Krummacher, Friedrich Wilhelm - Wir kommen wieder auf!

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Wir kommen wieder auf!

Freue dich nicht über mich, meine Feindin, daß ich darnieder liege; ich werde wieder aufkommen: und so ich im Finstern sitze, so ist doch der Herr mein Licht. Ich will des Herrn Zorn tragen, denn ich habe wider ihn gesündigt: bis er meine Sache ausführe, und mir Recht schaffe; er wird mich ans Licht bringen, daß ich meine Lust an seiner Gerechtigkeit sehe. Meine Feindin wird es sehen müssen, und mit Schanden bestehen, die jetzt zu mir sagt: Wo ist der Herr, dein Gott? Meine Augen Werdens sehen, daß sie dann wie Koth auf der Gasse zertreten wirb. Die Zeit ist da, daß deine Mauern gebauet werden; zu der Zeit wird Gottes Wort weit auskommen. -
Micha 7. 8-11.

Heute sind es die tröstlichem Partien des verlesenen Textes, an welche sich unsere Betrachtung anlehnt. Wir nehmen die dunkeln Cypressenkranze von den Mauern Zions wieder weg, und schmücken diese mit dem Immergrün heiterer und tiefbegründeter Hoffnung. Ja es führt aus der düstern Thalschlucht, in der wir trauernd, sorgend und zagend zusammensaßen, ein wohlgebahnter Weg zu Höhen empor, von wo sich uns Ausfichten in die Ferne eröffnen, die den trüben Bildern der Gegenwart, welche da unten uns das Herz zusammenschnürten, ein gut Theil ihrer beklemmenden und niederschlagenden Kraft wieder benehmen, das gesenkte Haupt uns wieder aufrichten, und uns die Loosung heiligen Trotzes auf die Lippe geben: „Freue dich nicht, meine Feindin, daß ich darnieder liege, Ich werde wieder aufkommen. Ja, die Kirche Christi kommt wieder auf! - Ihr fragt: 1) Wird sie?“ - und 2) Wie? - Euch Bescheid zu thun auf diese Doppelfrage, ist der Zweck unserer diesmaligen Betrachtung. -

1.

„Freue dich nicht meine Feindin!“ - Nein, nicht zu schnell die Feder auf den Hut gesteckt, du antichristische Welt! Wie manchmal hast du über den Israel Gottes mit Händen geklappt, als sei es aus mit ihm, und über Nacht schon tauchte in der Ferne das Zeichen Jona auf, und vor Entsetzen über das wieder auferstandene Gespenst blieb dir das Siegeslied in der Kehle stecken. Als du im Pharisäermantel des abgestandenen Judenthums die stillen Lämmer Christi über deine Grenzen hinaus in die Heidenwüsten triebst, ahnetest du da, daß du in ihnen nur die lebendigen Saatkörner einer neuen Welt in den Acker der Erde streutest? Als du in der stolzen Toga der weltbeherrschenden Siebenhügelstadt die unbequeme Sekte der Nazarener zur Schlachtbank zähltest und den wilden Thieren vorwarfst, fiel dir's ein, daß du ihr Blut als einen wunderthätigen Befruchtungsthau über den Boden der Kirche gössest, die du zu verwüsten wähntest? - Als du später, in der einen Hand die Fahne der vergötternden Jungfrau, in der andern die Brandfackel der Hölle, das Gemeinlein Seiner Heiligen zu deinen Scheiterhaufen schlepptest, wäre dir auch nur im Traume der Gedanke gekommen, daß du den Vogel Phönix in die Flammen stürztest, ihn, der unvertilgbar, stets verjüngt und herrlicher aus seiner Asche sich wieder aufschwingt?

