Krummacher, Gottfried Daniel - Die evangelische Lehre von der Rechtfertigung - 3. Predigt

Krummacher, Gottfried Daniel - Die evangelische Lehre von der Rechtfertigung - 3. Predigt

(gehalten am 10. Oktober 1830)

Es ist ein lieblicher Brief, welchen der alte Paulus aus seiner Gefangenschaft in Rom an seinen Freund, den Philemon schreibt. Er betraf einen Onesimus. Dieser war ein Sklave des Philemon und von ihm weggelaufen, früher ein unnützer und verkehrter Mensch. Durch die erbarmende Fügung Gottes war er in Rom mit Paulo bekannt, bekehrt, ein ganz anderer Mensch und dem Apostel sehr lieb geworden, so daß er ihn seinen Sohn und lieben Bruder nennt. Diesen nun sendet er seinem rechtmäßigen Herrn wieder zu und gibt ihm ein Empfehlungsschreiben mit.

Dasjenige, was ich daraus hervorheben wollte, ist dieses, daß Paulus den Philemon bittet, den Onesimus so aufzunehmen, wie er ihn selbst aufnehmen würde und es ihm, Paulo, zuzurechnen, wenn Onesimus ihm etwa Schaden getan oder schuldig sei, er wolle es bezahlen.

Es ist leicht zu denken, welche günstige Aufnahme Onesimus bei seinem alten Herrn fand, wie willkommen er war, wie so gar kein Vorwurf ihm gemacht wurde, und kein saures Gesicht, sobald der Brief gelesen war.

Die Nutzanwendung, die ich von dieser artigen Geschichte machen wollte, ist diese: Wie wohl muß der Mensch bei Gott dran sein, über dem sein eigener lieber Sohn, von dem er selbst sagt: Ich habe Wohlgefallen an ihm, sagt: nimm ihn auf, wie mich selbst, denn was er schuldig ist, ist mir zugerechnet, und ich habe es bezahlt.

Seht da den Hauptgedanken, der uns heute beschäftigen soll, wozu der Herr uns seinen Segen verleihe!

Und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade, durch die Erlösung, so durch Jesum Christum geschehen ist.
Römer 3, V. 24

Das vorige Mal haben wir die Person des Erlösers und das Erlösungswerk betrachtet. Lasset uns denn jetzt die Frucht dieser Erlösung, welche durch Jesum Christum geschehen ist, erwägen. Diese Frucht ist zweifach, nämlich:

  1. eine vollkommene Versöhnung mit Gott;
  2. die Gerechtigkeit, welche vor ihm gilt.

I.

Wir sind Gott versöhnet durch den Tod seines Sohnes, heißt es Römer 5, 10. Durch unsern Herrn Jesum Christum haben wir die Versöhnung empfangen. Gott versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünde nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. Gott hat uns mit ihm selber versöhnet durch Jesum Christum und das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. Johannes spricht: Darin stehet die Liebe, nicht, daß wir Gott geliebet haben, sondern, daß er uns geliebet hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unsern, sondern auch für die der ganzen Welt.

Im alten Bunde ward das Wort „versöhnen“ sehr häufig von den Opfern, insbesondere aber von demjenigen feierlichen Opfer gebraucht, das alle Jahre einmal vom Hohepriester geschah. Zuerst mußte er den durchs Los dazu bezeichneten Bock vor den Herrn stellen, daß er ihn versöhne. Sodann mußte er seinen Ochsen herzubringen und ihn schlachten und sich und sein Haus versöhnen. Darauf mußte er einen Bock, des Volkes Sündopfer, schlachten und also versöhnen das Heiligtum von der Unreinigkeit der Kinder Israel und von ihrer Übertretung in allen ihren Sünden; und namentlich mußte er den Altar, der vor dem Herrn stand, versöhnen, und ihn reinigen und heiligen von der Unreinigkeit der Kinder Israel und also versöhnen das Heiligtum und die Stiftshütte und den Altar und die Priester und alles Volk der Gemeine; und soll der Hohepriester durch ein Bekenntnis alle Missetaten der Kinder Israel und alle ihre Übertretung in allen ihren Sünden legen auf das Haupt des dazu durchs Los bezeichneten Bocks, daß er alle ihre Missetat auf ihm in einen Wildnis trage. (3. Buch Moses, 16.)

