Krummacher, Gottfried Daniel - Die hohepriesterliche Segensformel - 5. Predigt.

Krummacher, Gottfried Daniel - Die hohepriesterliche Segensformel - 5. Predigt.

4. Mose 6, 25
Jehovah sei dir gnädig.

Ihr höret diese Worte, so oft ihr dieses Haus verlasset, in der Woche und am Sonntage. Sie sind einer so oftmaligen Wiederholung wohl wert, denn sie umfassen ja alles, was gut und heilbringend ist. Ich lese sie zum zweiten Male vor. Der Herr sei dir gnädig! Er erweise sich als gnädig an dir und gegen dich! Wir betrachten denn einiges von den Erweisungen und Wirkungen der Gnade an den einzelnen Menschen im Anfang, zum Fortgang und zur Vollendung.

Nichts ist fürchterlicher als das Gegenteil der Gnade, als der Zorn Gottes, er bringt ewiges und unendliches Elend. Mit Recht sagt Christus, wir sollten uns, mit dem Zorn Gottes verglichen, vor nichts fürchten, selbst nicht vor der härtesten Todesart, weil jener Zorn viel ärger sei. Aber fortwährend gilt noch die Klage des Mannes Gottes, Moses im 90. Psalm: Wer glaubt es aber, daß du so sehr zürnest? Und wer fürchtet sich vor solchem deinen Grimm? Wie gering ist zu allen Zeiten die Anzahl derer, welche diesem schrecklichsten aller Übel durch den einigen Friedensfürsten zu entrinnen suchen! Wie wollen aber die entfliehen, die ihn nicht achten, obschon sie von ihm hören! Nichts ist aber köstlicher als das Gegenteil vom Zorn, nämlich die Gnade. Gott wolle dir wohl, sei dir geneigt! Was läßt sich Besonderes wünschen, begehren, besitzen? Wahrlich nichts; denn dies begreift alles erdenklich Gute in sich.

Nun sagt der Hohepriester, dir, der Herr sei dir gnädig, und wir fragen also zuerst, und wir fragen also zuerst nach den Personen, die da gemeint sind. Wünschenswert ist dies allen Menschen, denn es ist, wie Paulus sagt, eine allen Menschen heilsame Gnade. Sie wäre den Königen auf ihrem Throne die herrlichste Krone, wenn Gott sie krönte mit Gnade und Barmherzigkeit, sie wäre für den armen, kranken Lazarus das sanfteste Lager, die rechte Gesundheit des Gesunden, der rechte, unvergängliche Reichtum für die Vermögenden, die rechte Freude für Fröhliche und Betrübte, kurz, allen alles. Was nun die Personen betrifft, welche Gegenstände der Gnade sind, so hat erstlich kein Mensch rechtlichen Anspruch daran, keiner kann fordern, Gott solle und müsse ihm gnädig sein, ihm wohlwollen, es wäre denn, daß es dem 2. Psalm gemäß geschähe, wo es Vers 8 heißt: Heische von mir! Worauf sollte ich solche Anforderung: Gott soll mir gnädig sein, gründen? Auf meine Werke, Rechtschaffenheit, Tugend? Gesetzt aber, es könnte jemand dem reichen Jüngling nachsagen Das Alles habe ich gehalten von Jugend auf, so würde er doch das niederschmetternde Wort von Jesu hören müssen: Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme. Ja überhaupt, wenn Gnade sich auf ein vorheriges Betragen und Wohlverhalten gründete, so hörte sie in demselben Augenblicke auf, Gnade zu sein und veränderte ihre Natur. Nicht um der Werke willen der Gerechtigkeit, die wir gethan haben, sondern nach seiner Barmherzigkeit macht er uns selig. Mögen die Menschen es allerdings anders wollen, sie ändern damit nichts, sondern müssen selbst anders werden, sonst geht's nicht. Ja, genau genommen, kann man nicht einmal sagen, wenn Gott jemand gnädig sein soll, so muß er seine Bedürftigkeit für die heilsame Gnade erkennen, sie ernstlich suchen und eifrig, ohne Unterlaß darum beten; denn wo sich dies wirklich findet, wo dies rechter Art ist, da sind es Pflanzen, mögen sie auch wie Gras aussehen, welche schon nicht auf dem verfluchten Acker unsres Herzens von selbst gewachsen, sondern vom himmlischen Vater gepflanzt sind. Es ist gleichsam die Dämmerung zu dem anbrechenden Tage. Die recht suchen, haben wohl ohne ihr Wissen schon so viel gefunden, als zu diesem Suchen erforderlich war. Sie werden also so gewiß finden, als sie suchen; denn wer erst hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe. Und im ganzen wird der Herr gefunden von denen, die ihn nicht gesucht haben. Gott hat aber nicht zu Jakob gesagt: Suchet mein Angesicht vergeblich, darum suche ich, o Herr, dein Angesicht. Im ganzen gründet sich die Gnade auf nichts, was in uns selber ist, wie ja Eltern ihre Kinder darum lieben, weil es ihre Kinder, nicht aber, weil sie schön, gesund, artig sind, wie lieb ihnen das auch dabei ist. Möchten das diejenigen verstehen, welche meinen, sie würden sich mehr von der Gnade versprechen und hoffen dürfen, wenn sie gebeugter wären, wenn ihre Sündenangst größer, ihr Sündenhaß brennender wäre, wenn sie mehr Liebe hätten u. dgl., was doch im Grunde nichts anderes ist als eine Verkehrung des Gnadenbundes in eine Art von Werkbund, auf welchem Wege man nie zu etwas echtem kommen wird.

