Krummacher, Gottfried Daniel - Christus, der Helfer

Krummacher, Gottfried Daniel - Christus, der Helfer

„O du Trost Israels und ihr Nothelfer!“ Mit diesen lieblichen Worten redet der weinende Prophet Jeremia den Herrn an, (Jer. 14,8) und wollten wir sie noch eigentlicher übersetzen, so hieße es: „O Israels Erwartung, sein Erlöser zur Zeit der Zeit der Not!“ Es ist doch in der Tat ungemein lieblich, daß wir dem allgenugsamen Gott in Christo Jesu solche Namen geben dürfen. Die Gemeine der Gläubigen drückt in diesen Worten dreierlei aus: Erstlich tiefe Armut des Geistes: von sich selbst erwartet sie kein Heil. In uns ist keine Kraft, kein Licht, kein Mut, keine Weisheit, noch Heil; auf dich sind wir hingeworfen, auf dich sehen unsere Augen. Dagegen bezeugt die Gemeine in diesen Worten die Allgenugsamkeit des Herrn: O du Erwartung Israels usw. In dem Herrn haben wir Gerechtigkeit und Stärke. Christus ist gekommen, daß seine Schafe Leben und volle Genüge haben. In ihm ist eine Fülle, die nicht versiegt, und aus derselben haben wir genommen Gnade um Gnade. Das Wasser, das er gibt, wird in dem Menschen ein Quell des Wassers, der in das ewige Leben quillet. Das Mastvieh ist geschlachtet, die Tafel zugerichtet, der köstliche Wein bereitet, alles in der größten Mannigfaltigkeit und Überfluß vorhanden; Raum genug da, auch für anständige Kleider gesorgt, alles, alles bereitet, und es heißet nur jetzt: Kommt, kommt! Sind nur Arme da, sie können reich, Hungrige, sie können satt werden. O, herrlicher Überfluß! Herzen her! Herzen her! - Die Gemeine der Gläubigen bezeugt mit diesen Worten: O, du Erwartung Israels, sein Erlöser zur Zeit der Not, ihr Vertrauen. Herr, was sollt' bei dir uns fehlen! Je mehr wir unsere Armut empfinden, desto mehr Freude macht es uns, weil der Herr desto mehr Gelegenheit hat, seinen Reichtum an uns zu verherrlichen. Je ohnmächtiger wir in uns sind, desto lieber ist es uns, weil seine Kraft desto mehr mächtig bei uns sein kann. Je ratloser in uns selbst, desto besser kann sich unser Heiland an uns als derjenige erweisen, der Rat heißt. Wenn ich schwach bin, so bin ich stark; also kann man auch sagen: Wenn ich töricht bin, so bin ich klug usw. Wer ist weise, der dies verstehe, und klug, der dies merke?

Du Erlöser zur Zeit der Not! so wollen wir Jesum in unserer ferneren Betrachtung anseh'n.

Jesus sprach: Hebet den Stein ab. Spricht zu ihm Martha, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinket schon; denn er ist vier Tage gelegen. Jesus spricht zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen? Da hoben sie den Stein ab, da der Verstorbene lag. Jesus aber hob seine Augen empor und sprach: Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast. Doch ich weiß, daß du mich allezeit hörest; sondern um des Volks willen, das umher stehet, sage ich es, daß sie glauben, du habest mich gesandt. Da er das gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazare, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Angesicht verhüllet mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: Löset ihn auf und laßt ihn gehen.

Joh. 11,39-44

Zion, freue dich, denn siehe, dein König kommt zu dir, ein Helfer.

Das ward der alten Kirche zu ihrer Aufmunterung durch den Propheten Sacharia zugerufen, lange vorher, ehe dieser König wirklich erschien. Es wird auch uns zugerufen, nachdem er schon längst erschienen ist, und kann und soll uns um so erfreulicher sein, je mehr wir eines Helfers bedürfen. Ein Helfer! Lieblicher Titel dieses Königs! Aber arm, und so arm, daß, wenn er auf einen Esel reitet, es noch dazu ein geliehener ist. Er ist aber doch ein Meister im Helfen, so offenbarte er sich hier am Grabe seines Freundes, so will er sich noch offenbaren und tut es wirklich an den Seinigen. Er hilft den Seinigen herrlich. Das wollen wir an dieser Geschichte sehen.