In unserer Sprache nun heißt versöhnen soviel als bewirken, daß mißhellige Parteien oder Personen wieder Freunde werden. Das bedeutet aber das hebräische Wort, das in der angeführten Stelle gebraucht wird, nicht. Wir haben in unserer Sprache kein Wort, um es wiederzugeben. Eigentlich heißt es bedecken oder überziehen. In diesem Sinne wird es von der Arche gebracht, welche Noah überzog, oder, wie es in unserer Übersetzung heißt, verpichte sie mit Pech. So wird es auch Jesaja 28, 18 gebraucht: Euer Bund mit dem Tode soll los, buchstäblich überzogen werden, mit etwas anderem, daß man ihn nicht mehr lesen kann. Das, was in unserer Bibel Gnadenstuhl übersetzt wird, heißt buchstäblich ein Dach oder Deckel. Demnach hieße Versöhnung soviel als eine Bedeckung und zwar der Sünde und Übertretung, so daß sie nicht gelesen oder gesehen werden können; weder um Gott der Unheiligkeit zu beschuldigen, wenn er einen Sünder wider sein Verdienst in seine Gemeinschaft aufnimmt und in ihm wohnt, noch um den Menschen nicht durch seine Unwürdigkeit niederzuschlagen, daß er kein Vertrauen zu Gott fassen dürfe, da ja die Handschrift unserer Sünden durch das Blut Christi aus dem Mittel getan, ausgelöscht und unleserlich gemacht worden ist.

Alle die blutigen Handlungen und Opfer des alten Bundes samt der aus gediegenem Gold geschlagenen Platte, welche der Bundeslade und den darin aufbewahrten Gesetzestafeln zum Deckel dienten, waren nicht imstande, diese Bedeckung, wenn wir uns in hebräischer Weise ausdrücken wollen, diese Versöhnung zu liefern und zu stiften. Sie mahnte vielmehr nur an deren Notwendigkeit und Verheißung. Die wirkliche Stiftung und Leistung der wahrhaftigen Bedeckung und Versöhnung war einem anderen Priestertum als dem des Aaron, war einem anderen Priester, welcher höher ist als der Himmel, war einem anderen Opfer vorbehalten und einem anderen Blute, das kostbarer ist als alle die goldenen Tische, Leuchter und sonstigen Gegenstände des Tempels. Es war dem Sohne Gottes, Jesu Christo vorbehalten, die Versöhnung und Bedeckung für unsere Sünden zu sein. Er ist der eigentliche und wahrhaftige Gnadenstuhl.

Über die Art, wie er diese gestiftet, haben wir uns neulich ausgesprochen, da wir von seinem Gehorsam redeten. Von derselben gilt nun im allereigentlichsten Sinne, was in dem soeben aus dem 3. Buch Mosis angeführten 16. Kapitel gesagt wird; Von allen euren Sünden werdet ihr gereinigt vor dem Herrn; oder wie Paulus sagt: Ihr seid abgewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht gesprochen. Denn die durch Christum gestiftete Versöhnung ist vollkommen.

Das ist sie in Absicht auf Gott. Bileam, was für ein Lügenprophet er auch sonst war, sagt doch 4. Buch Moses 23, 21 die Wahrheit, wenn er spricht: Er siehet keine Ungerechtigkeit in Jakob und keine Bosheit in Israel, denn er siehet es wie mit einem Kleide, bedeckt mit dem Blute seines geliebten Sohnes, wie die Flur im Tau und das Land im Sonnenstrahl. Wer kann nun Gott der Ungerechtigkeit oder der Unheiligkeit beschuldigen, wer muß nicht vielmehr seine Gerechtigkeit preisen, wenn er Gottlose gerecht spricht und Sünder in seine Gemeinschaft aufnimmt, in ihnen wohnt und wandelt, da er's bloß tut, das Blut und Verdienst seines Sohnes zu ehren; denn darum erweist er Gnade, daß dieser spricht: Laß ihn nicht hinunter fahren ins Verderben, denn ich habe einer Versöhnung gefunden. Wer dürfte Gott beschuldigen, er ehre dieses Blut zu hoch, wenn er um dessen willen eine ganze Welt voll Sünder begnadigte und sie zu seinen besten Kindern, zu Erstlingen machte. Denn ist dies Weib nicht mit der Sonne bekleidet, in Christo ohne Flecken? Je mehr Vernunft jemand besitzt, je richtiger er also urteilt, desto mehr wird er Gott in seiner Gerechtsprechung rechtfertigen.

