Krummacher, Gottfried Daniel - Was ist evangelisch? (3)

Krummacher, Gottfried Daniel - Was ist evangelisch? (3)

Wandelt würdiglich dem Evangelium Christi und kämpfet für den Glauben des Evangelii.
Phil. 1,27

Auch diesmal ist unsere Betrachtung der Beantwortung der Frage gewidmet: Was ist evangelisch? und wir betrachten dies jetzt insbesondere in Beziehung auf Vorträge, Anweisungen und Personen.

Religionsvorträge können wegen ihres Inhaltes gesetzlich oder evangelisch genannt werden. Als gesetzlich kann man einen Religionsvortrag noch darum nicht bezeichnen, weil er vorzüglich oder auch ausschließlich von Pflichten handelt und Anforderungen macht, diese Anforderungen mögen nun an Unbekehrte oder an Gläubige gerichtet sein. Handelt nicht unser gewiß evangelischer Katechismus nach Anweisung der 10 Gebote in eben so viel Sonntagen ausschließlich von Pflichten? Wer dürfte das unevangelisch nennen? Man lese den Brief Jakobus, der Name Jesus kommt nur zweimal in den fünf Kapiteln desselben vor, wogegen Paulus ihn in einem einzigen Kapitel, nämlich 1. Korinther 1, wohl 15 mal nennt. Sollten wir uns wohl unterstehen dürfen jene Epistel wegen ihrer rauhen Schale eine unevangelische, will geschweigen eine stroherne zu nennen, wie ein, übrigens sehr evangelischer Christ einst in Übereilung tat? Das sei ferne! Im ganzen kommt es auf den Standpunkt des Hörers oder Lesers an, inwiefern ihm ein Vortrag gesetzlich oder evangelisch erscheint. Merkwürdig in dieser Beziehung ist, was Jesaias 28 gesagt wird: Weil sie das nicht wollen, was ihnen jetzt gepredigt wird: So hat man Ruhe, so wird man stille, so erquickt man die Müden, sondern Gebot auf Gebot, Regel auf Regel, hie ein wenig, da ein wenig, darum soll ihnen auch des Herrn Wort eben so werden, Gebot, usw. Je nachdem eine Seele steht, können ihr die süßesten Verheißungen schreckhaft, die schwersten Gebote lieblich werden. Man nenne also lieber seinen Stand unevangelisch als einen Vortrag, der von Pflichten handelt und Forderungen macht, sonst werden wir ganze Stücke in der heiligen Schrift tadeln, denn wovon handeln z.B. die vier letzten Kapitel des, wenn man so will, vorzugsweise evangelischen Römerbriefs als von Pflichten? Und wer wird den Apostel beschuldigen können, er höre in diesen Kapiteln auf, Christum zu predigen, das heißt evangelisch zu sein? Der würde nichts beweisen als seinen eigenen Unverstand, und wenn er diese Schlußkapitel nicht ebenso gern und fröhlich liest als die Vorhergehende, seine Verkehrtheit. Das ist bei dieser Art von Vorträgen, welche Sünden rügen und Tugend empfehlen, doch so, daß sie in dem evangelischen Geleise bleiben, gar nicht zu fordern, es stets ausdrücklich anzusprechen, daß dies die eigentliche Bahn zur Rechtfertigung und Seligkeit nicht sei, und es nur durch Christum und den Glauben an ihn möglich werde; daß wir in uns zu keinerlei Guten tauglich und unvermögend seien ohne ihn etwas zu tun. Es wäre unartig, auf jede Anforderung zu erwidern? Ja wer kann das? und nachteilig zugleich. Es kann nützlich sein, den Schatz im Acker zu verbergen und es dem heiligen Geiste zu überlassen, den Fleck zu weisen, wo er liegt. Es gibt Narren, die da meinen, sie könnten vieles, großes, alles; mögen sie ihre Kräfte versuchen, und das Wort wirke, wozu es gesandt wird. Kommt's doch nicht leer zurück. Die Heilige Schrift verfährt nicht so systematisch wie wir und meistens nach einem viel andern System. Sie verfährt mit wunderbarer Weisheit, so daß die Gerechten in ihren Wegen wandeln, die Übertreter darin fallen. Es gibt laue und träge Zustimmer. Laß sie sich einmal angreifen! Es gibt Prahler. Laß ihnen Moses einmal auf den Hals kommen, so wollen wir hören ob sie ihre Hallelujas auch gegen seinen Donner an fortsetzen können. Es gibt Leichtsinnige, laß sie ihren Grund einmal untersuchen! Wir rühmen uns der Gerechtigkeit Christi. Laß sehen, wie fest wir in der Gnade stehen, wenn uns die Forderungen auf den Hals kommen, und wir also die Probe auf das Ergebnis machen sollen.