Erstlich fragen wir, welche Menschen Jesus als die Seinigen betrachtet? Wer kann richtiger darauf antworten, als Jesus selbst! Er fragte auch einst (Mark. 3,33): Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? und antwortet: Wer den Willen Gottes tut, der ist mein Bruder, meine Schwester und Mutter. Fragen wir weiter: Was ist denn der Wille Gottes? So antwortet uns Johannes: Das ist der Wille Gottes, daß wir glauben an den Namen des eingebornen Sohnes Gottes und lieben uns unter einander. Diese betrachtet und liebet er, wie Bruder und Schwester, wie es auch in diesem Kapitel heißt: Jesus hatte Martha lieb und ihre Schwester und Lazarus. Martha tadelte er, aber dieses war auch Liebe. Denn wir müssen wissen, daß Jesus die, die er lieb hat, nicht an einem fort tröstet und erfreuet, sondern er stäupet und züchtiget sie auch, wenn ihnen das nützlicher und notwendiger ist. Die gelobte Maria mußte jetzt eben so bitterlich weinen als die getadelte Martha, und wenn sein Demütigungsstündlein da ist, so fährt er seinen liebsten Kindern oft am schärfsten durch den Sinn, weil daraus eine desto reifere Frucht entsprießt. Du betrübest Israel wohl mit dem rauhen Winde, heißt es Jes. 27, aber das ist der Nutzen davon, daß seine Sünden weggenommen werden. Wenn aber Jesus diejenigen, welche den Willen des Vaters tun, sogar seine Mutter nennt, so sollte man darüber ordentlich in Verlegenheit geraten, denn einer Mutter erweiset man noch außer der Liebe Ehre und Gehorsam; und wer dürfte so etwas von dem Verhalten des Königs gegen die Seinigen sagen? Zwar ist es wahr, er sagt selbst: wer mich ehrt, den will ich wieder ehren. Er ermahnet uns, die Ehre bei Gott zu suchen und die Ehre bei den Menschen nicht sonderlich zu achten. Aber Gehorsam? Wie? Lesen wir nicht schon unter dem Alten Testamente: Und Gott gehorchte der Stimme eines Mannes? Heißt es nicht: Der Herr tut, was die Gottesfürchtigen begehren? Sagt nicht Jesus: Was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich tun? Und wiederholt es zweimal Joh. 14,13.14. Ja, hat er nicht erklärt, daß, wenn zwei eins werden, etwas zu bitten, so sollte es ihnen gegeben werden, es sei auch, was es wolle? Sagt er nicht Joh. 15,7: So ihr in mir bleibet, und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es soll euch widerfahren. Sagt er nicht zu Jakob: Du hast mit Gott und mit Menschen gekämpfet und bist obgelegen? Überwand ihn nicht jenes kananäische Weib durch seinen beharrlichen Glauben, der sich nicht abweisen ließ, daß er gleichsam tun mußte, was sie begehrte? Und es ist hiervon mehr wahr, als man öffentlich sagen darf, wenn es nicht heißen soll: Du rasest. Und die Liebe Christi ist von der Art, daß, wie er die Seinigen geliebt hat, so liebt er sie bis ans Ende. Deswegen sagt er auch: Bleibet nur in meiner Liebe, und nehmet alles als Liebe an, ich mag euch führen, wie ich will, nach eurem Verstand, oder darüber oder dawider. Laßt euch in dem Glauben an meine Liebe nur nicht irre machen! Hätten das doch die beiden Schwestern vermocht, wie viel hätten sie der Tränen weniger gehabt!

An dem Grabe waren jetzt die Seinigen: Martha, die da sagen konnte: Herr, ja, ich glaube, wenn gleich ihr Glaube nur noch einem glimmenden Docht ähnlich war; Maria, die in der größten Not kein besseres Mittel wußte, als Jesu zu Fuße zu fallen, zu weinen und ihm die Not zu klagen. Auch Lazarus war der Seinige. Stufenweise geht es mit ihm hinab. Er ist krank, schläft, ist gestorben, im Grabe, stinket schon. Bei dem allen ist er doch der Seinige und muß deswegen auch stufenweise errettet werden. Wie glücklich ist doch derjenige, der zu den Leuten Jesu gehört! Wie viel Ursache hat er, sich über seinen König zu freuen, ja darüber zu jauchzen, denn er ist ein Helfer ohne Gleichen. Wohl dir, Israel, wer ist dir gleich, o Volk, das du durch den Herrn selig wirst, der deiner Hilfe Schild und das Schwert deines Siegels ist! Deinen Feinden wird es fehlen, du aber wirst auf ihrer Höhe einhertreten.

