Krummacher, Gottfried Daniel - Ich hebe meine Augen auf.

Krummacher, Gottfried Daniel - Ich hebe meine Augen auf.

(Neujahrspredigt 1829)

Meine Aufgabe an diesem ersten Morgen des neuen Jahres ist eine erfreuliche. Ich darf glückwünschend unter euch auftreten, und was kann angenehmer sein? Dies gehört zu meinem priesterlichen Rechte, das ich mir auch heute nicht kann nehmen lassen, und ich rechne dabei auf eure priesterliche Mitwirkung, daß unsere Wünsche so viel Gebete seien. Ich möchte Samuels Worte zu den meinigen machen und ihm nachsagen: Das sei ferne, daß ich sollte ablassen, für euch zu beten und euch Gutes zu wünschen (1. Sam. 12). Laßt uns aber, wie es billig ist, unser erstes Beisammsein an dieser Stätte mit Gebet weihen und heiligen! Es ist so viel und mancherlei, was wir uns zu erbitten haben, und wir möchten so ungern irgend etwas vergessen, daß wir unser Anliegen Gott am liebsten vortragen in den Worten seines Sohnes: Unser Vater u.s.w.

Psalm 123, V. 1-3

Ich hebe meine Augen auf zu dir, der du im Himmel sitzest. Siehe, wie die Augen der Knechte auf die Hände ihrer Herren sehen, wie die Augen der Magd auf die Hände ihrer Frauen, also sehen unsere Augen auf den Herrn, unsern Gott, bis er uns gnädig werde. Sei uns gnädig, Herr, sei uns gnädig!

Diese Worte bezeichnen ein Verhalten und drückten ein Begehren aus, welches sich ungemein wohl für die Gelegenheit des heutigen Tages schickt. Sollen nicht auch wir bei dem Antritt dieses neuen Jahres unsere Augen erheben zu dem, der im Himmel sitzet? Sollen wir nicht auf den Herrn unsern Gott sehen, soll es nicht unser dringendes Begehren sein: Sei uns gnädig, Herr, sei uns gnädig? Laßt uns denn sowohl jenes Verhalten als dieses Begehren in eine nähere Erwägung ziehen und beides zu dem unsrigen machen.

Zuerst beschreibt David sein persönliches Verhalten, wenn er sagt: Ich hebe meine Augen auf zu dir, der du im Himmel sitzest. Er zieht seinen Blick ab von dem Vergänglichen, von der Erde und ihren Gütern, von ihren Drohungen und Gefahren. Hat die Erde ihre Güter und ist sie unleugbar ein Schauplatz, auf welchem sich eine mannigfaltige Freundlichkeit und Güte offenbart, so hat sie auch des Drohenden und Gefährlichen viel. Selbst ihr Angenehmes gehört mit dazu und steht vielleicht unter dem Gefährlichen vorne an, denn es verstrickt und bethört leicht des Menschen Herz und nimmt es also gefangen, daß es für nichts sinn behält als fürs Irdische, Sichtbare und Sinnliche. Das ist aber ein großes Unglück, mag's auch nicht dafür gehalten werden, und zieht die Verdammnis nach sich. Die Güter, die Zerstreuungen, die Ergötzlichkeiten der Erde bieten dem glückseligkeitsbedürftigen Menschen einen täuschenden Ersatz für den Mangel der allein sättigenden Gemeinschaft mit Gott an und füllen die Leere, die in ihm ist, mit einer Art von Träbern, wovon er nicht satt werden kann. Sei aber in der Welt, was es immer sei, so heißt es doch: „Habt's nicht lieb, denn wer die Welt lieb hat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters.“ David blieb nicht daran hangen. Er spricht: Ich hebe meine Augen auf. Laßt uns das auch thun! Neben diesem Angenehmen enthält die Welt offenbar viel Gefährliches und Drohendes. Ist sie dir kein Jammerthal, sie kann's wenigstens für dich plötzlich und in einem hohen Maße werden. Hier ist wenigstens alles unsicher. Was das vergangene Jahr war, wissen wir; was das seit einigen Stunden angetretene uns bringen wird, wissen wir nicht, und hinge es von uns ab, wir sollten mit zögerndem Fuße dastehen, nicht wissend, sollen wir ihn voransetzen, sollen wir's nicht. Ein Schleier hängt vor uns, und nur indem die Zeit voranschreitet, weicht er zurück, und es tritt in die Wirklichkeit, was der ewige, undurchdringliche Ratschluß Gottes bestimmte, und kein Menschenblick erspähet. Und was haben denn alle Dinge der Erde eigentlich auf sich? Der Scharfschütze, welcher Tod heißt, wird auch dieses Jahr zielend umhergehen und keinen verfehlen, den er aufs Korn nimmt. Es müssen dran reich, jung, gelehrt, schön, jedermann. Keiner weiß es im voraus, ob er auf ihn ziele. Ich kann's sein, du auch, und was dann? Was wird uns dies Jahr im ganzen bringen? Wie wird's dem einzelnen gehen? Wird dein Wohlstand fortdauern? Wird unsere Stadt fortfahren, zu blühen? Wird deren Wohlstand fortdauern? Ist auch für dies Jahr den unheilbringenden Flammen untersagt, sie zu verwüsten? Seid ihr wahre Christen, so seid ihr freilich gesichert und seid auch nicht gesichert. Muß alles euch dienen, so kann alles euch treffen. Kann euch niemand aus seiner Hand reißen, so mag jeder an euch zupfen. Fällt sein Bund nicht hin, Berge und Hügel können es aber; Leib und Seele können verschmachten. Hier ist nicht gut sein. Wind, Regen stürmen auf mich zu. Seid ihr's nicht, wehe euch alsdann!

