Krummacher, Friedrich Wilhelm - Salomo und Sulamith - Sage mir an, wo du weidest.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Salomo und Sulamith - Sage mir an, wo du weidest.

Fünfte Predigt

Hohelied Salomons 1, 7. 8.
Sage mir an, du, den meine Seele liebt, wo du weidest, wo du ruhest am Mittag, daß ich nicht hin und her gehen müsse bei den Heerden deiner Gesellen.
Kennest du dich nicht, du Schönste unter den Weibern; so gehe hinaus auf die Fußstapfen der Schafe, und weide deine Zicklein bei den Hirtenhäusern.

Es gibt fast keinen Stand im geistlichen Leben, den wir nicht andeutungsweise wenigstens da oder dort im Hohenliede beschrieben fänden. Es ist dieses Büchlein ein rechter Herzensspiegel der Kinder Gottes. Freilich, die unsaubere Welt schaut nur ihr eigen schnödes Bild darin. Aber was kann das klare helle Bächlein dafür, daß, wenn sich ein Mohr d'rin spiegelt, ein häßlich, schwarz Gesicht ihm d'raus entgegen scheint. Das lag' ja nicht, im Spiegel, sondern am Gesicht des Mohren; und wollte der nun das unschuldige Wässerlein darum schelten, oder wohl gar, wie jener wüthende Eroberer das Meer, mit Ruthen peitschen, wäre es nicht schreiendes Unrecht? - Und so machen's doch die Ungläubigen mit dem Lied der Lieder! -

Nun, nach Belieben! - Wir wollen uns dadurch die Lust an diesem Bache aus dem Felsen Zion nicht verkümmern lassen. Wir trinken Wasser d'raus, das in das ewige Leben quillet.

Der verlesene Text enthält ein Zwiegespräch zwischen dem himmlischen Bräutigam Christo und seiner Braut, der Kreuzgemeine - oder der einzelnen gläubigen Seele. Was in den Worten der Sulamith athmet: es ist Adventsverlangen - es ist Sehnsucht nach der Erscheinung des Herrn, Heimweh nach seiner Nähe. Die Antwort Christi aber beruhigt das sehnende Gemüth - zeigt der Verlangenden den Weg, und ertheilt ihr guten Rathschlag. Manche Seele unter uns befindet sich mit Sulamith in gleicher Lage; manche Seele bedarf derselben Erquickung. Laßt uns drum den Worten näher treten und ein Fünffaches in's Auge fassen:

  1. Sulamiths Stand;
  2. ihre Anrede an den Herrn;
  3. ihre Frage;
  4. Christi Gegenfrage;
  5. seinen Rath.

I.

Die Gemüthslage, in welcher sich Sulamith befindet, kennen wir schon. Im Vorhergehenden hat sie selbst ihr Herz uns ausgeschüttet, und freimüthig ihre innere Gestalt uns enthüllet. Ich bin schwarz, klagte sie - ich bin schwarz, ihr Töchter Jerusalem. Sehet mich nicht an, daß ich so schwarz bin - denn die Sonne hat mich so schwarz gebrannt.„ Sie nennt in unserm Texte ihren Stand einen Stand am Mittag. Es ist dasselbe. Sie will sagen: sie stehe in der Mittagshitze - da die Sonne am höchsten steht, und einem senkrecht und stechend auf den Schädel scheint. Sage mir, ruft sie, wo du weidest, wo du ruhest am Mittag. Die Morgensonne ist dahin! Denn Morgen ist es dann in unsrer Seele, wenn der Südwind des Geistes frisch durch den innern Garten blaset, daß die Würzen triefen; und man hört sein Sausen - man verspürt sein Wehen. Morgen ist es, wenn der König sich herwendet, und unsre Narde gibt ihren Geruch; es ist Morgen, wenn das geistliche Leben, das in uns ist, in Gefühl und Empfindung tritt - und wie ein fruchtbares, süßes Wasser das Gemüth überfluthet; Morgen ist's, wenn die Nähe des Herrn so recht lebhaft gefühlt, der Trost der Versicherung so recht seliglich genossen, die Liebe Christi so recht feurig empfunden und die Kräfte der zukünftigen Welt in starken Zügen geschmäcket werden. Dann ist's Morgen - dann wehen die angenehmen Lüfte; dann scheint die Sonne milde und erquickend - dann ist das Herzensthal mit Balsamgerüchen erfüllet; dann liegt der Thau des Frühroths auf der Flur; dann strömen die Weinbeerblüthen ihren Duft aus - und die Turteltaube girret im Walde. Morgen war es in Sulamith's Leben, als sie ausrief: „Er küsset mich mit dem Kusse seines Mundes; denn Deine Liebe ist lieblicher denn Wein, Dein Name ist wie eine ausgeschüttete Salbe - darum lieben Dich die Mägde. Zeuch mich Dir nach, so laufen wir; der König führet mich in seine Kammer; wir freuen uns, und sind fröhlich über Dir.“ Ja - da schien das Morgenlicht über ihrem Haupte. O, ein glückseliger Stand das! da man über den Höhen der Erde schwebt, wie ein junger Adler - sich vor Teufel und Tod nicht mehr fürchtet - allen Brüdern mit Freudenthränen in die Arme fallen mögte - ein weites Herz hat, weit wie das Meer, und auch den Brüdern so lieb, so theuer ist: weil nichts als Ströme des lebendigen Wassers von uns ausfließen.