Zweitens lasset uns aber auch jetzt sehen, was für ein Verhalten Jesus den Seinigen empfiehlt: Dies ist in seiner Anrede an die Martha ausgedrückt: „Habe ich dir nicht gesagt, so du glauben würdest, du solltest die Herrlichkeit Gottes sehen?“ Er befahl, den Stein von der Kluft abzuheben, in welcher Lazarus lag.

Martha kann nicht begreifen, wozu das dienen soll; sie widersetzt sich mit der Bitte an Jesum, sich selbst und den Übrigen doch den kläglichen Anblick einer Leiche zu ersparen, an welcher die Verwesung schon ihre scheußliche Gewalt ausübe. Sie handelt der Vernunft gemäß und beurteilt den vorliegenden Fall nur nach demjenigen, was sie erkennet, nicht aus einen höheren Gesichtspunkte, von Jesu hergenommen; wer in ihre Fußtapfen tritt, wird finden, was sie fand - Unruhe und Tränen. Wer glaubt, soll die Herrlichkeit Gottes sehen. Die arme Vernunft! Wer würde, wenn er sie allein hörte, es nicht für Raserei halten, seinen Weizen in die feuchte Erde zu werfen, damit er da verfaule? Allein glauben, dem Evangelium gemäß glauben, so glauben, wie die Schrift sagt, ist ohne Not und Gedränge nicht möglich; und je höher und herrlicher die abzulegende Glaubensprobe sein soll, je herrlicher sich die Herrlichkeit Gottes erweisen will, desto höher muß die Not, muß das Gedränge steigen. Je weniger die Vernunft weiter einen Ausweg sieht, je tiefer ein Mensch gedemütigt ist, je weniger Hilfe und Dienste er von eigener Weisheit, Kraft, Vorsatz, Ernst, Fleiß weiter empfangen kann, desto mehr kann sich der König, den die Welt für arm hält, in seinem unausforschlichen Reichtum an ihm verherrlichen. Man gehe die ganze evangelische Geschichte durch, so wird man dieses überall bestätigt finden. Welche waren es, die kalt und gleichgültig gegen ihn blieben, ja die ihn anfeindeten? Waren es nicht diejenigen, denen weder äußerlich noch innerlich etwas mangelte? Waren es nicht diejenigen, die sich für weise, für gut, ja für die Besten hielten? Was für Leute aber drängten sich zu ihm? Waren es nicht leiblich Kranke, die Genesung suchten, besonders aber diejenigen, welche Jesus am meisten liebte, die geistlich Armen? Ein Nikodemus, der Wahrheit - Zöllner, Sünder und Sünderinnen, welche Vergebung, Ruhe und ein reines Herz bei ihm suchten? Wie lieb war er ihnen, wie lieb sie ihm; wie gemeinsam ging er mit ihnen um, und aß und trank bei ihnen, oder ließ sie bei sich essen und trinken, ungeachtet er sich dadurch den Zorn der Pharisäer und ihren Schimpf zuzog! Und so verhält es sich noch. Der Weg zu Christo ist die Not, ist das Elend; und so wenig es einem Gesunden, der bei guter Vernunft ist, einfallen wird, einen Arzt zu brauchen, so wenig wird ein Mensch von Christo Gebrauch machen können, der nicht einsieht, wozu er seiner bedarf. Und dies ist der einfache Grund, warum der König, der ein Helfer ist, in der Welt so wenig gilt. Die Erkenntnis von Sünde und Gnade hält gleichen Schritt, so daß das Eine ohne das Andere nicht recht eingesehen wird; je tiefer jemand in sein Elend blickt, desto tiefer wird er nachher in die Gnadenfülle schauen, die viel mächtiger ist. O, würde dies recht eingesehen, wie ganz anders würde man sich bei der Empfindung seines Elends verhalten! Man würde glauben, man würde auf den Herrn harren, bis man seine Herrlichkeit sieht. Doch höret der Herr auch das Seufzen der Elenden, die nicht den Glauben, sondern ihre Not empfinden, denn diese Not ist es eben, welche dem Herrn Gelegenheit gibt, die Herrlichkeit seiner Macht an denen zu beweisen, die da glauben, wie auch unsere vorliegende Geschichte beweiset. Den Glauben erweckt Jesus durch seine Verheißungen. So hatten die Schwestern die Verheißung: Diese Krankheit ihres Bruders sei nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch geehrt werde; und zu Martha insbesondere hieß es: Dein Bruder soll leben. So wie sich Werke auf Gebote beziehen, so bezieht sich Glaube auf Verheißungen. Was Gott nicht versprochen hat, dürfen wir auch von ihm nicht erwarten, so wie wir und getrost darauf verlassen können und sollen: Was er versprochen hat, das kann und will er auch tun. Die Schwester Lazari hatte eine besondere Verheißung für diesen besonderen Fall, und der Herr ist noch wohl so gnädig herablassend, um bei manchen seiner Kinder etwas Ähnliches zu tun. Allein, man darf das nicht begehren. Es ist uns genug, daß uns im Evangelium die teuerste und allergrößeste Verheißung erteilt worden ist, nämlich, daß wir der göttlichen Natur sollen teilhaftig werden; Verheißungen, die die Form eines Testaments annehmen und durch den Tod des Mittlers unveränderlich geworden sind; Verheißungen, die durch den Eidschwur Gottes bei sich selbst bekräftigt, die uns allen durch das Sakrament der heiligen Taufe nahe gelegt und gegeben sind, Verheißungen also, an welchen wir Teil erlangen können.