Dir durch Christum bewirkte Bedeckung und Versöhnung ist vollkommen in Absicht des Gesetzes. Ihm ist nicht nur genug geschehen, sondern es ist ihm mehr geleistet worden, als es je zu fordern gesonnen oder befugt war. Es richtet seine Forderungen nicht an Engel, sondern an Menschen und begnügt sich mit dem, was Menschen leisten können, und verlangt von ihnen nicht, was nur Engel vermögen, wie Eltern dasjenige nicht von ihren kleineren Kindern verlangen, was sie den Erwachsenen zumuten. Und siehe, das Gesetz erblickt unter denen, welche sich mit seiner Erfüllung beschäftigen und an seinem Joche ziehen, nicht einen der höchsten Engel, nicht einen bloßen Menschen, sondern einen Gott, einen, der höher ist als der Himmel, den Gesetzgeber selbst. Es sieht einen solchen unter seinen Strafen erliegen, den trifft sein Fluch, an dem wird sein Todesurteil vollzogen! Was will es denn nun noch? Sollten denn diejenigen, welchen dies gilt, sollten sie - um aus Römer 7 zu reden - nicht frei sein vom Gesetz, und demselben getötet und von dem Gesetze los und ihm abgestorben sein durch den Leib Christi? Sollte das Gesetz nicht mit einbegriffen sein, wenn gefragt wird: Wer will einwenden, welche ein solches Lösegeld aufzuweisen haben, denen ein solcher Gehorsam zugerechnet wird? Wie gern wird Philemon dem Onesimus alles geschenkt haben, wenn Paulus schrieb: Was er dir schuldig ist, rechne mir zu!

Vor diesem Lösegeld müssen auch Menschen schweigen oder werden mir ihren Anklagen abgewiesen, wie begründet sie auch an sich sein mögen. Über einen Sünder, der Buße tut, ist nicht bloß im Himmel Freude, sondern auch bei der Gemeine hienieden, der dann nichts daran gelegen ist, welche und welcherlei sie bisher gewesen. Möchte jenem Simon das auch bei jener Sünderin zum Anstoß sein, Christus selbst sagte doch zu ihr: Gehe hin in Frieden! Gewiß sah im Himmel keiner sauer, als Jesus den Mörder mit sich ins Paradies brachte, sondern bewunderte in diesem Tautropfen den schimmernden Sonnenstrahl. Ward die Gemeine zu Jerusalem auch anfangs stutzig, als sie Paulum, den früheren grausamen Verfolger in ihrer Mitte erblickte, so reichte sie ihm doch freudig die rechte Hand als sie von seiner Begnadigung vergewissert wurde. Kein einziger als er selbst rückte ihm seine früheren Übeltaten vor; er würde sie sich aber auch nicht haben vorrücken lassen, sondern gesagt haben: „Ich bin gerecht gesprochen. Wer Will verdammen?“ Will jemand dem Petrus seine Verleugnung vorrücken, so vergesse er nicht, daß Christus für ihn gebetet hat. Will jemand dem David seinen heimtückischen Todschlag nicht vergessen, so vergesse er auch Nathans Wort nicht: Der Herr hat deine Sünde weggenommen! Und überhaupt, wer mag wider uns sein, wenn Gott für uns ist? Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen, da Gott hier ist, der gerecht spricht?

Die Versöhnung und Bedeckung erweist ihre Vollkommenheit in ihrer Geltung. Wer diesen Paß besitzt, dem wird er sich überall als gültig, als ein solcher ausweisen, der überall respektiert wird, so weit das Reich und die Herrschaft Gottes reicht. Überall wird's heißen: Lasset diese gehen! Machet Bahn, machet Bahn! Räumet die Steine auf! Der Tod kann sie fressen, aber nur wie der Fisch den Propheten. Sie können in einen Feuerofen geworfen werden, aber einer ist bei ihnen, als wäre er ein Sohn der Götter, wie Nebukadnezar redet. Sie können unter Löwen geraten, aber ein Engel hält diesen grimmigen Bestien den Rachen zu. Eine giftige Natter kann sich an ihre Hand festbeißen, sie aber schleudern sie ohne Schaden ins Feuer. Der Satan kann sich zur Rechten eines mit unreinem Gewande bekleideten Josua stellen, um ihn zu verklagen, durch des Lammes Blut wird er verworfen. Der Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. Die Sünde der ganzen Welt, auf die eine Waagschale gelegt, schnellt hoch in die Luft, wenn die Versöhnung des Sohnes Gottes auf die andere gelegt wird.