Ganz verkehrt würde es auch sein, ein Vorhalten als gesetzlich zu verschreien, was sich sehr genau an die Vorschrift bindet und sie pünktlich zu befolgen strebt, ohne sich daraus ein Verdienst oder eigene Gerechtigkeit aufzurichten, ohne sich zum Richter anderer aufzuwerfen, ohne sich besser zu dünken, wie sie und sie zu verachten. Vielmehr, je genauer, gottseliger jemand wandelt, desto mehr Kennzeichen der Begnadigung stellen sich an ihm sowohl andern als sich selbst dar. Je weniger er dies tut, je öfter und gröbere Fehler bei ihm vorkommen, desto weniger kann er sich selbst für einen wahren Christen halten, oder von andern für einen guten Baum gehalten werden, denn an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Es gibt hohe, auch schriftmäßige Worte, wo doch noch nichts hinter ist, und der Apostel wollte bei den Korinthern nicht die, sondern die Kraft der Gottseligkeit erfahren. Es gibt orthodoxe Leute, welche über die geringste Abweichung von ihrem System und von ihrer Art sich auszudrücken, sich nicht wenig ereifern, während man nicht gewahr werden kann, daß sie in der Ausübung der Gottseligkeit den nämlichen Eifer beweisen und sich jede Abweichung von ihrer Bahn eben so hoch anrechnen. Wer heilig ist, sei es in allen Stücken, denn es gibt auch solche, die nicht genug Gewicht auf die Lehre legen, da doch Wahrheit und Gottseligkeit unzertrennlich verknüpft sind, Irrtum der Gottseligkeit schadet, und nur die Wahrheit frei macht. Wer kann aber merken, wie oft er fehlt!

Gesetzlich und nicht evangelisch ist es aber, wenn außerwesentliche Dinge als notwendig festgestellt würden. Das würde zum Beispiel geschehen, wenn man vorläufig ein gewisses Maß von Trauer und Trostlosigkeit festsetzen wollte, ehe ein Mensch Hoffnung zu der Gnade Jesu Christi fassen dürfte.

Gewiß muß Trauer, muß Leidwesen über seine Sünde, muß Verlegenheit über seinen Seelenzustand in dem Menschen entstehen, der zum Heil gelangen soll. Diese schmerzhaften und demütigenden Empfindungen müssen auch so tief gehen, diese Bekümmernis muß so groß sein, daß man sich ihrer selbst nicht entledigen und entschlagen, daß man sich ihrer nicht durch eine selbst ergriffene Vorstellung von dem Verdienst Christi und der Gnade Gottes, durch oberflächliche und leichte Tröstung von andern und noch weniger durch weltliche Zerstreuungen oder durch eine leichte Besserung des Lebenswandels, durch einen fleißigeren Kirchengang oder Besuch frommer Zusammenkünfte und dergleichen überheben kann. Kann jemand dies, kann er sich auf diesem Wege beruhigen, so ist seine Trauer nicht groß genug und somit unecht. Nein, diese Trauer muß so groß sein, daß die genannten Dinge sie nicht wegnehmen können, so herzdurchdringend, daß nur der Tröster, der Heilige Geist sie entfernen kann, welches er dadurch tut, daß er der Seele etwas davon zu sehen und zu schmecken gibt, wie freundlich der Herr sei.

Insofern ist alles in der Ordnung. Gesetzlich aber käme es heraus, wenn man feststellte, so lange jemand nicht einen Strom von Tränen vergossen, so lange er sich noch nicht als in der Hölle liegend betrachtet hätte, so lange ihm nicht der Schlaf samt Essen und Trinken vergangen, und ihm oft der Schweiß vor Angst ausgebrochen wäre, und er nicht anders gedacht, als sei er ohne Rat und Rettung für ewig verloren, so lange sei es auch nicht rechter Art bei ihm, so lange dürfe er nicht hoffen, Gnade zu finden.