Diese Zusagen enthalten alles, was einem Sünder zu seiner Seligkeit vonnöten ist. Er bedarf Vergebung seiner Sünde; aber verspricht nicht der Herr: Wenn deine Sünde blutrot ist, so soll sie doch schneeweiß werden? Ich tilge deine Missetat wie eine Wolke und deine Sünde wie einen Nebel, der so verschwindet, daß man nicht weiß wo er bleibt. So weit der Aufgang ist vom Niedergang, so weit tut er unsere Übertretung von uns. Er will sie in die Tiefe des Meeres werfen, daß sie, wenn auch gesucht, doch nicht gefunden werden kann. Ja, ich tilge deine Übertretung um meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht. - Wir bedürfen der Erleuchtung; aber heißt es nicht: Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen, den du wandeln sollst? Ist uns nicht Christus zur Weisheit gemacht? Hat er uns nicht den Geist verheißen, der uns in alle Wahrheit leiten soll? Wir sind unrein und müssen heilig werden; aber warum sollen wir das nicht werden können, da Gott selbst sein Gesetz in unser Herz schreiben und solche Leute aus uns machen will, die in seinen Geboten wandeln, seine Rechte halten und darnach tun? Am Tage seiner Kraft wird ja sein Volk lauter Willigkeit und geschickt, dem Herrn zu dienen in heiligem Schmuck. Er hat sich ja selbst für uns geheiligt, auf daß auch wir geheiligt werden; er hat ja für die Seinigen gebetet: „Heiliger Vater, heilige sie in deiner Wahrheit,“ und sein Vater hört ihn allezeit. - Wir bedürfen Kraft und Stärke; aber gibt er nicht den Müden Kraft und Stärke genug den Unvermögenden? (Jes. 40) Bekommen nicht, die auf den Herrn harren, neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie die Adler, wandeln und nicht matt, laufen und nicht müde werden? Ist nicht seine Kraft in den Schwachen mächtig? Wird uns nicht dargereicht allerlei seiner göttlichen Kraft, was zum Leben und göttlichen Wandel dient? Darum soll niemand sagen, ich bin schwach; denn das Volk, das im Finstern wandelt, siehet ein großes Licht (Jes. 9), und wenn ich schwach bin, so bin ich stark (2. Kor. 12). Ihr bedürft Trost; aber er will euch trösten, wie jemand seine Mutter tröstet. Habt ich viel Bekümmernisse in eurem Herzen? Seine Tröstungen ergötzen die Seele. Wollet ihr gern beharren bis an das Ende? Ihr werdet aus Gottes Macht bewahret zur Seligkeit. Ihr sollt nimmermehr umkommen und niemand wird euch aus meiner Hand reißen. Solcher und ähnlicher Verheißungen ist das Testament unsers Herrn Jesu Christi voll. Auf das vollkommenste ist dadurch für allen unsern geistlichen Mangel gesorgt; wohl dem, der ihn empfindet und dadurch der verheißenen Güter bedürftig wird! Auf dies Wort des Herrn, durch den Tod des Mittlers, durch Sakramente und Eidschwüre bekräftigt, können wir uns mit vollkommenster Gewißheit verlassen. So verhielt sich Abraham; er zweifelte, er vernünftelte nicht über die Verheißung, sondern glaubte auf das allergewisseste, was Gott verheißen, das werde er auch tun, glaubte auf Hoffnung, da nichts zu hoffen war.

