zu vergewissern: Es ist kein Traum, mit jedem Schritt geht’s näher der Heimat zu. Der Fuß schmerzte, und ich humpelte ordentlich an meinem Knotenstock. Dennoch sang ich mir selbst auf diesem Weg ein Lied ums andre vor. Es war die schönste Wanderung meines Lebens, und wer ähnliches erlebt hat, wird dieses Urteil gewiß bestätigen. Wieviel mehr dürfen wir uns über dieses “Bürgerrecht im Himmel“ freuen, das uns in unsrer Taufe verbrieft und versiegelt ist? Wie sollten wir nicht ein Lied ums andre anstimmen auf diesem Weg, der uns an den heiligen Bergen der Bibel entlang und dem letzten, herrlich leuchtenden „Zion“ schnurstracks entgegenführt? Freue dich! Es geht mit jedem Schritt näher der Heimat zu.

Die Hütte Gottes ist bereit,
die Stadt des Heils in Ewigkeit!

Ps. 121

Ich heb mein Augen sehnlich auf
und seh die Berge hoch hinauf,
wann mir mein Gott vom Himmelsthron
mit seiner Hilf zustatten komm.

Mein Hilfe kommt mir von dem Herrn,
er hilft uns ja von Herzen gern;
Himmel und Erd hat er gemacht,
hält über uns die Hut und Wacht.

Er führet dich auf rechter Bahn,
wird deinen Fuß nicht gleiten lan;
setz nur auf Gott dein Zuversicht:
der dich behütet, schläfet nicht.

Der treue Hüter Israel'
bewahret dir dein Leib und Seel;
er schläft nicht, weder Tag noch Nacht,
wird auch nicht müde von der Wacht.

Vor allem Unfall gnädiglich
der fromme Gott behütet dich;
unter dem Schatten seiner Gnad
bist du gesichert früh und spat.

Der Sonnen Hitz, des Mondes Schein
sollen dir nicht beschwerlich sein.
Gott wendet alle Trübsal schwer
zu deinem Nutz und seiner Ehr.

Kein Übel muß begegnen dir,
des Herren Schutz ist gut dafür;
in Gnad bewahrt er deine Seel
vor allem Leid und Ungefäll.

Der Herr dein' Ausgang stets bewahr,
zu Weg und Steg gesund dich spar,
bring dich nach Haus in seim Geleit
von nun an bis in Ewigkeit.

Cornelius Becker (1561 – 1604)

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