Gegenstände der Gnade sind überhaupt solche, die nur aus Gnaden gerecht, heilig und selig werden können. Und wem will denn Gott gnädig sein, wenn er's nicht solchen sein wollte, die von Natur Kinder des Zorns sind, wie alle von Natur gewesen oder noch sind, wenn er's nicht Sündern sein will, seien sie aus den Juden oder Heiden, nicht solchen, wie er sie selbst gefunden hat, als er vom Himmel herabsah auf die Menschenkinder, nämlich als solche, die nicht einmal nach ihm fragen, und vor deren Augen keine Gottesfurcht ist. Es sind Sünder von aller Art. Es sind teils ehrbare, sittsame Sünder, voll Eigenweisheit und Selbstgerechtigkeit, die von ihrer Rechtschaffenheit und Kirchlichkeit den Himmel als einen ihnen gebührenden Lohn erwarten; es sind teils gottlose Sünder, die sich durch eine Menge von bösen Früchten als böse Bäume kenntlich machen. Mit einem Worte, es sind Unwürdige, die ihrerseits nichts ausweisen können, was ihnen Ansprüche an Begnadigung gäbe, es wäre denn ihr Elend. Und ist hier kein Unterschied.

Insbesondere und namentlich ist es die Wahl, die es erlangt. Gott thut kund den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen der Barmherzigkeit, die er bereitet hat zur Herrlichkeit, wie er durch Hoseam spricht: Ich will das mein Volk heißen, was nicht mein Volk war, und die Liebe, die nicht die Liebe war, und soll geschehen an dem Ort, wo zu ihnen gesagt ward: Ihr seid nicht mein Volk, sollen sie Kinder des lebendigen Gottes genannt werden. Gott nimmt sich auch seinen Teil aus dem verlorenen Sünderhaufen. Des Herrn Volk ist sein Teil. Jakob ist die Schnur seines Erbes. Wie tröstlich ist dies, denn wenn die Zahl der Kinder Israel würde sein, wie der Sand am Meere, so würde doch das übrige selig werden. Wenn uns aber der Herr nicht ließ übrig bleiben, so wären wir wie Sodom geworden und gleich wie Gomorrha. Wenn denn auch alles Fleisch seinen Weg verderbet, so werden ihrer dennoch gläubig, so viel ihrer zum ewigen Leben verordnet sind. Welche er zuvor versehen hat, die hat er auch verordnet. Ich habe dich je und je geliebet, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte. Das ist die Liebe, nicht daß wir ihn geliebt hätten, sondern er hat uns zuerst geliebt. Das ist die Sache, nicht daß wir ihn, sondern daß er uns gesucht hat, bis er uns fand, da wir verlorne Schafe, Groschen, Söhne waren, ja Feinde Gottes durch die Vernunft in bösen Werken. Denn wir sind von Natur geneigt, Gott und unsern Nächsten zu hassen, und, bis wir aus dem Geist Gottes wiedergeboren werden, ganz und gar untüchtig zu einigem Guten und geneigt zu allem Bösen. Derjenige aber, der uns tüchtig macht, das ist Gott, der in uns schafft beides, das Wollen und Vollbringen nach seinem Wohlgefallen. Von ihm, durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit!