Die beiden Schwestern verhielten sich so nicht wie ihr Stammvater, sondern vernünftelten und wurden eben dadurch schwach im Glauben; sie faßten die ihnen gegebene Verheißung nicht ganz in dem Sinne auf, wie der Herr sie meinte: „Die Krankheit ist nicht zum Tode,“ heißt vielleicht nur, ist nicht zum ewigen Tode, Lazarus wird ja selig. „Dein Bruder soll auferstehen,“ war vielleicht nur eine Hinweisung auf die allgemeine Auferstehung. Beides war nichts Sonderliches, und Martha mochte wohl sagen: „Das weiß ich wohl“ (V. 24). Dein Wort in von weitem Umfang, sagt David; und es kommt vieles darauf an, ob wir es im höchsten oder geringeren Sinne fassen. Glauben wir das Höchste und Beste, es geschieht uns, wie wir geglaubt haben; glauben wir das Geringere, er tut mehr, als wir zu bitten wagen und verstehen, weil er reich ist über alle, die ihn anrufen, und beschämet dadurch unsern schwachen Glauben, wie den der Martha; glauben wir das Eigentliche, es kommt. Christus sagt z.B., es falle kein Haar von unserm Haupt ohne den Willen seines Vaters. Er will uns dadurch ermuntern, alle unsere Anliegen auf ihn zu werfen. Je eigentlicher wir das nun glauben, desto mehr werden wir die Fußtritte Gottes spüren. Oder es heißt: Wer will verdammen? Je völliger wir das annehmen, um desto mehr werden wir los von allem bösen Gewissen, voll Freimütigkeit zu Gott sein; oder noch eins: Je völliger wir das im Glauben annehmen, was Röm. 6 seht: Samt Christus ist unser alter Mensch gekreuzigt, damit der sündliche Leib aufhöre, desto völliger werden wir es in der wirklichen Erfahrung also inne werden. O wohl dem, der Salomons Herz hat, so weit als Sand am Meer, dessen Glauben so weit reicht, als die göttlichen Zusagen reichen, dem ist nichts unmöglich.

Allein der Herr erfüllt seine Zusagen meistens auf seltsamen Wegen, wie unsre Geschichte beweist, und da findet der Glaube sein Werk, wie Paulus an die Thessalonicher schreibt. Es schien, Jesus konnte nicht helfen, oder er wollte es nicht. Er läßt die Not auf das Höchste steigen. Man meldet ihm die Krankheit zeitig genug. Aber seine Liebe scheint erkaltet, und, statt auf der Stelle nach Bethanien zu eilen, bleibt er noch zwei Tage ruhig an Ort und Stelle und läßt jene weinen, von denen er so viel Liebe genossen, und die er so lieb hatte.

Lazarus bleibt krank; die Schwestern, die sich an Jesu Wort halten, hoffen von Augenblick zu Augenblick mit ängstlicher Ungeduld, er werde jetzt, jetzt kommen. Er bleibt aus. Lazarus wird kränker und kränker. Er stirbt. Wie wird das ihr Herz auf die unaussprechlichste Weise zerrissen haben, und wohl mehr noch das unerklärbare, harte Verhalten ihres geliebten Herrn, von dem sie überzeugt waren, er hätte helfen können, und es doch, doch nicht tat, als der Verlust an sich. Sie versinken in die tiefste Trauer; viele mitleidige Juden kamen, um sie zu trösten; aber wie werden die sie trösten können, da derjenige sie in ihrer Not stecken läßt, auf den sie ihre ganze Hoffnung bauten? Andern hat er ja geholfen, warum uns, ach, warum uns denn nicht?