David redet von seinen Augen. Ein Bild des Verlangens und Sehnens, ein Bild des Hoffens, ein Bild des Vertrauens. Ohne dies ist niemand und kann niemand sein. Ist nicht der Mensch voll Begierden, die gesättigt sein wollen, und deren ganze Erfüllung sein wirkliches oder vermeintliches Glück ausmacht? Sie sind wie die Segel an einem Schiff und wie der Wind, der drein bläset; sitze Gott am Ruder oder der Satan, sei die Gottseligkeit der Kompaß oder die Sünde, zerschellende Klippen das Ziel oder der Hafen der Ruhe. Kein Herz ohne Sehnen, richtet es sich auch nach der guten oder bösen, geistlichen oder fleischlichen Beschaffenheit, die es angenommen hat. Freilich, so lange es nicht zusammengefaßt ist in der Liebe, so lange es nicht vereinigt ist in der Furcht des Herrn, treibt's sich umher wie ein Kreisel auf der Erde. Es malt sich allerhand Bilder: Hätte ich dies, besäße ich jenes, würde mir's so gut, während des Frommen Seele spricht: Der Herr ist mein Teil, wenn ich nur dich habe!

Ohne Hoffnung ist niemand. Sie ist's, die ihn belebt und aufrecht erhält. Mit ihr fällt alles, und sie ist wie der Puls und der Atem des Lebens. Durch sie gewinnt der trübe Tag einen heitern Schimmer, und der heitere verschönert sich durch sie. In das Gewirre weiß sie eine Ordnung zu bringen und reicht einen Faden dar, um sich an seiner Leitung aus dem Labyrinth herauszufinden. Was ihr die Gegenwart versagt, spiegelt ihr die Zukunft vor, und wenn dieser Augenblick kein Mittel weiß, erwartet sie es vom folgenden. Wie es dem Schiff nicht am Anker, so mag's uns nicht an Hoffnung fehlen, mögen auch gerade nicht unerhörte Stürme ihn in See zu lassen gebieten, sondern er meistens auf dem Verdeck ruhen. O dreimal glückliches Volk, das den sichern und festen Anker hat, der hineingeht in das Inwendige des Vorhanges, wohin Jesus für uns eingegangen ist!

Ohne Vertrauen ist's eben so unmöglich zu sein als ohne Sehnen und Hoffen. Auch natürlich betrachtet giebt's kein Leben ohne Glauben, ohne Vertrauen. Ich rede von euerm Handel nicht, welcher ja mit dem Glauben, den ihr Kredit nennet, enden müßte. Auch die innigsten Familienbande verdanken nur dem Glauben ihre Innigkeit und lösen sich mit demselben auf. Je innigeres Vertrauen, desto herzlichere Liebe, desto größeres Einssein. Aber auch im ganzen können wir abhängige, uns selbst nicht genugsame Geschöpfe nicht ohne Vertrauen sein, sei es ein gottloses und verfluchtes Vertrauen auf andere Menschen, auf unsern Fleiß, Verstand und Kraft, auf unser Vermögen, sei es ein heiliges Vertrauen, welches sagt: Du bist unsre Zuversicht.