Daß die Gläubigen Gegenstände der Barmherzigkeit sind, redet von selbst, denn aus Gnaden seid ihr selig geworden, durch den Glauben, und dasselbe nicht aus euch, Gottes Gabe ist es. sind wir von denen, die da glauben, so retten wir unsre Seele. Wie in der Natur, so pflegt sich auch Gott in dem Reiche der Gnade der Mittel zu bedienen. Dies nennen wir Gnadenmittel, die wir in ordentliche und außerordentliche unterscheiden. An sich sind sie freilich nichts, und ihre Anwendung ist erfolglos, von Gott aber gesegnet, verfehlen sie ihren Zweck nie. Die ordentlichen Gnadenmittel sind: Die Predigt des göttlichen Worts, denn der Glaube kommt aus der predigt. Wie sollen sie aber hören ohne Prediger? Dann die Sakramente, die dasjenige bestätigen, was Gott im Evangelium lehrt, nämlich, daß unsre ganze Seligkeit stehe in dem einigen Opfer Christi, am Kreuz für uns geschehen. Die Predigt handelt sowohl vom Gesetz, das uns unsre Pflicht lehrt, woraus Erkenntnis der Sünde und der Verdammnis kommt, als vom Evangelium, das uns die göttliche Gnade und Verheißung in Christo Jesu predigt und uns zur Annahme und Teilnahme durch den Glauben einladet. Jenes, das Gesetz, betrübet, ängstigt, treibt ins Verzagen und Verzweifeln dieses, das Evangelium, erfreut, beruhigt, macht Mut und Hoffnung, insofern sich nämlich der Geist Gottes dieser Mittel zu dem einen oder andern Zweck bedient, sonst mag gepredigt werden, was, wie und so lang es will, es ist nichts als ein toter Buchstabe. Dagegen kann das einfachste Wort, wie von ungefähr ausgesprochen, von wem es sei, die gesegnetste Wirkung haben. Was die außerordentlichen Mittel angeht, so sind dieselben zugleich die seltensten, und niemand darf sie erwarten oder begehren. Es ist zwar unleugbar, daß schon durch Träume, Stimmen, Erscheinungen Bekehrungen bewirkt oder Tröstungen ausgespendet worden sind; allein es sind auch oft arge Täuschungen mit untergelaufen. Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.

Die Erweisungen und Wirkungen der Gnade sind seligmachend und kommen in eine dreifache Betrachtung: nach ihrem Anfang und Fortgang in diesem, und nach ihrer Vollendung in dem zukünftigen Leben.