Allerdings ereignet es sich bei manchen Seelen so. Oft bleiben sie lange in diesem Zustande und ringen gleichsam auf eine schreckliche Weise mit der Verzweiflung, mit Luther singend: Die Angst mich zum Verzweifeln trieb,
daß nichts als Sterben bei mir blieb,
zur Hölle mußt ich sinken.

Aber das gibt doch gar keine Regel für andere ab. Solche heftigen Erschütterungen und Erdbeben beweisen vielleicht das Dasein sehr starker Sünden, als da sind eine ausnehmende Halsstarrigkeit, Herzenshärtigkeit und Unlauterkeit, die nicht alles in den Tod geben will, einen starren unbiegsamen Eigenwillen, heimliche Laster und Sünden; oder doch besondere Wege, welche Gott einzelne, doch nicht alle Seelen zu führen vorzieht. Christus selbst sagt ja, daß einige schwerer, andere leichter ins Reich Gottes eingehen, und Juda will, daß wir den Unterschied halten sollen, daß wir uns etlicher erbarmen, andere aber durch Furcht selig machen.

Das Wesen der Buße besteht im Abweichen vom Bösen und Übergehen zum Guten, und das erste in einer wahren Trauer über und in einem ernstlichen Haß wider die Sünde, das andere aber in einer Lust am Gesetz Gottes und Fleiß, nach dessen Geboten zu leben, jedoch so, daß beides je mehr und mehr erstarkt und zunimmt, bis endlich ein vollkommener Mensch daraus wird nach dem Maß des vollkommenen Alters Christi.

Gewiß wird aber niemand zu fest und zu bald gläubig an den Herrn Jesum, ja, es wäre sehr weise mit dem fröhlichsten und zuversichtlichsten Vertrauen zu ihm allsofort den Anfang zu machen, wiewohl mir kein Exempel der Art bekannt ist. Es heißt: Glaube an den Herrn Jesum, so wirst du selig. Was sollen aber die Umstände und Weitläufigkeiten bedeuten, die man macht, dies Gebot in wirkliche und tätige Ausübung zu bringen? Was denken wir ohne Jesum auszurichten, und wieviel meinen wir ohne ihn zu können? Was sind alle die Bedenklichkeiten und Zweifel, die du dir machst, anders als Spinngewebe, hinter welchen du deinen Unglauben zu verbergen suchst? Du gibst vor, du wolltest wohl glauben, wenn nur dies und das nicht wäre. Ach, wenn es bloß daran liegt, daß du nicht glaubst, so laß dich doch das nicht weiter hindern, sondern fahre zu und besprich dich nicht weiter mit Fleisch und Blut, Lazarus mag schlafen oder tot sein, oder schon vier Tage liegen. So du nur glauben könntest, so würdest du die Herrlichkeit Gottes sehen. Glaube nur! Alles übrige wird Jesus tun. Ob's dann die Versetzung eines Maulbeerbaumes oder eines Berges betrifft, das macht keinen Unterschied. So redet das Evangelium. Gesetzlich aber ist es, wenn man denkt, wärest du frömmer, wärest du demütiger, hättest du mehr Liebe, mehr Ernst, mehr Eifer und dergleichen, dann wolltest du glauben; das heiße die Ordnung der Dinge umkehren. Glaube! So wirst du dies alles und noch mehr werden. Gesetzlich und nicht evangelisch ist es, wenn man jemandes Gnadenstand nur unter der Bedingung als gültig anerkennen will, wenn er eine ganz feste Versicherung davon mit großer Freudigkeit empfangen hat und imstande ist, Zeit, Umstände und Gelegenheit davon genau anzugeben. Was die lebendige Versicherung anbetrifft, die man auch Versiegelung nennt, so ist sie unleugbar ein köstlicher Gut, mehr wert als alle Güter der Erden. Sie ist sehr begehrungswürdig, sie ist erlangbar. Die Seele kann der Vergebung der Sünden, sie kann von der göttlichen Gnade, von ihrem Anteil an Christo und an seinen Gütern so kräftig versichert werden, daß ihr nicht der allergeringste Zweifel, daß keinerlei Besorgnis übrig bleibt: Solltest du dich auch irren?