Indessen, sie müssen die geliebten Reste dem Grabe überlassen, da wird er Erde, wovon er genommen ist. Es ist also jetzt alles aus. Und eben dann bricht die Hilfe mit Macht herein, da alle menschliche Hoffnung aus war. Der Stein wird, der Einrede Marthas ungeachtet, abgewälzt. Jesus, welcher die Auferstehung und das Leben ist, tut an Lazarus, was er einst an allen Toten tun wird. Ihm ist er nicht gestorben, er schläft nur. Mit lauter Stimme ruft er: „Lazare, komm heraus!“ Mit dieser Stimme verbindet sich seine allmächtige Kraft, sie gibt dem Verwesenden neues Leben und hebt ihn zugleich aus dem Grabe heraus. Und damit jeder sieht, wie vollkommen lebendig, gesund und stark Lazarus sei, befiehlt er, ihm durch Lösung der Grabtücher den freien Gebrauch seiner Hände und Füße zu verschaffen.

Nun gehen sie insgesamt nach Bethanien zurück. Mit welchen Empfindungen? Wer vermöchte das auszusprechen? Die erste war ohne Zweifel die: Welch' ein Heiland haben wir! Wo sind die Grenzen seiner Macht? Wo ist die Not, in welcher man an ihm verzagen müßte? Freue dich, Zion, denn siehe, dein König kommt zu dir, ein Helfer. Welch' ein Adlersflug wurde jetzt ihr Glaube nehmen, hoch empor über alles Elend, denn wir haben einen Gott, der da hilft, und einen Herrn, Herrn, der vom Tode errettet.

Die zweite Empfindung war ohne Zweifel die der Buße, die einer liebevollen Reue. Ach, warum haben wir doch einen Augenblick gezweifelt, warum einen Augenblick gewähnt, er könne oder er wolle nicht helfen, warum über der Not den Nothelfer vergessen, geweint und getrauert, als ob kein Jesus, oder er doch der nicht wäre, der er wirklich ist?

Die dritte Empfindung war die einer gänzlichen Übergabe an ihn. Er schalte ferner nur nach seinem freimächtigen Wohlgefallen; sein Wille soll gelten, nicht der unsrige; er hilft uns überschwenglich besser, als wir bitten, noch versteh'n.

Eine vierte war die der Bewunderung der Weisheit und Treue Jesu. Mußte nicht alles so gehen, wenn der Sohn Gottes recht sollte geehrt werden? Kam die Hilfe nicht gerade in dem besten Zeitpunkt? Wäre sie früher gekommen, wie wir es freilich wünschten, würde sie dann so herrlich gewesen sein? Hätte er den kranken Lazarus gesund gemacht, das wäre freilich etwas Großes gewesen; würden wir aber dadurch ihn wohl so haben kennen lernen, so erfahren können, was wir an ihm haben, als nun, da er ihn erst sterben, ins Grab legen, verwesen ließ? Würden wir künftig das Vertrauen auf ihn haben fortsetzen können, das wir jetzt gegen ihn hegen? Nun, laßt die Not noch so hoch steigen, wir ängstigen uns weiter nicht, denn wir haben ihn. O, Dank ihm, daß er unsere Tränen nicht ansah, Dank ihm, daß er nicht eher half, Dank ihm, daß er seine Herrlichkeit so glänzend erwies, und, um sie erweisen zu können, als aufs äußerste kommen ließ!

Dazu gesellte sich nun noch die helle Einsicht von der tiefen Wahrheit des Ausspruchs Jesu: So du glauben würdest, solltest du die Herrlichkeit Gottes sehen. Glaube erst in der Not und harre des Herrn, hernach sollst du mit desto größerer Freude sehen - und was? Seine Herrlichkeit, war für ein Herr er ist, und daß nicht zu Schanden werden an ihm, die sein harren.

Ja wahrlich, so können, dürfen und müssen wir auch Jesum anpreisen. Erfahret es selber, o, erfahret es selber! Freilich wird er euch keine Toten auferwecken, freilich wird er kein Wunder tun, um euren weltlichen Angelegenheiten eine Richtung zu geben, wie ihr sie etwa wünscht. Aber habt ihr nicht etwas unendlich Wichtigeres, nicht eine unsterbliche Seele? Möchtet ihr nur erst ihretwegen in eine heilsame Not geraten, so könntet ihr auch seine wunderbare Rettung erfahren. Ihr andern aber glaubt; denn getreu ist, der euch ruft, welcher wird es auch tun! Durch ihn wird's euch gelingen und oft dann am herrlichsten gelingen, wenn ihr selbst gar keinen Ausweg mehr sehet. Ein Meister ist er im Helfen. Glaubet, so werdet ihr seine Herrlichkeit sehen! Amen.

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