Die anfänglichen Wirkungen der Gnade in einem Menschen sind oft so plötzlich und durchgreifend, daß sie ihm und andern alsbald merkbar werden. Sie sind plötzlich wie ein Blitz, so daß ein solcher mit dem Blindgeborenen sagen kann: Vor kurzem war ich noch blind, jetzt aber bin ich sehend, und es von ihm wie von Zachäus heißt: Heute ist diesem Hause Heil wiederfahren! So geschah es mit den Dreitausend, die durch Petri predigt in ganz kurzer Zeit bußfertig und gläubig wurden, mit dem Kerkermeister zu Philippi und überhaupt mit den ersten christlichen Gemeinden. Mit andern aber schreiten die Wirkungen der Gnade stufenweise vorwärts und beginnen auf eine so zarte, unmerkliche Weise, daß sie von dem, der sie erfährt, selbst noch nicht als Gnade kund werden. Es verhält sich dann, wie Jesus vom Weizen sagt: Erst das Gras. Die Blume und Frucht liegt gleichsam noch in der Knospe. Der Mensch wird erweckt, so daß er wegen seiner Seligkeit nicht mehr so sorglos sein, es nicht mehr so leicht nehmen kann, wie bisher. Er kann nicht mehr so frech und frei sündigen, sondern findet einen innern Widerstand, innere Abmahnung, Gewissensbisse, die Frage: Wo will's mit mir hinaus? Es kann sein, daß ihm dies ungelegen genug ist, und er das wohl mit guter Manier von der Hand wiese, aber es geht nicht, es kommt wieder, und ist das Werk aus Gott, könnt ihr es nicht dämpfen, sonst aber wird's hernach noch wohl ärger mit den Menschen, und Satan beaufsichtigt einen solchen Knecht, der Miene macht, ihm zu entlaufen, noch genauer und bindet ihn noch fester. Ist's mit der Erweckung rechter Art, so fängt die Gnade an, wie ein Licht in den bisher dunkeln Ort des Herzens zu scheinen, daß dem Menschen manches im Worte verständlich, ihm auch die Sünde mehr klar vor die Augen gestellt wird. Er muß jetzt vieles als sündlich anerkennen, was er bisher für Kleinigkeit hielt, oder als erlaubt, als ehrbar ansah, und muß es dran geben, mögen andere auch dazu sagen, was sie für gut finden, es loben oder mißbilligen. Er muß auch vieles als ungut anerkennen, worauf er sich bisher als auf sein Verdienst und Werk verließ, ja es mit zu seinen Sünden rechnen. Alle Entschuldigungen und falsche Behelfe werden ihm entrissen, denn das Gesetz erweiset sich nun in der Kraft seiner Forderung: Thue das, so wirst du leben, und in dem Nachdruck seiner Drohung: Verflucht sei jedermann, der nicht bleibt in alle dem, was geschrieben steht in dem Gesetze, daß er's thue, und führt den Menschen in eine ernstliche Arbeit, der Forderung ein Genüge zu leisten, um der Drohung zu entgehen und das Leben zu ergreifen. Freilich ist dies der Weg zur Seligkeit nicht, er ist wohl voll Arbeit, aber ohne Frucht. Er bring uns dem Ziele nicht näher, sondern entfernt es; die Sünde wird überaus sündig, und das Gebot, welches dem Menschen zum Leben gegeben war, denn wer das Gesetz hält, der soll leben, gereicht ihm zum Tode. Führt dich aber dein Weg unter das Gesetz also, daß du dadurch ein elender Mensch wirst, der ängstlich fragen muß: Wer wird mich erlösen vom Leibe des Todes; kannst du es weder durchs Thun noch durchs Glauben, weder durch eignes Wirken noch durch Beten erlangen, weil du zu dem einen so ungeschickt bist wie zu dem andern: Siehe, so ist der Herr nicht gesonnen, dich zu verderben, wie du fürchtest, sondern er harret nur, daß er dir gnädig sei. Bist du erst ganz vom eignen Wirken leer, so wandelt er dein Fürchten, Zweifeln, Zagen in lauter Jubelton und Lobgesang.