So haben es tausende erfahren, so erfahren sie's auch noch. Mag auch unser Lampenbuch auf die Frage: „Wann pflegt sich der Herr so freundlich an der Seele zu offenbaren?“ antworten: „Erstens wann die Seele in der Selbstverleugnung weit gekommen, zweitens, wann die Seele in der Selbstverleugnung weit gekommen, zweitens, wann sie an einen genauen Umgang mit Gott im Verborgenen sich gewöhnet, drittens, wenn sie in schweren Anfechtungen beständig geblieben, viertens, in der Stunde des Todes“, so ist es doch gewiß, daß sie damit gewöhnlich schon bald im Anfang beglückt wird, und daß sie schon bald nach ihrem Eintritt in die Laufbahn am Ziel zu sein und das Kleinod ergriffen zu haben scheint. Es ereignet sich bei ihnen eine Stunde, welche ihnen für ihr ganzes Leben unvergeßlich, wenn gleich nicht in immer gleich lebhaftem Andenken bleibt. Unvergeßlich bleibt ihnen Zeit, Ort, Gelegenheit. Sie können mit David sagen: Da vergabst du mir die Schuld meiner Übertretung. So ist's bei vielen, ja bei den meisten. Allein wie dürfte man daraus eine allgemeine Regel, oder das einzige oder doch vornehmste Kennzeichen des Gnadenbundes machen? Wie dürfte man's wagen, denen alle Gnade abzusprechen, die sich dieser Versicherung nicht zu rühmen wissen. Preiset Jesus nicht auch diejenigen selig, die da hungert und durstet nach Gerechtigkeit? Weidet er nicht auch die Lämmer? Schonet er nicht des glimmenden Dochts und der zerstoßenen Rohres? Dürfte man denn solche Seelen an der Gnade zweifelhaft machen, die ohnehin von ferne stehen und wie jenes Weib zittern? Sollte man behaupten wollen, wer noch nicht alles habe, der habe noch nichts? Was würde dann aus allen? Der Glaube, der sich auch als ein Verlangen, Hungern, Dursten, Fragen nach dem Herrn Jesu und nicht immer als eine feste Zuversicht offenbaret, der Glaube ist es, woran alles Heil geknüpft wird; und dieser Glaube ist auch bei den Versicherten noch wohl sehr schwach, wie sich daran erweiset, daß mit den lebhaften Empfindungen auch ihr Vertrauen verschwindet. Das stille, unablässige Ankleben an Jesu hat einen größern und dauerhafteren Wert, als die lebhaften Empfindungen. Diese gehen vorüber, jenes bleibt. Wir wandeln nicht im Schauen, sondern im Glauben. In diesem Glauben aber sollen wir trotz aller Schwierigkeiten immer fester, unwandelbarer zuversichtlicher werden, daß wir auch da glauben, wo wir nicht, oder wo wir gar das Gegenteil sehen, selbst glauben auf Hoffnung, wo nichts zu hoffen ist, nur daß es ein echter Glaube, Gold sei, das mit Feuer durchläutert ist.

Um alles unter einen Gesichtspunkt zusammen zu fassen, so ist alles dasjenige gesetzlich, was von Christo ableitet und auf eigene Gerechtigkeit und Kräfte hinweiset, als auf dem Wege des eigenen Thuns zum Ziele führen will. Höchst merkwürdig ist in dieser Beziehung die Geschichte der Galater. Sie wurden bald durch die Predigt Pauli ins Evangelium hineingeleitet. Sie fühlten sich ganz selig und waren über dem Evangelium so hoch erfreut und so dankbar, daß sie, ich weiß nicht was, dafür hätten hingegeben und aufopfern mögen. Paulus sagt, auch ihre Augen wären ihnen nicht zu lieb gewesen, daß sie sie nicht fürs Evangelium hingegeben hätten. Kein Fluch war übrig geblieben, die Quittung war geschrieben, daß alles sei bezahlt. Im Glauben waren sie vollkommen in Christo Jesu und warteten nur auf die vollkommene Offenbarung seiner Herrlichkeit. Dieser herrliche und friedensreiche Zustand dauerte aber nicht gar lange, so fielen sie durch die List des Teufels und die Überredung der Menschen von der Gnade zum Gesetz, von Christo auf Moses und wollten dasjenige nun auf dem Wege des Thuns erreichen, was sie auf dem Wege des Glaubens schon gefunden hatten. Auf diese Weise gerieten sie wieder unter das Gesetz und dessen Fluch und liefen Gefahr, der Seligkeit verlustig zu werden und verloren zu gehen. Und wodurch? Nicht durch namhafte Sünden, deren sie sich schuldig gemacht hätten, sondern dadurch, daß sie sich durch einen schönen Schein hatten bereden lassen, das durch eigene Werke zu suchen, was nur durch Glauben zu erlangen war, und im Fleisch zu vollenden, was sie im Geist begonnen hatten.