Bei unserm Dichter war's heiliger Art, dies Sehnen, Hoffen, Vertrauen. Er sagt: Ich hebe es auf zu dem, der im Himmel sitzet. Wer der sei, der im Himmel wohnt, spricht von selbst. Er hat aber seine Gründe, warum er am liebsten seines Wohnens im Himmel gedenkt. Hienieden durchkreuzt sich alles wunderbar im großen wie im kleinen. Es ist überall eine unruhige Beweglichkeit und Treiben, nichts Festes, sondern ein Meer, dessen Wellen vom Winde gewebet, nicht still sein können, sondern Kot und Unflat auswerfen. Es wohnt aber einer im Himmel. Er wohnt da in majestätischer Herrlichkeit und kraftvoller Ruhe, erhaben über alle Pläne der Menschen, über alle ihre Unternehmungen. In seiner Hand sind alle Kräfte Himmels und der Erden, ein Fels ewiglich, gerecht und fromm ist er, und alle seine Werke sind unsträflich. Er hat den Himmel ausgebreitet wie ein dünnes Fell. Die Inseln sind wie ein Stäublein vor ihm, und alle Völker wie ein Tropfen, der am Eimer klebt. Er, er ist König. Er regiert die Welt. Er sieht auf alle Menschenkinder, von seinem festen Throne lenkt er ihnen allen das Herz und merket auf alle ihre Wege. Hier ruft er die Sterne mit Namen und führt sie bei der Zahl heraus, daß nicht an einem fehlen kann. Dort giebt er dem Vieh sein Futter, den jungen Raben selbst, die ihn anrufen. Hier lenkt er eines Königs Herz wie die Wasserbäche und neiget's, wohin er will, dort kleidet er Lilien mit mehr als salomonischer Pracht, ordnet das Los, schützet die Sperlinge, versetzt Berge, ehe sie's inne werden, spricht zur Sonne, so geht sie nicht auf, versiegelt die Sterne und durchschauet alle Lande, daß er stärke die, so von ganzem Herzen an ihm sind, höret die Seufzer der Gefangenen und spricht mit den Müden ein Wort zur rechten Zeit. Alles geht nach seinem Geheiß, und weil er so groß ist, ist ihm nichts zu groß oder zu klein, zu unbedeutend oder zu wichtig. Zu ihm hob David seine Augen auf, und dann sah er alles in geregelter Ordnung bei aller scheinbaren Regellosigkeit, bei aller Ungebundenheit eine genaue Leitung, keinen Zufall, sondern überall Zweck und Absicht, wenngleich nicht immer zu enträtseln. Und diesen König zum Vater, diesen Vater am Regiment zu haben, welch' ein Trost! Welch' ein erwünschtes Angebinde zum neuen Jahr! Im Himmel wohnt der Allgenugsame, welcher allein allen genug ist. Was wir im Leiblichen, was wir im Geistlichen irgend bedürfen, ist in ihm zu finden, ist von ihm zu haben. Reicht ist er über alle, die ihn anrufen, und kann überschwenglich thun über Bitten und Verstehen; als die nichts haben und doch alles innehaben.

Im Himmel wohnt insbesondere unser Freund und Herr, Jesus Christus. In seinem Namen denn getrost den Fuß aufgehoben und auf das ungewisse Meer dieses neuen Jahres gesetzt! Herr, auf dein Wort, sagen wir mit Petro. Mögt ihr Weltkinder mit seltsamem Leichtsinn aus einem Jahr in das andere übergegangen sein, mögt ihr meinen, eure Sache gut gemacht zu haben, wenn ihr mit Geschrei und Getümmel beginnet und schließet, wir nicht also. Das Jahr, das hinter uns liegt, rührt uns durch seine Wohlthaten, beschämt uns durch seine Fehler, demütigt uns durch seine Sünden, mahnt uns an Abrechnung. Das Jahr, da sich vor uns auszudehnen beginnt, tritt uns entgegen als ein Kampfplatz, wo gestritten, als ein Kreuz, wo gelitten, als eine Schule, wo gelernt werden muß. Es tritt uns entgegen mit allen seinen Versuchungen, der Satan an ihrer Spitze; mit seinen Gefahren, die Hölle in ihrem Gefolge; mit seinen Aufgaben und Pflichten. Wir, wir treten ihm entgegen, mit gebrochener Kraft, mit gelähmtem Arm, mit einem verräterischen Herzen, wehrlos wie Schafe mitten unter Wölfen. Aber nun heben wir auch unsere Augen auf zu unserm Herrn Jesu Christo. Dieser eine ist not und ist genug. Weniger reicht nicht aus, mehr bedarf's nicht. O herrlicher Blick auf ihn„ Haben wir ihn doch im Himmel als einen Fürsprecher bei dem Vater, auf daß, ob auch jemand sündigte, es doch nicht gleich gar mit ihm aus wäre; haben wir ihn doch als unser Fleisch zu einem sichern Pfande, daß er als das Haupt uns, seine Glieder, werde zu sich hinaufnehmen. Ist er selbst doch, wie unsre Weisheit, so unsre Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung. Dieser Heiland hat das große Werk unsrer Seligmachung auf sich genommen. Dieser Hirte wird uns pflegen, wenn wir anders seine Schafe sind. Dieser Pfleger der himmlischen Güter wird uns nicht verhungern lassen. In seinem Namen gehen wir denn getrost auf unsere Feinde los, im Namen des Herrn wollen wir sie zerhauen; auf die Versuchungen los, in allem überwinden wir weit. Sind wir schwach, so sind wir stark in ihm. Von oben herab die Dinge hienieden angesehen, erscheinen sie ganz anders.