Sie ist vollkommen in ihrem Umfang. Dieser Purpurmantel ist weit genug, der Sünden Menge zuzudecken; diese goldne Platte dicht genug, daß auch die scharfsichtigsten Augen des Cherubs durch dieselbe das verklagende Gesetz nicht sehen. Die Opfer des Alten Testaments bedeckten keine einzige Sünde wider das Moralgesetz der zehn Gebote, sondern ohne Barmherzigkeit mußte derjenige sterben, welcher der Übertretung desselben überwiesen ward. Das Blut Jesu Christi aber macht von aller Sünde rein. Gleicht ihre Zahl derjenigen des Sandes am Meer und der Haare auf dem Haupte, reicht ihre Größe bis an den Himmel, sind sie mit den erschwerendsten Umständen begleitet, straft sie schon das Schwert der menschlichen, wieviel mehr der göttlichen Gerechtigkeit, sind sie blutrot, dennoch können sie durch dies Sühnopfer also abgewaschen werden, daß sie weiß werden wie Wolle und Schnee. auch die besudelsten Kleider können helle gemacht werden in dem Blute des Lammes. Fand nicht selbst ein Manasse Gnade? Und wo hätte Paulus, diese Lästerer, Schmäher und Verfolger Christi und seiner Gemeine, den Mut hergenommen zu der Frage: Wer will beschuldigen? hätte er den Umfang des Wortes nicht verstanden: Christus ist hier der gestorben ist?

Die dadurch gestiftete Versöhnung ist vollkommen in ihrer Dauer. Das einmalige Opfer ist von solcher Kraft, daß es auf keinerlei Weise wiederholt zu werden braucht, daß es keines Zusatzes bedarf, daß es in Ewigkeit vollendet alle die geheiligt werden, daß es ewiglich auch soviel gilt, wie es in der großen Stunde galt, da es wirklich dargebracht wurde. Fällt, strauchelt jemand, wie wir denn alle mannigfaltig fehlen, so soll er doch durch kein anderes Mittel seine Herstellung und Wiederaufrichtung suchen. Die immerwährende Vertretung und Fürbitte des einigen Hohenpriesters gibt seinem Opfer seine unaufhörliche Wirkung. Stets ist es gleich frisch und wirksam. Denn er ist Priester in Kraft des unauflöslichen Lebens und kann selig machen immerdar, die durch ihn zu Gott kommen, und lebet immerdar und bittet für sie.

Auch diese Wirkungen der Versöhnung sind vollkommen und zuverlässig. Was für eine Menge aus dem verlorenen Haufen des Sündengeschlechts hat nicht eben die Versöhnung durch das Blut Jesu Christi, statt der verdienten Hölle, in den Himmel gebracht? Und ihre Zahl ist noch nicht voll, sondern noch Raum da.

Welch' eine gründliche, vollständige und standhafte Beruhigung schöpft der bußfertige Sünder aus dieser Versöhnung! Er lernst sie nicht so bald verstehen, und seine Sünden verschwinden wir ein Strohhalm in der Glut. Er betrachtet sich nicht mehr wie einen Sünder, sondern wie einen Heiligen, nicht mehr wie einen Strafbaren, sondern wie einen Gerechten. Gott ist ihm nicht mehr ein strenger Richter, sondern ein gnädiger Vater. So vergeblich alle seine frühere Bemühung war, durch des Gesetzes Werk Friede mit Gott und in seinem Gewissen, eine frohe Hoffnung des ewigen Lebens, Trost im Leben und im Sterben zu erlangen, so reichlich fließen sie ihm aus diesem Brunnen zu. Freilich sind diese Wirkungen in ihrer tröstenden sowohl als in ihrer heiligenden Richtung in diesem Leben unvollkommen, abwechselnd, mancher Störung und Unterbrechung unterworfen. Sie sind aber auch nicht für diese Welt berechnet. In ihrer ganzen Fülle werden sie sich erst dort erweisen, wo dieser Friedensstrom alle Schleusen durchbricht und alles überschwemmt. Bis dahin sind wir wohl selig, aber in der Hoffnung; wissend, daß wir einen Bau haben, von Gott erbauet, ein Haus nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel.