Das Evangelium weiset auf Christum und predigt uns ihn, wie er uns von Gott gemacht ist. Indem es Christum über alles erhöhet, was im Himmel und auf Erden ist, und ihm einen Namen zuerkennt, der über alle Namen ist, setzt es den Menschen auch an seinen ihm gebührenden Ort. Es beraubet ihn alles Ruhmes, welcher aus ist. Es spricht ihm alle Weisheit ab und erklärt, daß keiner verständig sei, was brauchte uns anders auch Christus zur Weisheit gemacht zu sein, wenn wir selbst Verstand genug besäßen? Es spricht ihm alle Gerechtigkeit und Frömmigkeit rein ab und stellt ihn als einen Gottlosen dar, der unter dem Fluch des Gesetzes, unter dem Zorne Gottes und unter dem Urteil der ewigen Verdammnis liegt. Es dehnt dies über alle ohne Unterschied aus, erklärt, da sei nicht der gerecht sei, auch nicht einer, und ereifert sich am allermeisten wider diejenigen, welche sich selbst vermessen, fromm zu sein und auch andere Ursache zu haben scheinen, sich besser zu dünken wie die andern. Wenn's nicht so wäre, wozu wäre es denn nütze, daß Christus uns zur Gerechtigkeit gemacht ist? Warum blieb er denn nicht im Himmel, und was hatte er hier auf Erden zu tun. und eine solche Last der erschrecklichsten Leiden zu übernehmen? Dann wäre Christus vergeblich gestorben, für nichts und wieder nichts und verdiente eher unsern Tadel als Dank. Nun aber macht das Evangelium Christum allein groß, als durch welchen allein aller Same Jakobs gerecht werde. Es treibt so in die Enge und von aller eignen Gerechtigkeit ab, daß sie zuletzt ihre Knie beugen und schwören: In dem Herrn haben wir Gerechtigkeit.

Es stellt den Menschen als ohne alle Kraft und als im äußersten Elend dar. Doch was sagen wir ohne alle Kraft, es stellt ihn als ohne Leben, als entfremdet vom Leben, das aus Gott ist, als tot in Sünden dar, und Christus nennt nicht nur die Leiche tot, welche begraben wird, sondern auch diejenigen, welche sie zu Grabe tragen und begleiten. Was ist ein Toter für die Geschäfte des Lebens? das nämliche ist ein geistlich Toter für die Geschäfte des Himmels. Ja, das nicht nur, es stellt uns sogar dar als Feinde Gottes durch die Vernunft in bösen Werken, beschreibt unsere ganze natürliche Gesinnung als Feindschaft gegen Gott und uns Menschen als Widerspenstige, als solche, die nicht wollen, die sich verstocken und verhärten, die keine gute Gesinnungen und Überzeugungen aufkommen lassen wollen, das Licht hassen und nicht nur selbst nicht ins Reich Gottes mögen, sondern auch diejenigen zu hindern suchen, die hinein wollen. Ist das nicht schrecklich? Über das verstehen sie nicht nur nichts von demjenigen, was das Reich Gottes anbetrifft, sondern was sie noch etwa davon vernehmen, dünkt ihnen töricht, ungereimt, lächerlich oder auch ärgerlich, daß diese Säue sich wenden möchten, euch zu zerreißen, weshalb der natürliche Mensch auch mit dem angeführten und andern schrecklichen und demütigenden Namen bezeichnet wird, als den der Schlangen- und Otternbrut. Dagegen erhört es Christum wieder zum Allerhöchsten, wie Moses jene Schlange erhöhete, damit sie von allen Gebissenen im ganzen Lager zu ihrer Erhaltung angeschaut würde. Er sucht das verlorene, das ihn sonst nie suchte, und macht selig, das sonst verdammt bliebe. Er ist das Leben also, das Prinzip, der Grund und Quell aller Wirksamkeit. Er schafft bis zum Wollen hinab alles, bis zum Vollenden hinauf. Er ist des Glaubens Anfang wie dessen Vollender. Er ist der Weg. Die Gläubigen sind sein Werk. Er hat sie gemacht und nicht sie selbst zu seinem Volk und Schafen seiner Weide. Ohne ihn nichts, durch ihn etwas. Er gibt das Leben, welchem er will. Sehet, so weiß das Evangelium nichts als Christum, derselbe ist sein A und O, und es macht seine ganze, nur eines armen, gedemütigten Sünders Ohr wohlklingende Musik auf dieser einen Saite. Des Menschen Elend und Christi Gnade sind die beiden Grundtöne, und wenn dieselbe gehörig zusammen klingen, entsteht die herrlichste Harmonie der fröhlichen Botschaft. Das eine darf nicht fehlen, und das andere auch nicht, sonst ist sie nicht vollständig, sondern mißlautend.