Derjenige, der im Himmel wohnt, ist der teure heilige Geist. Die meisten unter euch betrüben ihn mit ihrer Unbußfertigkeit, dämpfen ihn, damit er nicht durchbreche, widerstreben ihm, weil sie ihn hassen, und haben das schon so lange gethan, daß sie einer völligen Verstockung nahe oder schon anheimgefallen sind. Ihr wollt den heiligen Geist nicht, so wird er ferne von euch bleiben. Diese reine Taube flieht den Stank eurer Sünden. Wir aber, wir heben unsere Augen bei diesem Jahreswechsel mit besonderer Sehnsucht, Hoffnung und Vertrauen zu ihm empor. Diese Himmelstaube schwebe, mit dem Ölblatt des Friedens im Munde, über uns hernieder! Er verkläre uns unsern Herrn Jesum, nehme es von dem seinigen und verkünde es uns“ Von ihm gerieben, werden wir der rechten Spur nicht verfehlen; von ihm getröstet, werden wir nicht verzagen, von ihm gestärkt, das Feld behalten.

Wer wäre denn unter uns, welcher die Dinge einigermaßen richtig wägt, der dieses neue Jahr nicht von Herzen mit Davids Worten anträte: Meine Augen hebe ich auf zu dem, der im Himmel sitzet. Zu ihm richtet sich mein Sehnen. Nach dir, Herr, verlanget mich. Auf dich hoffet meine Seele. Auf dich, Herr, traue ich, laß mich nimmermehr zu Schanden werden!