Als du vor fünfzig Jahren noch von der Marktschreierbühne voltairischer Faselei herab das Publikandum in die Welt ergehen ließest: „Die alte Nebelgestalt des Christenthums sei nun für immer von dem Tageslichte der Vernunft in die finstern Schlupfwinkel zurückgescheucht, von wo es ausgegangen,“ wofür würdest du den gehalten haben, der dir hätte sagen wollen, nach einigen Jahrzehnden komme eine Zeit, da du Zeter darüber schreien würdest, daß der vermeintlich langst von der Erde verbannte Haufe der „Jesusschwärmer“ in den Staaten der Erde zu einer Macht heranzuwachsen drohe! - Ja, eine Lehrmeisterin, hoher Ehren werth, ist die Geschichte. Sitze, meine Feindin, zu ihren Füßen, und laß dich von ihr bedeuten, daß Zion tief darnieder liegen könne, und ihre Widersacherin doch mit ihren Freudensalven noch verziehen dürfe! -

Die Kirche Christi kommt wieder auf. Drei starke Pfeiler tragen diese Hoffnung. Heißen sie: politische Macht, Betriebsamkeit der Parteigänger, und Witz und Gelehrsamkeit der Theologen? - O nicht doch! In losem Sande läge der Anker unserer Hoffnung, hatten wir für sie keiner bessern Unterlagen uns zu getrosten. - Unsere Hoffnung stützt sich zuerst auf die Natur des Wortes, das der Same und der Grund der Kirche ist.

„Des Wortes?“ - Ja, des schwer angefochtenen und viel geschmähten Bibel-Wortes! - „Aber das ist ja wankend geworden vor den Augen der Vernunft!“ - Ihr wollt sagen: vor den Augen der Unvernunft, die einen Gott kennen will ohne Leben: - ein Unding! eine ewige Liebe ohne Herablassung zu den Menschenkindern: - ein Widerspruch! - einen Gesetzgeber ohne Gericht und Urtheilsspruch: - eine Absurdität! - einen Himmel ohne Pforten und Barrieren: - eine Phantasterei! Ja, der Unvernunft, die die Werke Gottes an dem Maaßstabe ihrer Alltagserfahrung mißt, und, soweit sie darüber hinausgehen, sie in das Reich der Dichtungen verweist: - eine Verrücktheit! - die, nach dem Grundsatz verfahrend, daß die Weisheit Gottes das Maaß der ihrigen nicht überschreiten dürfe, die heiligsten Geheimnisse der Offenbarung für Unsinn erklärt: - ein Majestätsverbrechen! - die,' weil die Gottesperle der geoffenbarten Wahrheit in den Zwergring ihres eigenen Begriffs nicht passen will, sich, statt diesen nach jener zu erweitern, daran gibt, jene jämmerlich auszuleeren und zu zerstücken: - ein Narrenstreich und Bubenstück zugleich? - und die endlich, statt, bevor sie richte, Heilung zu suchen, die Flecken in ihrem Auge auf die Schrift überträgt, und über ein Gewimmel von Widersprüchen klagt, wo dem gesunden Blick die reinste und tiefste Harmonie begegnet: - eine bemitleidenswürdige Befangenheit und Thorheit! - Ja, gelangt diese Unvernunft einmal zur Alleinherrschaft in der Welt, so wird es für eine Weile um die Kirche geschehen sein. So lange aber noch ein Haufe bleibt, in dem die Vernunft zu sich selber kam, in dem sie von ihrer phantastischen Selbstüberschätzung genaß, ihre Schranken erkannte, und zu ihrer ursprünglichen Bestimmung, das Göttliche zu vernehmen, zurückkehrte, so lange wird auch das Bibelwort an der übermenschlichen Herrlichkeit und Tiefe seines Gehalts, an der höchsten Gotteswürdigkeit seiner Ideen, an der erhabenen Einfalt seiner Form, an dem wunderbaren Zusammenhange aller seiner Wahrheiten unter einander, an seiner unvergleichlichen Planmäßigkeit und Folgerichtigkeit, - mit einem Worte, an der vollkommensten Vernunftmäßigkeit, die im höchsten Sinne dieses Ausdrucks ihm durch und durch inne wohnt, als das Wort des lebendigen Gottes erkannt, mit Freuden umarmt, mit Anbetung gepriesen werden. Und auf diesen Umstand stützt sich unsre Zuversicht, daß die Kirche Gottes nie von der Erde verschwinden, und immer wieder aufkommen werde, ihr müßtet uns denn überzeugen können, daß die Welt noch einmal zu einem großen Irren hause werden würde.