Aber so wie uns unser Elend aufgedeckt werden muß, da wir es sonst, aller seiner Größe ungeachtet, nicht erkennen, so können wir auch Christum anders nicht als in seinem eigenen Lichte erkennen. Denn niemand kennt den Sohn, als nur der Vater, und wem es der Sohn offenbaren will. Kurz, Gnade, Gnade ist der Inhalt des Evangeliums, und sie baut ihr Haus auf unserm Untergang und machet was etwas ist zu nichts, damit sie alles sei. Je mehr nun ein Mensch in seinen Gesinnungen, seinem Verhalten, seiner Ansicht und seiner Rede diesen Grundsätzen entspricht, desto evangelischer, je mehr er sich aber davon entfernt, desto gesetzlicher ist er.

Es ist demnach nicht evangelisch, wenn man, statt lauterlich an der Gnade zu hangen wie ein jetzt geborenes Kind an der Mutterbrust, immer wieder auf sich selbst und sein eignes Thun und von den Verheißungen zu den Forderungen fällt, das heißt vom Segen zum Fluch, vom belebenden Geist zum tötenden Buchstaben, wie gewöhnlich und allgemein dies Verhalten auch sein mag und ist, gefällt und angepriesen wird. Nicht evangelisch ist es, wenn man keine Forderungen vertragen kann und sich dadurch eher von Christo wegschrecken als zu ihm hintreiben läßt, wenn man die ernsten Vorstellungen von der Strenge und Genauigkeit des Gesetzes, von der unzugänglichen Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes und unsrer gänzlichen Verdammungswürdigkeit, von der Nichtigkeit aller unserer Gebete und sonstigen guten Verrichtungen nicht erleiden mag. Ein Beweis eines nicht evangelischen Sinnes ist es, wenn es uns anstößig wird, wenn die Gnade als Gnade erscheint, wie alles an Gottes Erbarmen und nicht an jemandes Wollen oder Laufen liege, wie das ganze Heil aus der ewigen Erwählung herfließe, wenn uns dies eher bestürzt als demütig, eher ängstlich als gläubig macht, mehr zurückweiset als anlockt. Ein Beweis eines nicht evangelischen Sinnes ist es, wenn man vergeblich und ohne Erfolg streitet und immer wieder aufs neue niedergeworfen wird, denn das Evangelium ist eine Kraft Gottes, wenn man noch mit vielen Zweifeln und Ängstlichkeit geplagt wird. Denn wer sich noch fürchtet, ist nicht völlig in der Liebe, und das Reich Gottes ist Friede und Freude in dem heiligen Geist.