Was der gottselige Psalmist im ersten Vers für seine eigene Person sagt, das breitet er in dem folgenden auf andere, ihm gleich Gesinnte aus und wiederholt es noch einmal unter einem zweckmäßigen Bilde. Siehe, sagt er, weil er's wohl Wort will haben, daß er also gesinnet sei, siehe, wie die Augen der Knechte auf die Hände ihrer Herren, und die Augen der Mägde auf die Hände ihrer Frauen, also sehen unsere Augen auf den Herrn, unsern Gott. Er entlehnt sein Bild aus dem Hausstande, wo es Herren und Frauen, Knechte und Mägde giebt. Nicht stellt er sich und seine Freunde unter dem Bilder der Herren und Frauen, sondern dem der Knechte und Mägde vor. Jenes stellt etwas vornehmes, dieses aber etwas geringeres und niedriges dar, zumal nach der damaligen Beschaffenheit dienender Personen, welche nicht, wie bei uns, freie Leute waren, sondern Sclaven, die man wie sonstiges Eigentum erworben hatte und besaß. Ihr Verhältnis drückt er in den Worten aus: Die Augen der Knechte sind auf die Hände der Herren, die Augen der Mägde auf die Hände der Frauen gerichtet. Sie bezeugen damit ihre Abhängigkeit, ihre Folgsamkeit, ihr Vertrauen. Sie erwarten die Winke und Befehle, sowie den Schutz und die Versorgung ihrer Herrschaft, der sie sich selbst, ihr Schicksal und Willen unterworfen. Liegt in diesem Bilde nicht wirklich eine ganz treffende und zweckmäßige Anweisung, wie zu unserm Verhalten überhaupt, so namentlich zu einem solchen, wie es sich bei einem Jahreswechsel, wie heute ziemt? Was steht uns besser an als Niedrigkeit und Demut? Petrus läßt sich in seiner ersten Epistel herab, von dem Putz der Weiber in Haarflechten, Goldumhängen und Kleiderpracht geringschätzig zu reden und ihnen zu empfehlen, ihren Schmuck nicht darin zu setzen. Aber gegen den Schluß seines Briefes sagt er: Ziehet die Demut an, empfiehlt sie als eine wahre Zierde, die sogar Gott angenehm ist. Wie übel steht's uns an, hochherzufahren und von uns selbst, unserm Wissen, Haben und Können eine selbstgefällige Meinung zu haben; wie nachteilig ist es uns! Schon den Menschen mißfällt es, und Gott widersteht solchen. Haben wir doch auch nicht den geringsten Grund dazu, irgend groß von uns zu halten. Gesetzt auch, jemand zeichnet sich noch so vorteilhaft vor den meisten übrigen aus, sei es auch wodurch es wolle, ist es nicht Empfangenes, und wird nicht die Frage an ihn gestellt werden mögen: Was hast du, o Mensch, das du nicht empfangen hast? Stellen wir uns in das Licht des göttlichen Worts, welch' einen niedrigen Rang weiset es uns an, sogar daß Christus uns vorhält, wir könnten kein Haar schwarz oder weiß machen, und dann hinzusetzt: So ist nun das Geringste nicht vermöget, warum sorget ihr für das Andere? Sein Apostel aber spricht uns sogar die Tüchtigkeit ab, aus uns selbst auch nur etwas zu denken. Aber das gilt schon von uns als Geschöpfen, welche Knechtsgestalt wird sich vollends für uns geziemen, wenn wir erwägen, daß wir Sünder und als solche strafwürdig sind. Wie gebeugt werden wir von diesem Standpunkt aus auf- oder vielmehr nieder zu sehen haben, und wenn wir bedenken, daß der Herr selbst um unsertwillen ein Knecht, zur Sünde, ein Fluch ward, wo werden wir denn eine für uns und einem solchen Herrn gegenüber sich geziemende Beugung, Demut und Niedrigkeit finden, wo sie hernehmen? Ich weiß sehr wohl, daß diese Demut, wenn sie mit Sündenerkenntnis dasselbige wird, der aufgeblasenen Natur der Menschen nicht gefällt, es bleibt aber des ungeachtet ausgemacht, daß es ohne dieselbe niemand gelingen wird. In Absicht eurer irdischen Angelegenheiten habe ich euch keine Anweisung zu erteilen, kann euch aber auch in dieser Beziehung aus dem göttlichen Worte sagen, daß das unüberwindliche Babylon seinen Sturz, das reiche Tyrus seinen Untergang, und Sanherib seine Niederlage nur durch Stolz herbeizog. Ein wahrer Christ aber und folglich selig wird niemand als auf der Bahn der Demut. Wer sich im Voraus dafür tauglich hält, wird zu nichts gelangen, wer aber als ein niedriger Sklave aufblickt, wird gesegnet werden. laßt uns dies neue Jahr mit neuer Niedrigkeit, mit neuem Verzagen an uns selbst beginnen, so werden wir mit Davids Freunden sagen können: Wie die Augen der Knechte auf die Hände ihrer Herrn, also sehen unsre Augen auf den Herrn, unsern Gott!