Doch mit dem Namen „absoluter Vernunftmäßigkeit“ ist die Natur des Bibelwortes nur theilweise erst bezeichnet. Ein Charakterzug desselben, der noch weit augenfälliger hervortritt ist seine vollkommene Angemessenheit zu den tiefsten und dringendsten Bedürfnissen des menschlichen Herzens, „Wie?“ höre ich sagen, „das menschliche Herz fühlt sich ja im Gegentheil von diesem Worte abgestoßen, und glaubt sich zwischen, seinen Kapiteln und Versen in eine öde Steppe gebannt, wo kein grüner Baum ihm lacht, kein Quell ihm Lust und Labe sprudelt!“ - Ja wohl, das Pharisäerherz, versteckt in Lüge und Selbstbetrug; das Herz des Sadducäers, das dem Dienst der Sinnlichkeit verfallene und in's Fleisch gewachsene; das Herz vom Schaume eitler Ehre, vergänglicher Erdenfreude und andern Tandes trunken! Sobald aber der Zauber fleischlicher Verblendung, der ein Herz gefangen hält, sich lös't, eine Seele nüchtern wird von des Teufels Strick, einem Menschen das Bewußtsein seines wahren Standes, seiner wirklichen Beschaffenheit und seiner eigentlichen Bestimmung auf Erden nur in irgend einem Maaße der Klarheit wiederkehrt, wendet sich auch das Verhältnis zu Gottes Wort, und zur grauen Steppe wird die Welt, das Bibelwort zur grünen Aue. Ja, so lange noch ein Sterblicher auf Erden schreien wird: „Meine Seele dürstet nach dem lebendigen Gott;“ so lange irgendwo noch heilige Sehnsucht ruft: „Wann werde ich dahin kommen, daß ich Gottes Antlitz schaue?“ - irgendwo noch der Seufzer ertönt: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen vom Leibe dieses Todes?“ - oder die Sünde noch als das schwerste Kreuz erkannt wird, ein Zöllner noch gesenkten Hauptes an seine Brust schlägt, eine Magdalene alle Herrlichkeit der Welt um einen Blick der Gnade von Gottes Auge gäbe, ein Kerkermeister zitternd fragt: „Was muß ich thun, daß ich selig werde;“ - mit einem Worte: so lange noch der edle Hunger nach der Gerechtigkeit vor Gott, der heilige Durst nach einem Frieden, wie ihn die Welt nicht geben kann, das Verlangen nach lebendiger Verbindung mit dem Herrn, das Schmachten nach probehalt'gem Troste für die letzte Stunde, das Sehnen nach gewisser Hoffnung des ewigen Lebens: so lange, sage ich, diese edlen Regungen und Begierden in der menschlichen Gemüthswelt nicht gänzlich ausgestorben find, so lange wird auch die Straße zum Heiligthum des göttlichen Wortes nicht veröden, weil Alles, Alles, worauf jene schreienden Herzensbedürfnisse gerichtet sind, so wahr der Herr lebt und eine mehr als tausendjährige Erfahrung es bestätigt, nur hier, nur hier, und nirgends sonst zu finden ist. So lange aber das Wort geküßt und liebend umschlungen wird, steht auch die Kirche: denn diejenigen, in denen das Wort eine Stätte fand und lebendig wurde, bilden sie. Darum freue dich nicht, meine Feindin, so lange du noch einen Theil der Menschheit nüchtern siehst! In der Angemessenheit des göttlichen Wortes zu den tiefsten Bedürfnissen des aus dem Rausche des Selbstbetrugs erwachenden Menschenherzens liegt die Bürgschaft, daß die Kirche, ob sie auch darniederliege, sich immer wieder erheben werde. Du müßtest das Menschenherz vernichten können, oder den Strahl der Erleuchtung, der von Oben her zu demselben niederfährt, in der Luft zu erhaschen, und, ehe er sein Ziel erreichte, zu löschen vermögen, oder dem erleuchteten Herzen Probehaltigeres und Befriedigenderes, als das Evangelium ist, und das Mittlerwerk, das es verkündet, zu bieten haben, wenn du mit einigem Grunde wolltest triumphiren können, daß es mit Zion aus sei. Aber jene Ausgaben, löse, löse sie! Du wirst eher im Stande sein, Himmel und Erde aus ihren Fugen zu heben, als im Bereiche des Geistes jene Riesenwerke zu vollbringen. -