Wie uns nun heute die liebe Sulamith begegnet, steht sie nicht mehr im Morgenlichte; ach, es ist gar anders mit ihr worden. - Die arme Sulamith! Ihr seht's ihr schon an. Wo ist der heitre Sonnenschein, der auf ihrem Angesichte lag, und das Auge, leuchtend vor Freude - und der überströmende beredte Mund, und das auffahrende Adlerwesen - und die warme, innige Verlöbnißliebe - und die brünstigen Zeugnisse; wo ist das Alles geblieben? Ach - es ist wie verstoben - und die liebe Seele gleicht einer Blume, die Duft und Schmelz verloren; einem Schmetterling, dem man den Farbenstaub von den Flügeln weggeblasen. Sulamith geht bedrückt einher. Was ist ihr widerfahren? - Hat sie irgend einen schweren Fall gethan? - Nein, das grade nicht. - So ist sie von Zweifeln bestürmt, und fragt mit Johannes: „Bist du es, der da kommen soll?“ - Das auch nicht. - So sind es schwere Anfechtungen und harte Kämpfe mit dem Versucher, die sie eben zu bestehen hat? - Nein, das kann man nicht sagen. Sie sagt: es sei Mittag in ihrer Seele. An einen heißen, schwülen Sommertag erinnert sie uns; da sieht es traurig aus in der Natur: da hängen die Blumen das Haupt - und das Gras wird falb und dürre - und die Thiere schleichen stöhnend daher, und singt kein Vogel mehr in den Zweigen, und dunkle Staubwolken wirbeln auf den Straßen, und Alles ist matt und müde und verschmachtet. So - will sie sagen - sehe es bei ihr nun geistlich aus. O, wir verstehen sie: es ist der Stand der Dürre, der Empfindungslosigkeit, darin sie sich befindet; der Stand geistlicher Entblößung und Beraubung - da man selber von dem neuen Leben, und von der Gnaden-Nahheit des Herrn nichts mehr verspürt; da man zwischen sich und einem natürlichen, todten Menschen kaum mehr einen Unterschied wahrnimmt, keine Liebe, keinen Gebetsdrang in sich mehr befindet - und da man anfängt, an seinem Gnadenstande irre zu werden und zu zweifeln. Das ist der Mittag, in dem wir Sulamith antreffen.

II.

Sulamith wendet sich mit ihrer Noth an den Herrn; dem will sie ihren Jammer klagen. Das war schön von ihr - das war weise. Es ist ja kein Nothhelfer außer Ihm; und wenn man auch nicht beten könnte, so sollte man stumm sich vor Ihn hinstellen: „Da sieh selber zu, wie armselig es mit mir aussieht;“ - es ist doch anderswo nun einmal nicht zu holen - und dieses Brünnlein ist's allein, das Wasser hat zur Zeit der Dürre. „Du,“ seufzt sie, den meine Seele liebt“ - das ist die Anrede. Du, spricht sie; - seinen Namen nennt sie nicht. Warum nicht? Ach, sie wußte nicht in der damaligen Gemüthslage, wie sie Ihn nennen sollte. Es kommen wohl so Zeiten, wo man keine andere Anrede weiß an den Herrn, als: Du! Du! und das ist Alles. So erlebt man zuweilen plötzliche Entrückungen im Geist, wie in den dritten Himmel - und Stündlein der Nahbeiheit Jesu und des innern Schauens ohne Gleichen; da tritt einem der Schönste der Menschenkinder mit einem Male unverhüllt in seinem ganzen Schmucke vor die Augen - als sähe man Ihn von Angesicht zu Angesicht; und alle Lieblichkeiten, die zu seiner Rechten sind ewiglich, werden, wie in Einem Zuge, in die Seele getrunken. Die ganze Größe seiner Liebe ist entschleiert vor unsern Blicken; das Glück, in seinem Blute versöhnt zu sein - wir schmäcken es in seinem ganzen Umfang - und das Entzücken unsres Herzens überschreitet alle Ufer. Da mögte man wohl gerne reden, und Ihn nennen mit Namen; aber wohin wir greifen, kein Name genügt, Den zu bezeichnen, den wir schauen, den wir schmäcken. Seine herrlichsten Benennungen, sie sagen uns zu wenig, sie dünken uns zu gering, zu arm für solchen Herrn. Da stehen wir vor Ihm, und fühlen es: „Dich nennt keine Name! Kein Lied singt Deine Ehre!“ und ein hingeseufztes: O Du! o Du! ist Alles, was man, in Seligkeit ersterbend, hervorzubringen vermag. - Aber noch andere Zustände gibt es, wo uns Jesus ein namenloser ist. Ach, wie soll unser Herz Ihn nennen, wenn wir als zermalmte Sünder an den Stufen seines Gnadenthrones im Staube liegen - und nichts als Gefühl unsrer Fluchwürdigkeit in unsrer Seele ist, und wir nicht wagen, die Augen zu Ihm aufzuschlagen? Wie Ihn nennen? - Herr? Ach, wir sind ja Rebellen, und keine Knechte. - Heiland? Wie dürften wir; was haben wir für Ansprüche an seine Gnade? -Mittler? Fürsprecher? Nein, nein; so tief gesunkene Menschen, wie wir sind, wird Er ja nicht vertreten wollen. Ach! alle die süßen und seligen Namen, mit welchen seine Kinder Ihn nennen - und nennen dürfen, sie stocken uns auf der Zunge; und Du! Du! Du! ist Alles, was wir mit stammelnder Lippe sagen können. Und wenn er uns seine wunderlichen Wege führt, und nimmt uns Alles wieder, was Er zuvor gegeben, und entzieht sich unsern Augen ganz, und hüllet sich in Wolken und Nebel, und ist nichts mehr von Ihm zu schmücken und von seiner Gnade und Liebe zu empfinden, wie's Sulamith erfuhr; wie Ihn nennen dann? Mit welchem Namen Ihn anreden? - Freund? So erfahren wir Ihn nicht mehr. - Bräutigam? Ach, die Hochzeitstage sind vorüber. - Friedefürst? Wo ist sein Friede! - Geleitsmann? Wir wandeln ja verlassen. Ach, in solchen Zeiten mögte man wohl mit Mannoah fragen: „Sag an, wie heißest Du?“ Nur einen Namen weiß man, mit dem man Ihn allenfalls anreden mögte: „Herr Wunderbar!“ Ja, oft glaubt man Ihn als den Gott „Wunderbar“ nicht einmal mehr in seinen Lebensgängen wahrzunehmen; es ist, als leite Er uns gar nicht mehr – als bekümmere Er sich nichts mehr um uns; da wissen wir nun vollends keinen Titel mehr für Ihn, und nur das Eine ist noch übrig - der Seufzer: Du! Du! und das ist Alles. So gings unsrer Sulamith. -

In Erstaunen muß uns aber setzen, was sie hinzufügt: „Du - spricht sie - Du, den meine Seele liebet.“ Wie, was? Wir meinten ja, sie hätte keine Liebe mehr in der theuren Zeit? Nun ja, das meint sie auch, ganz steif und fest. Aber sagt sie nicht: „Du, den meine Seele liebt?“ Das sagt sie, aber ich glaube nicht, daß sie selbst weiß, was sie sagt; das fließt so aus ihr heraus; aber sie selber merkt's nicht, und hat nicht Acht darauf. Und ach, wie oft, wie oft wiederholt sich das bei umdunkelten und angefochtenen Seelen! Ja, da ist denn auch wohl Klage über Klage, daß keine Liebe mehr sei im Herzen - keine Lust am Herrn mehr - u. vgl. Und doch, im Widerspruch mit sich selber, rufen sie jeden Augenblick, wenn auch nicht mit Worten, doch um so lauter nur mit der That: „Du, den meine Seele liebet!“ O, ihr wunderlichen Leute! thut vom Morgen bis Abend anders nichts, als rennen und laufen nach Jesu, und nach Ihm fragen und suchen - und seid wie die blockenden Lämmer in der Wüste, die den Hirten verloren haben. Wie gerne fändet ihr Ihn wieder - um Alles gerne; und wollte Einer zu euch sagen, ihr mögtet's doch nur aufgeben, das Suchen nach Ihm - ei, nicht um Berge von Gold, noch um Königskronen, - würdet ihr zur Antwort geben; nein - lieber Alles aufgeben - lieber Alles, als das. Und doch habt ihr Den nicht lieb, nach dessen Nähe und Gemeinschaft ihr so hungert - und möget Ihn gar nicht mehr leiden; - nein, nicht im Geringsten mehr!! Ei, wie sonderbar - wie seltsam! Nach einem gleichgültigen Mann so umzulaufen, um seine Entfernung so zu trauern - so bekümmert zu sein. O, ihr lieben Kinder! Alles, was an euch ist: dieser betrübte Blick - diese bedrückte Miene - diese schmerzensvolle Klage: „Ich habe den Herrn verloren“ - dieses Suchen und Verlangen - ei, was ist es anders, als ein deutliches: „Du, Du, den meine Seele liebt“ - als ein heller, euch selbst vielleicht verdeckter Schein und Silberblick der Liebe, die nach wie vor - glaubt es doch! im untersten Grund eures Wesens wohnt; die in Kindern Gottes durch nichts - durch gar nichts kann ersäuft werden - die durch die allerbittersten Anfechtungen und Verlassenheiten sich durchringt und unter allen Umständen in mannigfachen - wenn auch oft nur zarten Offenbarungen - ihr Dasein und Leben beurkundet. Ja, die Schäflein Jesu haben Ihn immer lieb; und wenn ihr Mund auch klagt: „Ich habe keine Liebe mehr“ - der Ton schon, mit dem sie es klagen, gibt den Worten einen ganz andern Sinn, und ein feines Ohr hört's heraus: „Du, den meine Seele liebt.“

III.

Nachdem wir die Anrede der bekümmerten Braut vernommen haben, so lasset uns nun auch hören, was sie doch eigentlich will, und wie die Frage lautet, mit der sie sich an den Herrn wendet. „Sage mir an,“ spricht sie, „du, den meine Seele liebt, wo du weidest, wo du ruhest am Mittage; daß ich nicht hin- und hergehen müsse bei den Heerden der Gesellen.“ Die Gesellen, das sind hier die Diener am Wort, die vom Herrn berufenen Prediger ^md Propheten. Ei, eine große Ehre, welche Sulamith denselben anthut, daß sie sie Christi Gesellen nennt! Nun, ja, anderwärts heißen wir ja Botschafter an Christi statt, und seine Mitarbeiter; - das ist dasselbe. Ach, wie hoch werden wir da gestellt; da sollte uns ja bei um's Herz beklommen werden, daß wir schreien mögten: „Herr Gott! sende einen andern, ich tauge nicht zum Prediger.“ Die Heerden dieser Gesellen, das sind die, so durch ihr Wort sind gläubig worden - ihre geistlichen Kindlein. Unter denen lief nun Sulamith hin und her; aber sie hatte keine Lust, es weiter zu thun; was war dabei heraus gekommen? Nichts. Keine Predigt, wie schön sie sein mögte, keine Versammlung, kein Zuspruch der Brüder hatte die versengte und verdorrte Flur ihres Herzens wieder ins Blühen, ihre Seele wieder aufrichten können. Ach, sagte sie, laß mich nicht ferner so vergeblich umlaufen bei den Heerden deiner Gesellen; komm du selber wieder zu mir! Die Worte können aber auch so verdollmetscht werden: „Daß ich bei den Heerden deiner Gesellen nicht ferner mehr stehen müsse, als eine Verhüllte“ - das ist: als eine Wittwe. Ach ja! will sie sagen, wenn deine anderen Kinder mit einander rühmen von deiner süßen Nahheit, und wie Du sie erquickest, und bei ihnen aus- und eingehest - muß ich meine Augen traurig niederschlagen, und muß stumm sein - kann nicht mit rühmen - und bin unter ihnen, wie ein dürrer Baum unter den blühenden, und wie ein krankes Lamm unter den hüpfenden auf der Weide. Niemand hat was an mir, ich bin den Brüdern wie ein Todter. Ich habe ja meinen Mann verloren; mein Freund hat mich im Stich gelassen, und spricht mir nicht mehr zu - und ich bin einsam und verwaiset; wie sollte ich nicht den Trauerschleier tragen. Das will Sulamith sagen, und bittet, der Herr möge dem ein Ende machen. -

Sage mir an, spricht sie, wo du weidest, wo du ruhest am Mittag. Ja, das möchte sie so gerne wissen. Zuförderst - wo Er in einem Zustande, wie der, in welchem sie sich gegenwärtig befindet – wo Er da doch wohl weide? Aber was mögtest du doch wohl gerne wissen, liebe Seele? Wir verstehen deine Worte nicht. Etwa das, wo Er alsdann für sich wohl Weide finde? O Weide noch immer genug für Ihn in deinem Herzen - wiewohl du es nicht meinest. Dies Aengstigen um Ihn, das in dir ist, dies Suchen und Sehnen, dies Fragen und Umlaufen nach dem verlornen Freunde, o das siehet er mit Vergnügen; das ist Ihm eine Weide, eine Lust, und eine süße Speise; auch in dürrer Wüste weiß Er Weide zu finden. Aber ich glaube, du mögtest gerne wissen, was Er für solche arme Schäflein, wie du eins bist, für Weide bereitet habe? Verborgene Weide, liebe Seele, verdeckte Triften. Er erhält dich durch heimliche Kräfte, mit einem versteckten Glauben, um den du nicht weißt, und mit einer Hoffnung, deren Süßigkeit deinen Gaumen nicht berührt; aber sie ist doch vorhanden. Auch weidet Er solche bekümmerte Lämmer, die nicht mehr wissen, ob sie dem Herren angehören, oder nicht, zuweilen auf dem Gebiete ihrer eigenen Erfahrungen, die sie früher gemacht haben, und führt sie im Geiste zurück zu dem Stunden ihres Lebens, da sie doch gewiß den Kuß seiner Liebe empfunden haben, und Er seinen Bund mit ihnen aufrichtete. So gedenken sie denn mit David des Nachts an ihr Harfenspiel und die vorigen Lieder-und das macht ihren Muth wieder ein wenig wachsen. Oder Er leitet sie in sein Wort, und namentlich auf solche Verheißungen hin, wo auch dem glimmenden Docht verheißen wird, daß er nicht solle ausgelöscht und dem zerstoßenen Rohr, daß es nicht solle zerbrochen werden. Kurz, an Weide und innerer Nahrung fehlt es den Schafen Christi nimmer - und auch dann nicht, wenn es ihnen so ist, als warteten sie in den Sandwüsten umher, da auch nicht ein grün Hälmlein ihrem Hunger entgegenwüchse. -

Sage mir an, fragt Sulamith weiter, wo du ruhest am Mittag! Daß Er ruhe - ja, daß weiß, das fühlt sie. Weder in ihrem äußern noch inneren Leben hört sie seine Füße mehr rauschen - und merket an nichts, daß Er noch in ihr und um sie thätig und beschäftigt sei. Ach, liebe Seele, daß du es wüßtest! Ganz nahe bei dir ruhet Er - in deinem Schifflein, wie einst auf dem See - in deiner Kammer, ja in deinem Herzen. Aber freilich, du merkst Ihn nicht. Nun aber hat sie keine Rast, bis sie den Ruhenden gefunden, bis sie seiner wieder inne worden ist, und Wieder weiß und sagen kann: „Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Rosen weidet.“ Ach, ohne Ihn - wo soll sie bleiben, die Arme, mit all' ihren Sünden, mit all' ihrem Elend und ihrer großen Ohnmacht und Gebrechlichkeit? Nein! sie muß ihn wieder haben. Da zieht sie umher; bald ist sie einsam in ihrem Kämmerlein; „ach, ruhest du hier etwa?“ bald tritt sie in die Versammlung der Brüder: „Ist hier deine Ruhestatt?“ Bald sucht sie Ihn in Büchern oder Liedern - oder wo es sein mag. Es kommen allerlei Rathgeber zu ihr: „Ei, sei doch nicht so ungestüm, und warte mit Geduld, bis sich der Herr dir wieder zeigt.“ Aber nein! Ei, was Geduld - was Warten! die Sache ist zu wichtig - sie muß Ihn suchen. „So erheitre dich ein wenig in der schönen Natur - in fröhlicher Gesellschaft.“ Ach, was erheitern! O, ich begehre keine Ruhe, als bis ich ruhen kann bei Jesu und in seinen Armen. Ihre Beklommenheit wird immer größer - und sie weiß keine andere Losung mehr, als: „Sage mir an, du, den meine Seele liebt, wo du weidest - wo du ruhest am Mittag?“ -

IV.

So fragt, so klagt sie. Da kommt Antwort. Der Bräutigam thut seinen Mund auf zu einer Gegenfrage. Und wie fragt Er? „Kennest du dich nicht, du Schönste unter den Weibern?“ O, was für eine liebliche Bewandniß hat es doch mit diesem Worte! Seht, wie wenn ein Kindlein sich ein wenig und nur obenhin an einem Dorn geritzt hätte - und es käme weinend zur Mutter gelaufen; die Mutter streichelte das Kind - und spräche scherzend und lächelnd: Ei ja - das ist auch gar zu schlimm - da sollte man dich ja bedauern! Seht, in diesem Sinne müssen wir auch hier die Worte Christi auffassen. Sulamith steht trauernd und bekümmert vor Ihm und meint, sie wäre gar schwarz, daß sie wohl nicht mehr zur Heerde gehören mögte. Da spricht der Herr - gleichsam lächelnd zu ihrer Klage, als ob Er sagen wollte: „Ja, du magst wohl Ursache haben, deiner Seele wegen in Angst zu sein! Sulamith, hast du dich selbst so gar aus den Augen verloren? Kennst du dich nicht mehr, du schönste unter den Weibern? Du Weib mit der Sonne bekleidet, - die du meiner Natur bist theilhaftig geworden und einher gehest, geschmücket mit meiner Gerechtigkeit, mit der Gerechtigkeit Gottes, die dir geschenket ist: du willst dein Haupt hängen, wie ein Schilf? O du Schönste, werde dir deiner Herrlichkeit doch bewußt; denn siehe, meine Herrlichkeit habe ich dir gegeben - daß in Wahrheit kein Engel so schön ist, als du.“ Das ist der Sinn der Worte Jesu. O, wie oft möchte man sie wiederholen, diese Worte! Wie oft begegnet man solchen Seelen, wie Sulamith, die einem schon von ferne zurufen: „Sehet mich nicht an, ihr Töchter Jerusalem! ich bin gar zu schwarz;“ - die nichts von der göttlichen Natur in sich wahrnehmen wollen; die sich ganz weit wegwerfen - und eher tausend andere für Kinder Gottes halten mögen, als sich. Und siehe! aus Allem, was sie sagen und beginnen, scheint einem das Siegel des Lammes entgegen, das sie an sich tragen: aus ihrem Seufzen - aus ihrer Geduld - aus ihrem Hungern und Dursten - aus ihrer Liebe… daß man's mit Händen greifen kann: der ist ein Kind - oder Niemand ist's; der ist mit der Gerechtigkeit des Bürgen bekleidet - oder es ist's Keiner. Und doch stellen die lieben Seelen sich an, als ob es mit ihnen nun einmal rein nichts wäre; da mögen wir denn auch mit Jesu sagen: O liebe Seele, du Schönste unter den Weibern - kennst du dich nicht mehr? Aber was hilft's, daß wir's aussprechen sie glauben uns in der Regel doch nicht. -

V.

Aber Sulamith soll doch wieder getrost werden, und zur Ruhe kommen. Dazu empfängt sie von ihrem Herrn jetzt einen guten Rath; und der lautet? Zuvörderst: „Gehe hinaus.“ Hinaus soll sie gehen.-Und wohinaus denn? Hinaus aus ihr selber. Ja, ja, unaussprechlich viel geistige Bedrückung, die unter uns vorkommt, rührt lediglich daher, daß wir uns in uns selber, wie in einen Sack, festgelaufen haben - und mit unsern Blicken nur an unserm Elend, nur an unsern Gebrechen hangen bleiben. Freilich sollen wir täglich und stündlich unsere Erbärmlichkeiten, Sünden und Elend betrachten, und gleichsam in unsern Herzen wohnen; aber es muß auch ein Fensterlein drin sein, aus dem wir hinaus schauen nach Morgen. Viele betrachten ihr Elend so, als ob es weiter nichts zu betrachten gäbe; als ob weder draußen ein Kreuz stände, noch ein Blut dran herunterflösse, das von allen Sünden rein wäscht. Sie schauen ihr Verderben an, als ob ihm auf Golgatha nicht gesteuert wäre; als ob kein Gottessohn bis auf den letzten Heller all' unsre Schulden bezahlt; als ob sich in Christo kein Vater und Menschenherz im Himmel aufgethan hätte - und keine freie Gnade vorhanden wäre, die den Gottlosen gerecht macht, und nichts fordert, sondern Alles schenken will. Was kann aus solch' einer einseitigen Betrachtung unsres Elends wohl anders hervor gehen, als Angst und Bedrücktheit? - Gehe hinaus, liebe Seele, aus dem düstern, trübseligen Winkel deines armen Herzens, und lustwandle ein wenig herum im Gethsemane, auf Gabbatha, und unterm Fluchholz auf Golgatha; und beschaue das Hochzeitskleid - das herrliche - das da bereitet wird, und das die ewige Liebe jedem verlangenden Sünder, mag's in seinem Innern noch so jämmerlich aussehen, darbietet. Solche Anblicke und Beschauungen werden dir, trotz des winterlichen Wesens, das in dir ist, die Flügel deines Muthes wieder wachsen machen. - Gehe hinaus auch aus deinen großen Ansprüchen. Du begehrest dir zu große Dinge, und mehr, als den Kindern Gottes für diese Welt verheißen ist. Du willst schmücken und schauen, - ei hier ist die Zeit des Glaubens. Fort, fort aus diesen Prätensionen! Du willst Süßigkeiten und Himmelsfreuden? Ei, sei froh, armer Sünder, wenn du Gnade hast - und an der Gnade laß dir genügen. Du mögtest, daß der Herr dich führte, wie du es gerne sähest. Heraus - heraus aus diesen Wünschen! bringe sie zum Opfer. Heraus aus dem eigenen Willen - und hinein, still, kindlich hinein in den Willen Gottes! Laß Ihn mit dir machen; oder willst du sein Rathgeber sein? Laß Ihn für dich sorgen -so fährst du am besten. Seht, dies Alles begehrt der Herr, wenn Er daherruft: „Gehe hinaus!“ - Wie lautet nun der Rath des Herrn weiter? - „Gehe aus die Fußstapfen der Schafe,“ spricht Er. Auch dieser Zuruf, worauf zweckt er anders ab, als der bedrückten Sulamith den Frieden wieder zu geben. Zunächst liegt darin eine ernste Zurechtweisung, derjenigen ähnlich, die einstmal dem Simon Petrus gegeben wurde, da auch dieser mit der Führung, die der Herr ihm bestimmt hatte, nicht wohl zufrieden war, und im Blicke auf Johannes, dem so rauhe Wege nicht vorgezeichnet wurden, sich die Frage erlaubte: „was soll denn dieser?“ Da sprach der Herr zu ihm: „was geht es dich an; folge du mir nach.“ Dasselbe sagt Er zur Sulamith in den Worten: „Gehe auf die Fußstapfen der Schafe. Siehe, wie Schäflein es machen. - Die gehen nicht, wohin sie wollen; sondern folgen still und schweigend ihrem Hirten. Sulamith, mache du es auch so, mein Schäflein. Erwäge, was zu geschehen pflegt, wenn ein Lamm sich ein wenig von der Heerde verirrt; dann fliegen ihm sofort die Kiesel nach, aus der Schleuder des Schäfers, und der Hund wird hinterher gesandt. Auch so etwas erfährt man in meinen Wegen.“ Seht, das wollte ihr der Bräutigam zuförderst andeuten. Aber zugleich wollte Er ihr auch einen Weg zeigen, auf dem sie wieder getrost werden könnte. „Ja, will Er sagen, du kennst dich nicht mehr, du Schönste unter den Weibern, das sehe ich wohl. Du bist ein Kind Gottes; aber du glaubst es nicht mehr - du bist dir selbst ein Fremdling, eine Unbekannte. Du bist von Neuem geboren - aber du weißt nicht mehr darum; du bist mit meiner Gerechtigkeit bekleidet, und hast allen Grund, vergnügt zu sein; aber du kannst es nicht annehmen. Und warum nicht? Weil du dich so dürre fühlst - und das geistliche Leben steht nicht in der Blüthe. Aber das ist kein Grund zum Zagen. Gehe hinaus auf die Fußstapfen der Schafe.“ Und Sulamith wird es gethan haben - wird hinausgegangen sein auf die Fußstapfen der Schafe. Aber was heißt das? Sie hat andern Kindern Gottes nachgeschaut, und die Wege der Heiligen betrachtet; und was hat sie da gefunden? Daß sie kein einsamer Vogel auf dem Dach - und ihre Führung nichts Absonderliches und Ungewöhnliches sei. Wo fand sie die Fußstapfen der Heiligen? Ach! ja nicht immer aus grünen, fetten Triften; sondern meist in tiefen Hohlstraßen, auf dunkeln Kreuzeswegen, in dürren Wüsten und unerquicklichen Einöden. Die auserwähltesten Gottesknechte hörte sie seufzen: „Ach, meine Zunge klebet mir an meinem Gaumen - und ich bin in mir vertrocknet, wie ein Scherbe!“ Die heiligsten Lieblinge des Herrn sahe sie am Staube liegen, stöhnend und wimmernd: „Wie soll doch dieser Knecht mit diesem meinem Herrn reden, da nun kein“ Kraft mehr in mir ist - und habe keinen Odem mehr.„ Und dennoch, wie elend sie waren - der Herr blieb bei ihnen; und sie hießen nach wie vor: Leute nach dem Herzen Gottes, seine Augäpfel, und seine Lieblinge. Aber zu seiner Zeit traten auch wieder Erquickungsstunden ein in ihr Leben, und Regengüsse träufelten aus die verbrannten, schmachtenden Matten; und endlich, nach aller Krüppeln aus Erden, leuchteten die Fußstapfen derselben doch auf Wolkenbahnen, zwischen den Sonnen und Gestirnen, und standen mitten im Paradiese, am Thron der Herrlichkeit, und unter den heiligen Engeln. Solches fand die liebe Sulamith. Ei, wie erquicklich und beruhigend war ihr das, daß ihr Weg der Weg Aller gewesen sei, die Canaan gefunden. Nun, dachte sie, wird der Herr auch noch bei mir sein - und auch mein Weg ist ein Gottesweg. Ich will denn stille halten; wird es doch auch mit mir noch herrlich enden. So dachte sie - und hatte ihren Bräutigam wieder - wenn auch im Dunkeln; sie konnte wieder glauben, daß Er sie dennoch bei seiner Rechten halte; und der Hinausgang auf die Fußstapfen der Schafe war ihr gesegnet und tröstlich gewesen.

Nun, ihr lieben Bekümmerten, die ihr mit Sulamith in demselben Stande der Mittagshitze und der Beraubung euch befindet, thuet ein Gleiches. Gehet hinaus mit euren Blicken und Betrachtungen aus euren Herzen und weg von eurem Elend; und tretet an das brausende Meer der Barmherzigkeit und Liebe, das auf Golgatha woget; solche Beschauung wird schon eine angenehme Veränderung in euch hervorbringen, und euch andere Gedanken machen. Dann begebet euch auf die Fußstapfen der Schafe, und nehmet wahr, daß eure Wege auch die Wege der ausgezeichnetsten Heiligen waren. Das richtet auf, das erfrischt den Muth, erneuet die Hoffnung.

Dann weidet eure Zicklein - eure jungen Lämmer, bei den Hirtenhäusern. Die Braut wird hier verglichen mit einer Schäferin, die eine Menge hungernder Lämmlein habe. Es hungert ihr Herz; es hungert ihr Geist. Es hungert ihr Verstand nach Ausschluß über solche dunkeln Wege; ihr Gemüth nach Gewißheit über die Nähe des Herrn; es hungert den matten Glauben nach Stärkung; die glimmende Hoffnung nach Nahrung; die verlodernde Liebe nach neuer Entzündung. Nun - diese müden Schäflein, auch ihr sollt sie weiden bei den Hirtenhäusern. Die Hirten, das sind die Menschen Gottes, die geredet haben durch den heiligen Geist; die alten Väter und Propheten, die Evangelisten und Apostel; und wo sie sitzen, und reden, und lehren, und trösten, in ihren Offenbarungen, in ihren Predigten, in ihren Erzählungen, Aussprüchen und Briefen: da -da stehen ihre Häuser; und da sind grüne Triften - da ist Weide in Fülle. Da vernehmt es, daß Gott treu sei und daß Er seiner Schäflein, ihrer Verlöbnißliebe, und ihrer Uebergabe im Anbeginn des Gnadenstandes ewig zum Guten gedenke, - selbst dann, wenn sie die erste Liebe verlassen hätten; da lasset euch sagen, wie der ganze Grund unserer Hoffnung nicht in - sondern außer uns liege. Das wird euch eine Herzstärkung gewähren, und in den Stand euch setzen, euch wenigstens noch eine Weile zu gedulden, bis es Gott gefällt, auch wieder mit empfindlichen Gnaden euch zu überschütten. - Ermuntert euch denn, ihr betrübten Sinne! Erneuere deine Bekanntschaft, Sulamith, mit dir selbst. O kenne dich doch wieder, du Schönste unter den Weibern, in deinem Purpur und Geschmeide; und warte nur ein wenig: ehe du dich's versiehst, stehen auch deine Füße, nach allem Schwanken und Krüppeln - in den goldenen Gassen des himmlischen Jerusalem im Lande der ewigen Sabbathruhe. O süßes Endziel aller Klagen, aller Nöthen! Der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es höret, der sage: Komm! Und der Bräutigam ruft: Ich komme bald! Ja: komm, Herr Jesu! - Amen.

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