Daran reiht sich die Abhängigkeit, welche ebenfalls in diesen Worten liegt. Der Knecht sieht auf die Hand seines Herrn, um von ihm Schutz und Versorgung zu empfangen, was er an Nahrung und Kleidung bedarf. Wir können nirgend etwas nehmen, es werde uns denn gegeben vom Himmel. Im Natürlichen schon wird Salomo Recht behalten, daß zum Laufen nicht hilft schnell sein, zum Streit nicht hilft stark sein, zur Nahrung nicht, daß jemand geschickt, und zum reich werden nicht, daß jemand klug sei. Vollends im Geistlichen liegt es nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. Den Kindern Israel regnete Manna in die Wüste, aber immer nur für einen Tag, damit sie stets abhängig von dem Herrn blieben. Wollen wir, denen an unserm geistlichen Wohlstande das meiste gelegen ist, denselben unversehrt durch die Gefahren der Zeit durchdringen, so laßt uns als Arme ganz vom Herrn und seiner Gnade abhängen, so wird der, der uns gerufen hat, es auch thun, weil er treu ist. Wes wollen wir uns sonst getrösten? Wir hoffen auf dich. Wie zweckmäßig würden wir dies Jahr antreten, wenn wir den Knechten glichen, welche auf die Hände ihrer Herren sehen, um mit Folgsamkeit ihre Winke und Befehle entgegen zu nehmen. O, daß derer so unmäßig viele sind, denen man noch immer sagen muß: wie lange stehet ihr müßig am Markte, wo es doch schon fast Abend geworden ist! Freilich betriebsam und geschäftig genug in irdischen Dingen, wiewohl auch darin häufig noch zu leicht. Sonst aber ein Leben ohne Zweck, weil es ohne Gott ist, ohne höheres Bedürfnis, ohne wahres Gut, den regenlosen Wolken gleich, gestaltlos, ziehend wohin ein zufälliger Luftzug sie hinnimmt, irrend wie Schafe! Ist denn die Ewigkeit nicht eure Bestimmung, und ihr rüstet euch gar nicht? Ihr wollt zur See fahren ohne Steuer und Kompaß, wollt ohne Heimat, ohne Vaterland bleiben? Mahnt euch denn ein neues Jahr weder an Vergangenheit noch an Zukunft, und gräbt sich der Gedanke so gar nicht in euer Herz, daß es nicht immer so fortgeht, daß ihr zuletzt kein Neujahr mehr habt? Bewegt euch das zu nichts? O, daß einer wäre, der euch überredete, und ihr euch überreden ließet, der euch zu stark würde und übermöchte, daß ihr auch riefet: Rede Herr, dein Knecht höret! Das hieße ein gesegnetes neues Jahr feiern, das nie ein anderes als das herrlichste Ende nähme. O, daß du auf meine Gebote merktest, so würde dein Friede sein wie ein Wasserstrom, und deine Gerechtigkeit wie Meereswellen. Alsdann sehet voll Vertrauen auf die Hände des Herrn eures Gottes! Wer oder was wird euch schaden können, wenn ihr dem Guten nachkommt? Ohne Kreuz und Proben werdet ihr und mußt ihr nicht bleiben. Es kann euch wohl bange werden. Selbst euer Vertrauen kann zu Zeiten eher einem glimmenden Docht als einer brennenden Fackel gleichen, aber auch da muß euch heilsam werden. Ach, der Glaube fehlt auf Erden. Wär' er da, müßt' uns ja, was uns not ist, werden. Wer Gott kann im Glauben fassen, der wird nicht, wenn's gebricht, von ihm gar verlassen. So glaubet denn und vertrauet dem Herrn aus aller Macht, indem ihr euch selbst euren Willen und euer ganzes Schicksal zugleich ihm ergebet! So ein neues Jahr antreten, hieße, es auf eine christliche Weise antreten.

Daran nun reihet der Psalmist ein Gebet, das wir alle Ursache haben stets, sonderlich heute, zu dem unsrigen zu machen. Sei uns gnädig, Herr, sei uns gnädig! Dies war's, warum sie ihm so nach den Händen sahen. Sie begehrten ein Geschenk, und das war seine Gnade. Sei uns gnädig, Herr, rufen sie, und abermal: Sei uns gnädig! Solch' ein Ernst ist es ihnen, einen so hohen Wert setzen sie darauf, so scheint ihnen alles darin enthalten: Sei uns gnädig, Herr, sei uns gnädig! Und sollen nicht auch wir dies zu unserm Gebet machen, zu unserm Gesuch, zu unserm Wunsch?

Sehet da, aller Güter Ursprung, Gipfel und Weise! Sehet da, alles in einem! Habt ihr dies, was mangelte es euch noch? Mangelt's euch, was hättet ihr und besäßt ihr zehn Königreiche? Sehet da, ein würdiges Ziel eures Treibens! Ist's das auch nicht, so seid ihr aus nichts, und all euer Thun ist nichts. Sehet da, ein Licht! In seinen Strahlen werden Purpur und Kronen Tand, und man würde sie dagegen nicht aufnehmen, und fände man sie auf der Straße. Sehet da, den Himmel selbst mit aller Seligkeit und Herrlichkeit! So sei denn die Gnade unsers Herrn Jesu Christi mit uns allen!