II.

Diese vollkommene Versöhnung ist die erste Frucht der Erlösung welche durch Jesum Christum geschehen ist; die andere, wo möglich noch vortrefflichere, ist nach den Worten unseres Textes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, die Gerechtigkeit vor Gott.

So übersetzt Luther. Er hat die Sache erläutern wollen. Wörtlich aber heißt es beidemal: „die Gerechtigkeit Gottes,“ welches offenbar weit nachdrücklicher lautet, als Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Paulus ist der einzige unter den Aposteln, welchem es vorbehalten war, diese große Redensart zu brauchen, und diese tiefe Einsicht zu haben und mitzuteilen, wie er auch sonst verschiedene ihm allein eigentümliche, sehr kräftige Ausdrücke hat, wie z. B. der: Wer nicht wirkt, glaubet aber an den, der die Gottlosen gerecht spricht, dem wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet. Außer einer Stelle im 1. Brief an die Korinther bedient sich der Apostel der Redensart „Gerechtigkeit Gottes“ nur in seinem Briefe an die Römer, in demselben aber mehrmals, und in diesem einzigen Kapitel viermal; als hätte er vorausgesehen, daß die Lehre, welche er vorträgt, eben von Rom aus den heftigsten Widerstand erfahren werde. Es wundert uns aber, und doch wohl mit Recht, daß der teure Mann Gottes, Luther, sich erlaubt hat, die Worte des großen Apostels, „Gerechtigkeit Gottes“ so zu geben, wie er tut: Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Zugleich wundert es uns, daß Calvin ihm zwar in der Übersetzung nicht nachfolgt, sonst aber doch von dem Buchstaben abweicht, und nicht recht weiß, wie er es erklären soll. „Bemerke“, sagt dieser große Mann, „welch einen seltenen und kostbaren Schatz uns der Herr in seinem Evangelio schenkt, nämlich Anteil an seiner Gerechtigkeit. Unter der Gerechtigkeit Gottes aber verstehe ich eine solche, welche vor dem Richterstuhl Gottes für gültig anerkannt wird. Andere erklären es so: Die uns von Gott geschenkt wird. Die erstere Erklärung scheint mir aber schicklicher.“ Luther sagt: „Die Glaubens-Gerechtigkeit heißet darum Gerechtigkeit Gottes, weil Gott sie gibt, und rechnet's für Gerechtigkeit um Christi willen, unsers Mittlers, und machet den Menschen, daß er jedermann gibt, was er ihm schuldig ist. Denn durch den Glauben wird der Mensch ohne Sünde und gewinnet Lust zu Gottes Geboten; damit gibt er Gott die Ehre und bezahlet ihm, was er ihm schuldig ist“, was ja fast mönchisch lautet, wenigstens eine unlautere Vermengung der Rechtfertigung und Heiligung zu sein scheint. Aber große Leute irren und fehlen auch.

Es ist aber zuvörderst gewiß, daß in dieser Stelle unter der Gerechtigkeit Gottes nicht eine göttliche Eigenschaft verstanden wird, sondern ein Gut des Gnadenbundes, eine Gerechtigkeit, wodurch ein Sünder gerecht wird. Sie heißt eine Gerechtigkeit Gottes erstlich, weil sie vor Gott gilt. Gott selbst erkennt sie als echt, als vollwichtig, als feuerbeständig, und denjenigen, der sie besitzt, als gerecht, vollkommen, ohne Flecken und Tadel an. Sie allein ist auch vor Gott gültig. Jede andere ist vor ihm wie ein unflätig Kleid. Von jeder anderen heißt es: Ich will dir deine Gerechtigkeit und deine Werke anzeigen, daß sie dir kein nütze sein sollen. Wer dieser Gottesgerechtigkeit nicht untertan ist, der mag sonst eine Gerechtigkeit, auch auf dem mühsamsten Wege sich zu errichten suchen, der stößt sich an den Stein des Anlaufens und den Fels der Ärgernis.

Eine Gerechtigkeit Gottes heißt sie zweitens, weil sie nicht aus dem Menschen selbst, sondern von Gott ist. Sie läßt sich durch Werke nicht erwerben und ist von keinem unter allen Menschen, von keinem unter allen Heiligen durch Werke erworben worden. Abraham, der als der Vater der Gläubigen an ihrer Spitze steht, wiewohl er nichts ist als Staub und Asche, war schon gerecht, ehe er sich noch dem Gesetz der Beschneidung unterworfen, lange vorher, ehe er sich noch entschlossen hatte, seinen Sohn Isaak Gott zu opfern. Ist er es durch Werke geworden, so mag er allenthalben Ruhm haben, aber vor Gott hat er ihn nicht. Wie wenig dies durch Werke zu erreichen sei, erhellt mit wunderbarer Deutlichkeit aus des Apostels Worten, die er Römer 9, 30-33 schreibt, wo er sagt: „die Heiden, die nicht haben nach der Gerechtigkeit gestanden, haben die Gerechtigkeit erlangt; ich sage aber von der Gerechtigkeit, welche aus dem Glauben kommt. Israel hat dem Gesetz der Gerechtigkeit nachgestanden, und hat das Gesetz der Gerechtigkeit nicht überkommen. Warum das? Darum, daß sei es nicht aus dem Glauben, sondern als aus den Werken des Gesetzes gesucht haben. Denn sie haben sich gestoßen an den Stein des Anlaufens, wie geschrieben stehet: Siehe, ich lege zu Zion einen Stein des Anstoßes und einen Fels der Ärgernis; und war an ihn glaubt, der soll nicht zu Schanden werden.“ Also, nicht aus euch. Gottes Gabe ist es.

Die wahre Gerechtigkeit ist allein von Gott, damit sich kein Fleisch rühme. Sie heißt eine Gottesgerechtigkeit, weil Gott allein die Ehre davon gebührt. Wo ist der Ruhm? Er ist aus. Er ist gerecht und macht gerecht. Unser ganzes Heil stehet lediglich bei ihm, da wir uns selbst nur ins Unglück bringen. Er hat diesen wunderbaren Weg, wodurch Gottlose gerecht werden, erfunden und festgesetzt; er hat ihn auch auf die wunderbarste Weise, durch die Dahingabe seines eingeborenen Sohnes um unserer Sünden willen und dessen Auferweckung um unserer Gerechtigkeit willen, gebahnt und ausgeführt. Für alles gebührt ihm die Ehre, für die Erwerbung wie für die Zueignung des Heils. Die Bestimmung der Personen, die daran Teil haben sollen, ihre Zubereitung zu demselben, ihre wirkliche Bekleidung mit demselben, alles ist sein Werk. Er will Gnade beweisen und tut es.

Endlich aber und hauptsächlich heißt sie Gerechtigkeit Gottes, weil sie das wirklich ist. Derjenige, welcher gerechtfertigt wird, bekommt nicht die Gerechtigkeit eines vollkommenen Menschen, nicht die eines Engels, sondern die eines Gottes, so daß es in dieser Beziehung heißt: Siehe, Adam ist worden als unser einer! Christus ist, wie wahrer Mensch, so der wahrhaftige Gott in einer Person und heißet deswegen: Immanuel. Sein Gehorsam, Genugtuung, Gerechtigkeit und Heiligkeit ist also nicht eine menschliche, sondern zugleich göttlich. Wir können auf eine wahre und vernünftige Weise sagen: Gott sei gehorsam worden, sei gekreuzigt, sei getötet. Was das nun sagen will, wenn es heißt: Wir sind Gerechtigkeit Gottes in ihm, ist etwas ganz erstaunenswürdiges, erhebt den, der das geworden ist, über alle Engel und stellt ihn Gott gleich.

Das ist freilich mehr etwas zum Niederfallen und Anbeten, als zur Spekulation. Kann jemand dies im Glauben fassen, was für süße Früchte der Freimütigkeit zu Gott, der Freude, des Friedens, der Dankbarkeit, der Liebe und des Gehorsams werden daraus ganz von selbst erwachsen!

O daß doch alle falsche Gerechtigkeit in uns zerstört, und die wahre Gerechtigkeit in uns aufgerichtet werde! Amen.

Quelle: Krummacher, G. D. - Gesammelte Ähren

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