Ist der Mensch genug gedemütigt, welches „genug“ aber der Herr selbst bestimmt, so nimmt die Gnade eine andere Richtung, die lieblicher ist, als die bisherige. Die Zeit, worin die Seele in der Erkenntnis und Empfindung ihres Elendes geübt und dadurch zerknirscht und zerschlagen wird, dauert nicht bei allen gleich lang; was bei einigen Stunden sind, dauert bei andern Tage, Wochen und Jahre. Die Demütigung und Zermalmung, die Angst und Not hat auch nicht bei allen gleiches Maß: Nacht ist Nacht, aber nicht jede Nacht ist gleich finster. In der einen geistlichen Nacht kann der Mond mit flüchtigen Tröstungen scheinen, oder es können noch einige Sterne der Hoffnung aus etlichen Verheißungen winken; in einer andern aber können Stürme sausen, Donner rollen, und zischende Blitze ein fürchterliches, gefährliches Licht spenden. Man kann zwar von keinem sagen, er sei empfänglicher für die Gnade, denn sie schafft etwas neues, ruft dem, das nicht ist, daß es sei, und befiehlt dem Licht, daß es aus der Finsternis hervorleuchte. Das Wort aber zeigt uns in Wort und Exempel, daß die Gnade bei dem einen mehr Hindernisse und Schwierigkeiten wegzuräumen antreffe, als bei andern; daß sie sich in der Umschaffung des einen mehr als eine allmächtige, unwiderstehliche, alles besiegende Gnade erweise, als bei andern, obschon es die nämliche Gnade ist. Sie ist der Sonne vergleichbar, die überall die nämliche ist, doch in einigen Ländern eine weit größere Hitze macht, als in andern. Christus sagt von den Reichen, sie würden schwerlich ins Reich Gottes kommen, setzt aber doch hinzu: Bei Gott sind alle Dinge möglich. Zu den selbstgerechten Pharisäern sagt Christus, Hurer und Zöllner würden eher ins Himmelreich kommen, als sie; war aber nicht der so reich begnadigte Paulus ein Pharisäer? Und giebt uns nicht Lucas den erfreulichen Bericht, es seien noch viele Pharisäer und Priester bekehrt worden? Wunder sind Wunder, Erweisungen der göttlichen Allmacht; aber sie erweisen sich doch herrlicher in Stillung des tobenden Sturms und wütenden Meeres, in Auferweckung des Lazarus, in Austreibung der sieben Teufel aus der Maria Magdalena, in Heilung des Blindgeborenen, als in Gesundmachung der Schwiegermutter Petri, die nur am Fieber darniederlag. In der Bekehrung eines schnaubenden Paulus wird eine größere Kraft der Gnade ersichtlich, als an dem gutwilligen Nathanael in Wegschaffung seines Vorurteils: Was kann aus Nazareth Gutes kommen? Gott redet beim Jeremias (Kap. 30) zweimal von starken Sünden, woraus er Zion helfen wolle. Ist jemand in der Sünde grau geworden, sind sündliche Gewohnheiten zu Stricken geworden, die ihn fesseln, hat er sich sogar den historischen Glauben an die Schriftwahrheit rauben lassen und statt dessen sich den fleischlichen Grundsätzen menschlicher Weisheit hingegeben, steckt er in besonderem Maße in Eigenwillen, Selbstgerechtigkeit und Eigenweisheit, so trifft die Gnade hier Befestigung und Höhen an; und wenn sie dennoch durchbrechen, und wenn solche Gefangene und Gebundene dennoch gefangen werden unter den Gehorsam Christi, so erweiset sich dadurch die Gnade in besonderer Macht und Herrlichkeit. So werden wohl Letzte die Ersten.

Kehren wir aber zurück zu den Erweisungen der Gnade, so nimmt sie bei Seelen, die genugsam gedemütigt sind, eine andere lieblichere Richtung und erweiset sich als eine solche, welche da, wo die Sünde mächtig geworden, noch mächtiger ist. Dem Menschen, der nun glücklicherweise in seinen Augen zu einem verlorenen und verdammten Sünder geworden ist, wie er, ohne es einzusehen, immer war, wird nun offenbar und glaublich, daß er deswegen doch nicht wirklich ewig verloren zu gehen braucht, daß seine Sünde nicht zu groß und viel, seine Verderbtheit nicht zu tief gewurzelt, seine Bande nicht zu fest und stark seien, daß ihn nach Jeremias 30 dennoch geholfen werden könne, obschon seine Schmerzen verzweifelt böse, und seine Wunden unheilbar sind. Ja, bei dieser erfreulichen Einsicht wird ihm sogar Freimütigkeit zuteil, sich an den zu wenden, außer welchem kein Heil und kein Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin sie sollen selig werden; der da rufet: Her zu mir; der keinen hinausstößt, der zu ihm kommt; der sogar sagt, er sei dazu gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, und der von sich sagen läßt: Es ist je gewißlich wahr und ein teuer wertes Wort, daß Jesus Christus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen. Dies wird der Seele immer deutlicher und glaublicher, so daß ihr zuletzt kein Zweifel übrig bleibt, Jesus werde auch sie selig machen, weil sie ja die Eigenschaft aufs deutlichste an sich findet, die dazu erfordert wird, ein Gegenstand der seligmachenden Arbeit Jesu zu werden, die Eigenschaft nämlich, daß sie eine elende und sündige, eine blinde und tote Seele ist. Und wie Kranke und Arzt, so gehören ja Sünder und Jesus beisammen. Das, was die Seele schon ängstigte, macht ihr jetzt Mut, ihr Elend nämlich, denn die Elenden sind es ja, die leben sollen, weil der Herr es thut. So kommt denn das wunderbare Werk und Kleinod des Glaubens in dem Herzen zum Vorschein; die Seele fällt mit dem sehend gewordenen Blindgeborenen zu den Füßen des Sohnes Gottes anbetend nieder und spricht das große Wort: Herr, ich glaube! Das Evangelium wird ihr klar und mit demselben gewiß, daß auch ihr Christus von Gott gemacht ist zur Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung. Wo ist nun die Sünde? Am Kreuze abgethan und mit Gottes Blut abgewaschen. Wo ist der Tod? Er ist verschlungen in den Sieg. Der Bösewicht? Er ist überwunden. Die Hölle? Mein Fels hat überwunden der Hülle ganzes Heer. Wo ist die Handschrift der Sünde? Sie ist ans Kreuz geheftet und aus dem Mittel gethan. Wo sind die Kläger? Es hat mich niemand verdammt, weil mein Bürge unschuldig für mich verdammt ist. Wo ist der Zorn? So weit hinweggethan, als der Aufgang der Sonne vom Niedergang. Wie steht's ums Gericht? Wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Diese Liebe treibt die Furcht aus, also daß wir Freudigkeit haben auf den Tag des Gerichts. Was wird aus deinen Verbrechen? Sie sind alle geheilt. Was aus der Zukunft? Lauter Heil. So geht's denn, wie es Jes. 35 heißt: Wo es sonst trocken war, sollen Teiche stehen, und wo es dürre war, sollen Quellbrunnen sein; wo sonst Schlangen waren, soll Gras, Rohr und Schilf wachsen: Denn sie sehen die Herrlichkeit des Herrn, den Schmuck unsers Gottes.

Unterdessen wird die Seele eine neue Kreatur in Christo Jesu, die sich auf die lieblichste Weise herausstellt; daß da, wo Sünde und Gräuel standen, jetzt Glaube, Liebe und Hoffnung grünen, im Geist und in der Wahrheit Gott zu dienen. Sie wird wiedergeboren, sie wird gerechtfertigt, sie wird geheiligt, sie wird bewahret. Ist sie nun gleich nach der Rechtfertigung vollkommen in Christo Jesu, und kein verdammlicher Flecken an ihr, ist sie rein um des Wortes Christi willen, so bedarf sie doch, daß ihr die Füße gewaschen werden, was derjenige allein kann, auch treulich thut, der sie ein- für allemal so wusch, daß sie ganz rein ward. Doch kann der Seele die Reinigung ihrer vorigen Sünden noch so verdunkelt werden, daß sie meint, auch Hände und Haupt müßten gewaschen werden, da sie doch ganz rein ist. Nach der Wiedergeburt sind zwei Menschen in einem, Fleisch und Geist, die wider einander streiten. Im roten Meer ertrank das Heer der Egypter, aber ein Pöbelvolk kam mit hindurch und brachte viel Herzeleid, und Ahira, der böse Bruder, war gar einer von den Anführers. Da giebt's wunderbare Streitigkeiten, und obschon der Größere und Aeltere dienstbar werden muß dem Kleinern und Jüngern, so muß Jakob doch wohl vor Esau flüchten, weil er ihn töten will. Kurz, es ist und bleibt hienieden Stückwerk.

Aber wir warten eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Jehovah sei dir nur gnädig, so bist du geborgen. Will das Dir, und will dich der Blick auf dich selbst entmutigen, siehe, so heißt es ja gnädig, das schließt ja alles Verdienst und alle Würdigkeit aus und ermutigt dich, ja dich, zum völligen Glauben, um nichts umsonst zu kaufen. Jehovah sei dir gnädig! O Seele, zu welchem ziele führt dich das! Die höchsten und innigsten Erquickungen, die du hier genießen magst, sind zwar des Geistes Erstlinge, aber was muß die volle Ernte sein! Sind die Vorhöfe so schön, was muß der Tempel selber sein! Es giebt dafür keine menschliche Sprache, und als Paulus aus demselben zurückkam, konnte er keinen Bescheid darüber geben, weil er dazu unaussprechliche Worte bedurft hätte. Ist auf Thabor gut sein, wie gut muß es vollends da sein, wohin Moses und Elias doch bald zurückkehrten, mag auch ein Gethsemane, ein Golgatha, ein Grab, möchten auch Hiobs und Hemans Leiden dazwischen liegen.

Jehovah sei Dir gnädig! Höheres giebt's nicht, denn es umfaßt alles in einem.

So sei uns denn gnädig, Herr, und laß es uns wissen, so genüget uns! Amen.

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