Mit diesem Wunsch darf ich mich mit aufgerichtetem Haupte wenden an die erhabene Fürstin und Freie, an die Mutter aller Lebendigen, an das Weib mit der Sonne bekleidet, und den Mond unter ihren Füßen, und auf ihrem Haupte eine Krone von zwölf Sternen, an dich, du gefeierte Kirche Gottes, Braut seines Sohnes, die er selbst geliebet hat und sie gemacht zu einem königlichen Priestertum. Heißest du nicht Ruhama, die Begnadigte? Denn was ist dein Grund, was ist dein Ruhm, was ist deine Reinheit, deine Speise, deine Freude, dein Leben, deine Herrlichkeit? Gnade! Sei uns denn gegrüßet, du Holdselige voller Gnade! Sie sei dir vermannigfaltigt. Wie ein fette Tau senke sie sich am meisten herab auf diejenigen deiner Glieder, die dir sonst am übelsten anstehen würden! Und indem diese alle versammelt zu dir kommen und fliegen wie die Wolken und wie die Tauben zu ihren Fenstern, müsse auch deinen Traurigen Schmuck für Asche und Freudenöl für Traurigkeit und schöne Kleider für einen betrübten Geist gegeben werden, daß sie genannt werden Bäume der Gerechtigkeit, Pflanzen des Herrn, zum Preise! Mache dich auf und werde Licht! Erscheine bald in deiner Herrlichkeit! Breite deine beseligende Herrschaft aus über die ganze Erde, daß Könige deine Pfleger, und Fürstinnen deine Säugammen seien, daß sie kommen und anbeten zu deinen Füßen und bekennen daß der Herr dich beliebet habe; daß die Erde voll werde von Erkenntnis des Herrn, wie vom Wasser des Meeres bedeckt!

Sei uns gnädig, Herr, sei uns gnädig! Mit diesem Wunsch und Gruß zum neuen Jahr, darf ich mich ohne Schüchternheit Sr. Maj. dem Könige, unserm irdischen Herrn, nahen und seinem erhabenen hause, seinen Räten, seiner Armee und seinen Dienern. Denn auf seinen Schwingen trägt unser Gruß nicht Hohes, sondern das Allerhöchste, nicht Gewöhnliches, sondern das Allerseltenste, nicht Nützliches, sondern etwas durchaus Notwendiges, nichts zu Erwirkendes, sondern eine Gabe. Heißen sie Gnädige, mögen sie auch Begnadigte heißen, denn das gilt mehr. Dann werden sie ihre Hoheit nie verlassen müssen, sondern die rechte Herrlichkeit wartet noch auf sie.

Gnade sei in reichem Maße ausgegossen über das teure Amt das die Versöhnung predigt! Gelobt sei unser Bischof im Himmel, der in neuerer Zeit sich wiederum viele erwecket hat, die seinen Namen predigen, und die das beinahe bestaubte und vergessene teure Evangelium wieder als ein Licht auf den Leuchter stellen, mögen auch vieler kranke Augen es nicht erleiden können, darüber schreien und sich fest davor verschließen oder es gar auslöschen wollen! Der Herr sende ganze Scharen Evangelisten und gebe seinem Worte große Kraft, daß die Befestigungen des Unglaubens und des Ungehorsams davor stürzen müssen, das Gebäude des geistlichen Tempels aber herrlich emporsteige! Die Sonne der Gerechtigkeit breche mit Macht durch die sich wider sie türmende Gewölke und zerstöre alle Werke des Teufels! Sie steige bis zu ihrer Mittagshöhe! Des Mondes Glanz müsse sein wie der Sonnen Glanz, und der Sonnen Glanz werde siebenmal heller denn jetzt! Ja die Sonne müsse uns des Tages nicht scheinen, noch der Mond des Nachts, sondern der Herr selbst sei unser ewiges Licht! Gnade sei ausgegossen über das teure Missionswerk! Es sei wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt und wie ein Keil, der unaufhaltsam durchdringt! Des Herrn Gnade verbreite sich über ihre Vorbereitung und zu allem, was die Förderung des Gnadenregiments bezweckt! namentlich walte des Herrn Gnade über das evangelische Lehramt und die Diener desselben bei dieser Gemeine! Sie leuchte ihrem Verstande, sie fülle ihre Herzen mit Glauben, Liebe und Trost, sie räume alles Hemmende aus dem Wege und lasse ihre Arbeit eine reichlich gesegnete sein!