Wer nicht Lust hat abzuscheiden, um bei Christo zu sein, wer das nicht bei weitem für das beste hält, wenn er auch viele Ursachen hätte, es für nützlicher zu halten, noch im Fleische zu bleiben, wer sich noch vor dem Tode und letzten Gericht fürchtet, wer noch an allerhand irdischen Dingen klebt, viel von seiner Schwachheit redet und zu reden Anlaß hat, da doch kein Einwohner sagen wird, ich bin schwach, weil das Volk das drinnen wohnt, Vergebung der Sünden hat, wer im Ganzen von Christum und von dem Staffel, der schon hier auf Erden in der Erleuchtung, im Frieden und in der Heiligung durch die Gnade erreichbar ist, geringe Vorstellungen hat, oder auch sich durch das Gefühl seiner Verdorbenheiten, statt gläubig, mißmutig oder mißgläubig machen läßt, oder in dem Nachjagen der Heiligung träge ist, oder über derselben der Reinigung seiner vorigen Sünden vergißt und über dem Kampf wider die Sünde, die uns immerdar anklebet, sich aus seiner Festung herauslocken läßt, der legt schlechte Proben seines evangelischen Sinnes ab, möchte er auch den Namen evangelisch noch so sehr prätendieren. Überhaupt ist das Evangelischsein keine Sache, die irgend ein Mensch weder bei sich selbst noch bei andern einführen kann. Das ist Gottes Werk, und zwar ein sonderliches vor andern.

Ein rein und echt evangelischer Sinn ist etwas ungemein Köstliches aber etwas äußerst Seltenes und etwas so jungfräulich Zartes, daß er selten lange unversehrt erhalten wird, und daß bei weitem die meisten, wo nicht gar alle, die erste Liebe verlassen, so daß Jakobus wohl ein besonderes Gewicht darauf legen mag, wenn er sagt: Wer durchschauet in das Gesetz der Freiheit und darin beharret. Die Galater beharreten nicht. Die leiseste Selbsterhebung, das leiseste Wohlgefallen an sich selbst, die kleinste Abweichung von Jesu ist schon ein Abfall von der Gnade zu sich selbst. Ein echt evangelischer Sinn ist demnach etwas äußerst seltenes, am seltensten in seiner Beharrung, so in Christo Jesu fortzuwandeln, wie man ihn angenommen hat. Er ist sogar widernatürlich, und jeder muß zuvor durch die Wiedergeburt aus Wasser und Geist ein geistlicher Mensch geworden sein, ehe er dem Evangelium einen innerlichen und herzlichen Beifall geben kann, ein Kind muß er werden und als ein solches das Reich Gottes empfahen, sonst kommt er nicht hinein. Die evangelische Art, gerecht, heilig, selig zu werden, ist nie von selbst in eines Menschen Herz gekommen; diejenigen, welche sie erkennen und erwählen, müssen gestehen: Uns hat es Gott geoffenbaret durch seinen Geist.

Das Gesetz findet leicht Beifall, weil es sich an das natürliche Gewissen anknüpft, und alle Welt will durch dasselbe gerecht werden, zu war für Religion sie sich auch bekennen, Protestant, Katholik, Jude, Mohammedaner und Heide sind sich darin einig, wie sie sich in ihrer Widerwärtigkeit gegen das Evangelium einig sind, und wie viele, sonst unsträfliche Leute meinen, sie müßten mit Paulo vieles tun. gegen den Namen Jesu.

Ein echt evangelischer Sinn ist derhalben etwas Übernatürliches. Nicht Fleisch und Blut hat dies offenbaret. Sie sollen von Gott gelehret sein. Gott hat einen hellen Schein in unser Herz gegeben. Es hat Gott gefallen, seinen Sohn in mir zu offenbaren, dies müssen mit Paulo alle bekennen, die mit ihm gleicher Barmherzigkeit gewürdigt sind. Niemand kann hierin etwas nehmen, es werde ihm denn vom Himmel gegeben. Diese Offenbarung ist staffelweis sehr verschieden. Öffne mir, betet David, öffne mir die Augen, daß ich die Wunder sehe in deinem Wort! Sende dein Licht und deine Wahrheit, daß sie mich leiten!

Dieser Spur folge ein jeder. Niemand halte sich für gerecht, sondern für gottlos, und suche die Gerechtigkeit Gottes, welche kommt aus Glauben in Glauben! Niemand halte sich für verständig, sondern für albern, wie er ist, und wenn er so weise ist, zu erkennen, daß ihm Weisheit mangelt, der bitte Gott, denn er gibt einfältiglich, damit wir so vom Gesetz und dessen Fluch weg unter das segnende Evangelium kommen und so aus purer Gnade gerecht, heilig und selig werden! Amen.

Quelle: Krummacher, G. D. - Gesammelte Ähren

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/k/krummacher_g.d/krummacher-wie-3._predigt.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain