Krummacher, Friedrich Wilhelm - Wozu kam Christus?

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Wozu kam Christus?

Predigt über Matthäus 9,9-13., gehalten den 22. August 1852.

Und da Jesus von dannen ging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus, und sprach zu ihm: Folge mir. Und er stand auf und folgte ihm. Und es begab sich, da er zu Tische saß im Hause, siehe, da kamen viel Zöllner und Sünder, und saßen zu Tische mit Jesu und seinen Jüngern. Da das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isset euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Da das Jesus hörte, sprach er zu ihnen: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Gehet aber hin und lernet, was das sei: Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer. Denn ich bin nicht gekommen die Gerechten, sondern die Sünder zur Buße zu rufen.
Matthäi 9,9-13.

Eine einfache, unscheinbare Geschichte, diese Erzählung von der Berufung unsres Evangelisten und Apostels Matthäus; aber welch’ eine Fülle köstlicher und herzerquicklicher Wahrheiten dämmert bei näherer Erwägung aus ihrer Tiefe uns entgegen! Wer darüber etwa noch nicht im Klaren wäre, zu welchem Ende der Herr Christus in die Welt gekommen sei, dem ist hier Gelegenheit geboten, im Wege eigner Anschauung es zu erfassen. Wie aus unserm Vorgange erhellt, kam der Herr zuvörderst: Nicht um eine Schule zu stiften, sondern um eine Gemeinschaft zu gründen; ferner: Nicht um das Erdenleben uns zu verkümmern, sondern um dasselbe uns zu würzen und zu weihen; sodann Nicht um die Menschheit zu zersprengen, sondern sie zu verschmelzen und zu einigen; zum vierten: Nicht um nach Gerechten sich umzusehn, sondern um den Sündern Hülfe zu bringen; und endlich: Nicht um Joche aufzulegen, sondern Joche abzunehmen und uns zu dienen.

Wie herrliche Dinge dies! Einer aufgehenden Sonne gleich steigt die Heilandserscheinung Jesu in ihrer vollen Schöne aus dieser Geschichte vor uns empor. Laßt uns die Wahrheiten, die das holde Evangelium in sich birgt, näher in’s Auge fassen. Der Herr selbst aber segne unsre Betrachtung, und locke und lade durch sie an Sein Herz, was diese einzige Ruhestatt unter dem Himmel noch nicht gefunden hat!

1.

Beim galiläischen Meere weilt der Herr. An welchem Punkt, in welchem Flecken, wird nicht gemeldet. Genug, an einem Zollhaus kommt er vorüber, und wie er dort den Zöllner Levi Matthäus sitzen sieht, winkt er ihm. – Heil dir, Matthäus! – huldreich grüßend zu, und spricht: “Folge mir!“ – Ein rasches Verfahren dies! Scheint Er da sich doch eine unreife Frucht vom Baum zu schlagen. Aber seid unbesorgt. Nie noch verthat Er sich, der Herzenskündiger, der die Seinen kannte; und überall wußte, was im Menschen war. Sein “Komm!“ schlug in dem Zöllner nicht mehr an einen todten Klotz. O, wohl länger schon hing dem Manne sein Schuldregister schreckhaft wie ein entrollter Fluchbrief vor den Augen. Hätte er nicht schon längst insgeheim bei sich gesprochen: „Herr Jesu, wüßtest du auch für einen Ausbund, wie mich, noch Rath und Hülfe, zu deinen Füßen sänke ich hin und stände in Ewigkeit nicht wieder auf“, wie würde er schon auf das erste “Folge mir!“ so unverzüglich, wie er that, seine Zöllnerbude geschlossen, und zu des Meisters Fahne geschworen haben? Nicht Jeder freilich sah es dem Einnehmer auf seinem hohen Amtssitze an, daß er, und zwar nicht erst seit gestern und ehegestern, vor Gott auf dem Armensünderbänklein saß. Und doch saß er da; und wäre es Einem vergönnt gewesen zu allen Stunden in sein Kämmerlein hineinzulauschen, man würde neben dem Klange der Gold- und Silberscherben wohl auch noch andre Töne vernommen haben.

Achtet nun vor Allem auf die Rede des Herrn. Wie er allewege kurz von Worten war, aber unergründlich tief von Sinn, so auch hier. “Folge mir,“ spricht er. Da merken wir schon gleich, daß hier kein Plato spricht, kein Pythagoras, kein Aristoteles, noch sonst kein Weiser dieser Welt. Diese pflegten und pflegen sich mit Aufforderungen anderer Gattung anzukündigen. „Schließet euch ab,“ lauten ihre Werberufe; „versenkt euch denkend in unsre Philosopheme; geht in unsre Ideenkreise ein; überzeugt euch von deren Wahrheit, und bekennt euch zu unsren Satzungen und Systemen!“ - Er dagegen spricht: “Folge mir!“ Nicht den Kopf nur will er in Bewegung gesetzt sehen, sondern auch die Füße; nicht blos die Gedanken ruft er in seine Bahn sondern den ganzen Mann. Praktischen Anschluß fordert er, nicht blos ideellen; Zusammen-leben mit ihm, nicht blos Zusammen-stimmen. Es gibt, zumal in der vornehmen Sphäre der Theologen auf Kathedern und Kanzeln, immer noch der Christen gar viele, die durchaus dafür zu halten scheinen, es habe Christus nur, wie die Meister der Wissenschaft nach dem Fleisch, eine Schule stiften wollen. So studiren sie denn seine Lehre, und thun sich was damit, daß sie derselben ihren Beifall zollen, und bringen sie fein in Gliederung und Systeme, und dociren sie Andern wieder vor, wie sie sie selbst erfaßten. Aber hierauf beschränkt sich denn auch ihre evangelische Thätigkeit. Weiter reichen die Grenzen ihres Christenthumes nicht. Im Betkämmerlein suchen wir sie auf, aber da finden wir sie nicht; auf dem Wege der Selbstverleugnung, aber sie leben mit der Welt; in der christlichen Brüdergemeinschaft, aber wir gewahren nicht, daß sie die Brüder lieben; in den Nothständen des Lebens, aber sie gebehrden sich da nicht anders, als diejenigen, die „keine Hoffnung haben;“ dem Tod und Grabe gegenüber, aber sie ermangeln des Glaubens, der dem Schreckenskönige seine Rüstung nimmt. – O, mit der Stimme des Donners möchten wir hineinrufen in die Studirstuben dieser Leute: „So spricht der Herr: Folge, folge mir!“ Dieses “Folge mir!“ besagt unendlich mehr, als ein „Heiße meine Weisheit gut,“ als ein „Bekenne die Kirchenlehre!“ Ach, wenn ich alle Geheimnisse wüßte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz und eine klingende Schelle. Nein, nicht eine Schule zu stiften, kam der Herr, sondern eine Gemeinschaft zu gründen erschien Er; eine Gemeinschaft die Welt verleugnender, Ihm rückhaltlos hingegebener, in unablässigem Gebetsverkehr mit Ihm verharrender, an den Winken Seines Auges haftender, in Seinem Blut und Geist sich täglich erneuernder, auf Ihn alleine hoffender, und auf Seine Schultern sich lehnender Gotteskinder. Er der Magnet, von dem sie sich allaugenblicklich angezogen, die Sonne Er, von der sie sich wohlthuend beschienen fühlen. Er der Quell, aus dem ihre Seele tagtäglich getränkt, der Paradiesesbaum Er, durch dessen Himmelsfrüchte ihr inneres Leben genährt und erhalten wird. Er die Henne, und sie die Küchlein unter deren Flügeln; Er der Hirte, und sie die Heerde, die Er weidet. Er bei Allem ihr Augenmerk, ihr Leitstern, der Fels, auf den sie bauen, der Mann ihres Herzens, an dem sie hangen. Wisset, dieses Alles liegt in dem einen Wörtlein: “Folge mir!“ – Matthäus folgte, d.h. er ward mit Leib und Seele im Leben und im Sterben ganz des Herrn Jesu eigen.

2.

Wie überglücklich ist der Mann! Wer will ihn beschuldigen, wer verdammen? Als einen neuen Menschen fühlt er sich. Er muß seinen zweiten Geburtstag festlich begehen, und auch Andern sagen, welch’ lieblich Loos ihm, dem wie ein Brand aus dem Feuer Gerissenen, gefallen sei. Er veranstaltet zu dem Ende ein Mahl in seinem Hause, und ladet in der Freude seines Herzens unbedenklich auch den Herrn Jesum dazu ein. Und dieser? – „hebt wahrschauend den Finger gegen ihn auf? verweist den neugeworbenen Jünger in die Wüste oder in eine Klosterzelle? leitet ihn an zu Pönitenz und Fasten? ermahnt ihn zur Geistlichkeit der Engel?“ – O nicht doch! der Herr Jesus nimmt die Einladung an und kommt. Ja seht, da sitzt er schon mitten unter den Gästen an des Zöllners Tisch, und isset und trinkt und unterhält sich mit ihnen auf das leutseligste, Er, der so oft als ein Freudenstörer verschrieen wird, obwohl er doch ausdrücklich bezeugte: „Euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll Niemand von euch nehmen.“ Nein, daß Er das Dasein uns nicht verkümmere noch vergälle, dafür werdet ihr Alle einstehn, die ihr zu seiner Fahne schwuret. Freilich in’s Schauspielhaus hat er nie noch Jemanden weder gewiesen, noch begleitet; in den Ballsaal, denke ich, ebensowenig. Auf die Weltgelage hat er uns den Schatten des reichen Mannes und seines Endes, auf die Tanzbretter den des Ballets im Palaste des Herodes, auf alles Wohlleben im Fleische überhaupt, den Schatten jenes Narren fallen lassen, welchen inmitten seines Behagens die Eröffnung ereilte: „In dieser Nacht wird man deine Seele von dir fordern!“ – Im Uebrigen ist der Herr der Herrlichkeit so weit entfernt, das irdische Dasein uns zu verbittern und zu trüben, daß Er es vielmehr nur lichtet, würzt und weiht, und mit himmlischem Sonnenglanze es überbreitet. Vergegenwärtigt euch nur, um eine Ahnung davon zu gewinnen, neben dem Jubel unsres Matthäus, die Hochzeit zu Kana, das Familienglück in Bethanien, die erquickliche Herzensgemeinschaft, in der seine Jünger miteinander lebten, die seligen Begegnungs- und Begrüßungsscenen während der vierzig Tage nach der Auferstehung. Wie ideal ist die Welt, die hier sich vor uns aufthut! Wie hold, und überirdische Freude athmend sind die Bilder, die uns hier entgegentreten! O köstliche Geselligkeit, da man vor Seinem Angesichte sich zusammen weiß, und miteinander in den Wunderstrahlen Seiner Liebe sich sonnet! O süße Unterhaltung, die um Ihn als um ihren Mittelpunkt sich bewegt, und wie im Lerchenfluge emporsteigend über die Höhen der Erde, im Morgenroth der Ewigkeit sich badet! O herrliche Freundschaften, in welche Er als der dritte Mann mit hineingenommen wurde, und die von ihm geheiligt und gesegnet werden! Beglückte Ehen, in denen die gemeinsame Liebe zu Ihm das Band ist, das die Herzen umschlingt, und welchen Er den Stempel der Unsterblichkeit aufdrückt! Paradiesische Häuslichkeit, die Er mit Seinem Frieden, mit Seinem Trost und mit Seiner immer nahen Hülfe durchwebt und durchwaltet! Müheloses Tagewerk, bei dem man sich in Seinen Diensten weiß, und als unter seinen segnenden Augen munter die Hände rührt! O, wie Er Alles verschönt, und Allem erst Gehalt und Kern gibt! Schon diesseits ist Er der rechte Freudenmeister; und wer irgend seines Lebens wahrhaft froh zu werden wünscht, dem ist ein besserer Rath nicht zu ertheilen, als daß er zu Ihm sich halte, und nach dem Bürgerrecht in seinem Reiche trachte.

3.

Sehen wir uns jetzt die Gäste des Matthäus etwas näher an. Es muß zugegeben werden, daß es die glänzendste Tafelrunde nicht ist, die wir hier vereinigt finden. Fast lauter niederes und obendrein anrüchiges Volk begegnet uns an seinem Tische. Grenzwächter meist, Zollpächterknechte, Heiden sowohl, wie Juden, schuldbeladen alle; aber mehr oder minder auch wohl alle, wie ihr Geselle Matthäus heils- und erlösungsdurstig. Da sitzt nun der Heiland mitten drunter. „Ist es möglich?“ Ei, schaut doch nur. Er ist so zurückhaltend und vornehmthuerisch nicht, wie wir. Jedoch für einen Mann, in dessen Fähnlein etwa ein modern communistisches “Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ wehte, müßt ihr ihn eben auch nicht halten wollen. Auch in Seinen Augen bestehen Unterschiede des Vermögens, des Standes und des Ranges, und sollen fortbestehen. Auch er kennt Hohe und Niedere, Angesehne und Geringe, Herrn und Knechte, Gebieter und Unterthanen; und Er ist nicht gekommen, diese Schranken niederzureißen, sondern vielmehr sie aufrecht zu erhalten und zu heiligen. Aber wisset: „Proletarier“, „Parias“ (mit welchem Namen bekanntlich die Indier diejenigen bezeichnen, die, weil sie keiner ihrer Kasten angehören, kaum für Menschen geachtet werden,) Da - - doch nein, meine Zunge sträubt sich, dieses häßliche Wort vor euch auszusprechen, - giebt es für ihn nicht, außer etwa auf dem sittlichen Gebiete, wo freilich auch Standespersonen und Würdenträger höchsten Ranges unter dieses Rubrum fallen können. Sonst aber kennt er keine Menschen, die, wie die Gefangenen in den sibirischen Bergwerken nur eine Nummer, aber keinen Namen hätten. Von einer Bevölkerungsschicht, die, ausgeschlossen von jeder höheren Bestimmung, gleich den tauben Blüthen oder den Wasserblasen lediglich existirten, um nach kurzem Erscheinungsdasein wieder der Vernichtung anheimzufallen, weiß Er nichts, und wird mit Blitze sprühender Lippe einst zu denen reden, die davon wissen wollten. Wo er ein menschlich Antlitz sieht, und wäre es das entstellteste, da gewahrt er auch den Stempel der Unsterblichkeit und der himmlischen Berufung. In Seiner Anschauung ist Keiner, wer immer er auch sei, nur um Anderer, sondern ein Jeder zuerst und vor Allem um sein selbst willen da. Er will eine jede Persönlichkeit, auch die armseligste, eben als eine Persönlichkeit geachtet, und eine jede Individualität, wie obscur sie sei, und in welchem Kellerloch sie kau’re, als mitzählend unter den für die Ewigkeit geschaffenen Wesen betrachtet sehn. Den König und den allergeringsten Tagelöhner in der Würde freier, im Himmel angeschriebener, mit dem Rechte unmittelbaren Zugangs zum Gnadenthrone ausgestatteter, und zum Erbtheil der Heiligen im Licht berufener Gotteskinder zu einigen, und in ein Bündlein der Gerechten zusammenzubinden, das ist sein Absehn. So zersprengt er die Menschheit also nicht, sondern verknüpft sie erst. Auch dies tritt bei dem Festmahl des Matthäus auf das Lieblichste in die Erscheinung. Er kam, um innerhalb der nach Gottes weisem Rath bestehenden gesellschaftlichen Ueber- und Unterordnungsverhältnisse ein den Hohen und den Niedern, den Herrn und den Knecht umschließendes inniges Haus- und Familienwesen in Gott zu gründen. Dieser Bund geistlich ebenbürtiger Brüder und Mitgenossen der Herrlichkeit besteht dem Anfange nach schon wirklich. Helfe Gott in Gnaden, daß er sich mehr und mehr auch thatsächlich offenbaren und bethätigen möge!

4.

Das Mahl ist gehalten. Die Gäste kehren fröhlich heim. Da drängen sich die Pharisäer an die Jünger heran, und sprechen vornehm die Nase rümpfend, aus der Finsterniß ihres Herzens heraus: “Warum isset euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?“ Der Herr Jesus hört die hämische Einrede der aufgeblasenen Heuchler, und ist gleich mit der Antwort zur Hand; und die Antwort hat Hörner und Klauen. In drei Theile zerfällt sie. Zuerst dient er den Hämischen, zur Erklärung seines Verhaltens gegen die Zöllner und Sünder, mit einem bekannten Sprüchwort. “Die Starken“, spricht er, “bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.“ Sodann hält er den eingebildeten Schriftgelehrten zu ihrer Beschämung, ein Wort des Alten Testamentes, ein Jehovaswort durch den Mund Hoseas, vor, und ersucht sie, hinzugehn, und dasselbe einmal näher erwägen zu wollen. Das Wort lautet: “Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer, d.h. zu geben kam ich, nicht zu nehmen; euch Gnade zu spenden, und nicht mir aufwarten zu lassen durch euch. Endlich, das genannte Gotteswort sich selbst, als dem andern Ich des lebendigen Gottes, zueignend, schließt er, die sprichwörtliche Rede deutend, mit dem bestimmteren Ausspruch: “Ich bin nicht gekommen, Gerechte, sondern die Sünder zur Buße zu rufen!“ Habt ihr vernommen? Ihr, die ihr der Klasse der erstern beigehört, habt mithin mit dem Herrn Jesu so wenig mehr etwas zu schaffen, wie er mit euch. Laßt Ihn gehen, wie er euch gehen läßt! – „Wie“, entgegnet ihr, „so brauchten wir nicht mehr an Ihn zu glauben?“ Nein, Freunde; denn wozu das noch? – „Und brauchten Seine Feste nicht mehr mit zu feiern, noch sein Abendmahl mehr zu halten?“ – Bewahre! Ihr dürft ja ohne Mittler vor Gott euch sehen lassen. Christi Krippe, Kreuz und Grab sind für euch, was für den reichen und gesunden Mann die Armenhäuser und Hospitäler, die man da und dort errichtet. Was wollt ihr groß darum euch kümmern? Ihr könnt euern Gedanken eine nützlichere Richtung geben, als auf die alten bethlemitischen, nazarenischen und jerusalemitischen Geschichten. Geht denn nur hin, und freuet euch der Höhe, auf der ihr steht, und auf welcher euch zu inkommodiren dem Heiland nimmer einfällt. - - Ihr schweigt? Ihr seht mich stutzend an? – Ihr meint, ihr hörtet Reden des Hohns aus meinem Munde? – Wie, traut ihr etwa euerm Handel selbst nicht recht? – Nein, gesteht es nur, ihr traut ihm nicht. Ihr fühlt den Stachel einer ungeheuern Ironie in dem Worte, in welchem der Herr von Gesunden spricht, die des Arztes nicht bedürften, und von Gerechten, welche er zur Buße zu rufen nicht gesonnen sei. Es fehlt euch der Muth, an das Dasein solcher Gesunden und Gerechten zu glauben; und vollends fehlt er euch, euch selber ihnen beizuzählen. Ihr müßtet ja auch mit Wahnsinn geschlagen sein, wolltet ihr euch rühmen, je und je Gott den Herrn von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüthe und aus allen Kräften, und euern Nächsten als euch selbst geliebt zu haben; denn gerecht vor Gott sind diejenigen nur, die Solches thaten. Rasend müßtet ihr sein, wolltet ihr zu sprechen euch erkühnen: „Wer kann uns einer Sünde zeihen?“ ihr, die der Richter in eurer Brust als Menschen verdammt, die nie der Gebote Gottes eins gehalten, wie Gott in seiner unerbittlichen Forderung sie gehalten wissen will. Aber das ist euer Unglück, daß in euerm Herzen, wie in Millionen andern neben euch, Furcht und Unbußfertigkeit, dumpfes Schuldbewußtsein und erlogene Selbstrechtfertigung immer Hand in Hand gehen. Das ist euer Unglück, daß ihr der Wahrheit, die sich in euch geltend macht, nicht Raum, und daß ihr euch nicht blos geben, noch es Wort haben wollt, daß ihr keine Gerechte seid, obwohl ihr euch heimlich einzugestehen genöthigt fühlt, daß ihr in der That und Wahrheit keine seid.

Ach, wer sind wir im Lichte des Gesetzes angesehen, auf der Waage des Heiligthums gewogen? Allesammt Geschöpfe, nicht werth, daß die Sonne sie bescheine. Bei allem Firniß der Gesittung, mit dem unsere äußere Erscheinung vielleicht überzogen ist, Gottvergessene, Selbstische, Unreine, Heuchler, und so verdüstert zugleich in Hochmuth und Bettelstolz, daß wir’s ohne Erleuchtung vom Himmel nicht einmal einsehn, wer wir sind; und so tückisch und wahrheitsfeindlich obendrein, daß wenn einmal, Angesichts des Todes und der Ewigkeit etwa, ein Gefühl unsres wahren verlorenen Zustandes in uns erwachen will, wir sogleich mit den Beschwörungsformeln aller möglichen Selbstbelügungskünste darüber herfallen, als gölte es, einen Teufel aus uns auszutreiben. O Jesu, wenn Du nicht gekommen wärest! - - Doch lauschen wir Seiner Rede! „Die Gesunden“, spricht er, „bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.“ – „Ich habe Lust an Barmherzigkeit, und nicht am Opfer.“ – „Ich bin gekommen, nicht Gerechte, sondern die Sünder zur Buße zu rufen!“ – O himmlische Musik dies! O Wunderklänge entzückend sonder Gleichen! Ja, für Zöllner und Sünder kam er, nicht für Gerechte! Für Todtkranke, wie du und ich, nicht für Gesunde! Und je kränker, desto mehr geeignet, seiner ärztlichen Herrlichkeit zur Folie zu dienen! Und je sündiger, desto geschickter, den hohen Leuchter abzugeben, auf welchem Er den Glorienglanz seiner freien Gnade entfalte! O, daß wir nur einmal erst Alle zu Seinen Füßen lägen! Zu Seinen Füßen wir Alle, mit dem Stachel der Selbstverdammung in der Brust, mit dem thränenfeuchten Schuldbekenntniß auf der Lippe! Denn einmal muß es dahin kommen, daß man uns an diesem Plätzlein liegend finde; oder man sieht uns stehen einst, wo der reiche Mann steht, und nach einem kühlenden Wassertropfen für seine brennende Zunge vergebens lechzet. Einmal muß zu seinen Füßen unser Lebensweg sich niederneigen, oder er neigt sich nieder in jene ewigen Wüsten, wo das Licht der Erbarmung, das hier uns noch umleuchtet, für immer erloschen ist. Nieder vor Ihm in den Staub, und nicht erst hinauf zu dieser oder jener Tugendhöhe! Nein, dorthin zuerst, dorthin vor Allem! Dies ist der von Gott verordnete Heils- und Rettungsweg für uns. Dort aber sind wir denn auch geborgen, und zwar geborgen für immer. Da schlägt bald der Zuruf an unser Ohr: „Sei getrost; gehe hin mit Frieden! deine Sünden sind dir vergeben.“ Da vernehmen wir die beseligende Botschaft, daß Gott uns nicht mehr kenne nach dem Fleisch, sondern, in der Gerechtigkeit seines Sohnes, unseres Bürgen, uns anschauend, mit Seiner ganzen Vaterliebe uns umfasse. Da richten wir uns auf, und siehe, an Stelle des Schuldgefühls erblühte in unserer Brust das Paradies des göttlichen Kindschaftsbewußtseins. Da heben wir den Blick empor, und was gewahren wir? Leuchtende Friedenshütten mit unserem Namen bezeichnet am Throne des Grundbarmherzigen und Alleinseligen in der Höhe. Dieses Alles, und wie viel Mehreres sonst, verdanken wir der blutigen Vermittlung Dessen, der, absehend von den Gesunden, nichts, nichts sein wollte, als ein Arzt der Kranken. So, ja so kam er, nicht, daß er Gerechte suche, sondern den Sündern helfe. Und er hilft herrlich und überschwenglich bis diese Stunde. Jauchzet ihr Zöllnerbrüder, ihr Schwestern Magdalenens, frohlocket!

5.

Richten wir schließlich noch einen Blick auf das vom Herrn citirte alttestamentliche Wort: “Ich habe Lust an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.“ Der Herr nennt uns hiermit gleichsam das Losungswort, das er für Seinen Verkehr mit uns sich ersehen hat. Er bezeichnet uns in jenem Ausdruck das Charakteristische und Eigenthümliche seines Verhältnisses zu den Seinigen. Die Anwendbarkeit des Wortes beschränkt sich nicht auf den Beginn ihrer Bekehrung, nicht auf den Moment ihrer ersten Begnadigung; sondern es gilt vielmehr für den ganzen ferneren Fortgang ihres Glaubenslebens. Bis zum Schlußpunkte unserer Laufbahn sollen wir wissen, Er habe Lust zur Barmherzigkeit und nicht am Opfer, d.h. uns zu dienen sei er zur Hand, und nicht unsre Dienste, Leistungen und Darbringungen erst abzuwarten. Die Sache hat sich nicht so, als würde, nachdem Er uns zu Gnaden angenommen, das Werk der fortgesetzten Heiligung, Weltüberwindung und Verharrung auf dem schmalen Wege nun uns als ein Joch und eine Zwangspflicht auferlegt. O nein; Er bleibt unverrückt derselbe, als den wir ihn im Anfang kennen lernten. „Dienen, erfreuen, heilen und segnen, Und Seinen Jüngern mit Huld begegnen, bleibt seine Lust.“ Nichts muthet er uns zu, wozu er nicht die Kosten herschießt. Alle Tage, alle Stunden geht Er mit dem offenen Schatze seiner Gnadenkräfte neben uns her. Täglich wäscht Er uns die vom Wandel durch die Welt neu bestäubten Füße. Tagtäglich spricht er traulich mit der Frage bei uns ein, womit Er sonst uns dienen könne? Alltäglich haucht Er, kehren wir unser Angesicht Ihm zu, uns neu mit seinem schöpferischem Odem an. Täglich wandelt Er im Kampfe des Lebens gerüstet uns zur Seite, um den Satan unter unseren Füßen zu zertreten. Täglich erbeut er sich uns zur Stärkung unsres Glaubens, zur Nahrung unsres Muths, zur Frischung unsres Kindschaftsbewußtseins. Dienen will Er, und am Dienen bleiben; und allerdings begehrt er Trauben zu lesen von den geistigen Rebenstöcken seines Weinbergs; aber nur als Früchte Seiner hütenden, reinigenden und befruchtenden Gärtnerpflege.

So wissen wir denn, Geliebte, wozu Er kam, und was wir an Ihm haben. Haben wir doch schlechthin Alles an Ihm, was wir bedürfen, und ungleich mehr noch, denn Dieses. Paulus spricht Epheser 2,7. mit Recht von einem “überschwänglichen Reichthum“ der Gnade Gottes in Christo.“ Wer Seiner Gnade theilhaftig worden ist, darf mit demselben Apostel 2 Corinth. 7.4. frohlocken: „Ich bin erfüllet mit Trost, ich bin überschwänglich in Freuden!“ – Wehe hingegen Denen, die vermessen Ihm den Rücken kehren! Freunde, es geht in unsern Tagen ein Gericht durch die Welt, daß, die an Ihn sich nicht halten, durch des Teufels List und Macht, ehe sie sich’s versehen, dem Atheismus verfallen, und unaufhaltsam bis zur absoluten Gottlosigkeit und religiösen Versumpfung verschlagen werden. Es bleibt kein Raum mehr für ein Stillestehn in einer sogenannten “goldenen Mitte.“ Es geräth nicht mehr, daß man, wie weiland, in einem halbgläubigen Rationalismus haften bleibe. Die Fluth des neuesten Zeitgeistes treibt ihre unglückseligen Opfer jach über diesen unsichern Ankergrund hinweg in’s wüsteste Extrem hinaus. Wir stehn, wie Petrus einst, auf brandendem Meer, und ergreifen entweder Jesu Retterhand, oder fahren unrettbar hinab in bodenlose Schauertiefen. Bedenke drum ein Jeder, bevor auch ihm der Gnadentag sich neigt, was zu seinem Frieden dient. O, rufe Immanuel selbst euch Allen, die ihr’s noch nicht vernahmt, mit der Ueberwinderstimme seiner allmächtigen Gnade Sein, “Folge, folge mir!“ in’s Herz; und ihr, sobald dieser Werberuf vor eurem innern Ohr ertönt, widerstrebet ihm nicht, sondern neiget Knie und Haupt, gebt eurem Friedensfürsten Herz und Hand, und lernet mit der Braut im Hohenliede sagen: Ich halte Ihn und will Ihn nicht lassen, bis ich Ihn bringe in meiner Mutter Haus, in meiner Gebärerin Kammer.“ Amen. –

Quelle: Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Sabbathglocke

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