Wie die Augen der Knechte auf die Hände ihrer Herrn, so sehen auch wir auf den Herrn unsern Gott, daß er gnädig herab blicken wolle auf unsere Stadt und kirchliche Gemeine. Seiner Huld empfehlen wir die geehrte städtische Obrigkeit, empfehlen wir das Handlungstribunal hierselbst, seinen Präsidenten, die Richter und Beisitzer, daß daselbst, wie an den übrigen Stätten der Justiz, Recht und Gerechtigkeit gehandhabt, Treue und Wahrheit geschützt und gefördert werde. Seiner Huld empfehlen wir absonderlich unsern ehrwürdigen kirchlichen Vorstand, das jene und dieser das wahre Wohl der Gesamtheit wesentlich fördern Gesteuert werde dem, nach der Oberhand strebenden, Leichtsinn und Sittenverderbnis, dem heidnischen Schwelgen und wüsten Leben, der schamlosen Entweihung der Sonn-, Fest- und Feiertage, von was für Personen sie ausgehen, und wie sie geschehen, durch Arbeit oder Lust und was sonst guter Sitte zuwider! Unser kirchlicher Vorstand nehme den Gruß unserer Achtung und Liebe gern an! Er lasse sich auch fortan, wie bisher den kirchlichen Flor herzlich angelegen sein und empfange dafür Segen aus der Höhe und die Freude zu sehen, wie alles herrlich und löblich zugehe! Die höhern und niedern Schulen seien nicht Pflanzstätten blähenden, ungeschlachten und glaublosen Wissens, sondern Pflanzschulen des Gehorsams, der Weisheit, der Bescheidenheit und Sitte, Unterpfänder einer blühenden Zukunft in Kirche, Staat und Heer!

Dir, du treue Gemeine, wünschen wir alles in einem und in einem alles, wenn wir über dir schreien: Gnädig sei dir der Herr, der Herr sei dir gnädig! O, du köstliche Gemeine, wie sollen wir dem Herrn genugsam über dir danken für all' das Gute, was er dir gethan hat, täglich thut und künftig gewißlich thun wird! O du ausgezeichnete Gemeine, wie wenig hast du in hundert Hinsichten deines Gleichen, hast du anders überhaupt deines Gleichen! Mit einem ehrerbietigen Schauer sehe ich dich an, du teure Gemeine. Welch' teure Schaar ist schon von diesem Acker in die himmlische Scheune als ein köstlicher Weizen gesammelt und steht triumphierend an des Lammes Thron, während eine nicht geringe Zahl dieser herrlichen Einerntung unter Sonnenschein und Regen entgegenreist! Wenige Familien sind in dir, aus denen nicht einige, und manche woraus mehrere der Familie Gottes einverleibt sind. Welch' ein Adel! Wie viele Streiter Jesu Christi hast du noch in deinem sichtbaren Schoß, und unter demselben viele Jünglinge und Jungfrauen, als so viel liebliche Weissagungen, daß der Herr auch fortan sein Feuer und Herd unter dir haben wolle! Zwar giebt's auch vieles zu klagen, zu schelten, zu wünschen, zu besorgen, zu bitten, doch sind deren auch, die um Josefs Schaden leidtragen. Der Herr sei uns gnädig, der Herr sei uns gnädig! So komme er über euch, die ihr bis jetzt fern waret! Dies Jahr sei euch ein Jahr der Trauer, aber der Traurigkeit nach Gott; der Armut, aber am Geist, des Schmerzes, aber nicht des Körpers, dem wir Gesundheit, Hülle und Fülle gönnen, sondern des Schmerzes eines geängsteten und zerschlagenen Herzens; ein Hungerjahr, aber nicht nach Brot, sondern nach dem lebendigen Wort, ein Sterbejahr für den alten Menschen! Als ein gnädiger Herr komme er zu euch, ihr Unentschlossenen und Wankelmütigen, ihr beinernen Esel, wie Isaschar, denen die Ruhe, die sie am Volke Gottes sehen, wohl gefällt, die ihr aber zwischen den Grenzen schwebt und Gott und der Welt zugleich dienen wollt, daß ihr nicht mehr auf beiden Seiten wanket, sondern rufet: Der Herr ist Gott, der Herr ist Gott! Er komme besonders zu euch, ihr Bekümmerten, daß euch Schmuck für Asche, und Freudenöl für Traurigkeit gegeben werde! Er komme über euch, ihr Alten, daß ihr im Hause des Herrn gepflanzt, in seinen Vorhöfen grünen mögt wie die Palmen und Bäume am Wasser gepflanzt, eure Früchte bringet zu seiner Zeit, daß ihr euch nicht fürchten dürft, wenn ein dürres Jahr kommt! Er sei also mit euch, ihr Jünglinge, daß das Wort Gottes in euch bleibe und ihr stark seid und habt den Bösewicht überwunden! Also sei er mit euch, die ihr fortan kein Neujahr mehr feiern werdet!

Sei uns gnädig, Herr, sei uns gnädig!

Amen. Amen.

Quelle: Krummacher, G. D. - Gesammelte Ähren

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