Doch auch mit dem eben Gesagten haben wir die Natur des göttlichen Wortes noch nicht ausgedeutet. Wir gedenken an die Bestimmung der Menschheit. - „Der Menschheit Bestimmung,“ sagt ihr: „ist ein Vorwärts!“ - Richtig! - „Sie strebt der Höhe zu!“ - Es hat sich so! - „Zu einem großen Bruderbunde muß sie werden durch reine Liebe!“ - So wahr, als schön gesagt! - „Und dies ist Gottes Ordnung und Sein Rathschluß!“ - Ganz vortrefflich! - Aber nun hört, ihr begeisterten Idealisten. Wenn die Menschheit wirklich zu diesem Ziele gelangen soll und muß, so bin ich zunächst für den Fortbestand des göttlichen Wortes und seiner Geltung unbesorgt. „Des göttlichen Wortes?“ - Ja; denn nur durch dieses gelangt die Menschheit dahin, wo ihr sie haben wollt. - Fragt die Geschichte, fragt die fortgehende Erfahrung, ob es außer diesem Worte sonst unter dem Himmel etwas gebe, das vermögend sei, das gräßliche Pestgeschwür, das Alles verderbt, die Selbstsucht mit ihren höllischen Trabanten: dem Neide, der Mißgunst, dem Geiz, dem Zorn, der Rachsucht, dem Hadergeiste, und wie sie alle heißen, aus dem Menschenherzen hinwegzunehmen, und der reinen Liebe mit ihrem himmlischen Geleite: der Sanftmuth, der Freundlichkeit, der Aufrichtigkeit u. s. w. in demselben die bleibende Stätte zu bereiten; fragt sie, und nachdem sie euch auf das entschiedenste werden geantwortet haben: „Nein, außer diesem Worte gibt es nichts, das hiezu tüchtig wäre;“ werden sie die apostolischen Gemeinden euch vor die Blicke führen, und zu euch sprechen: „Seht, sie zeugte und bildete das Wort;“ und werden euch die Schleier lüften von den jungen holden Christenhäuflein hin und wieder in der Heidenwelt, wie sich in deren Kindeseinfalt, Lauterkeit, Demuth und Liebe wirklich ein Leben höherer Gattung spiegle, und werden euch zurufen: „Schaut: Blumen aus dem Samen des Evangeliums!“ - Ja, das göttliche Wort, und nur dieses, hat die heiligende, weltumbildende und weltverklärende Kraft. - Steht's aber fest, daß die Menschheit in der That jener hohen Vollendung, von der wir eben hörten, entgegengeführt werden wird, so ist es auch unausbleiblich, daß der Sauerteig des Wortes noch einmal die ganze Masse durchdringen, und folglich die Kirche Christi nicht untergehen, sondern vielmehr die ganze Breite der Erde gastlich überdachen, und alle Völker derselben mit ihrem Friedensgehege traut umziehen wird.

Doch ist's nicht bloß die Natur des göttlichen Wortes, woran unsre Zuversicht sich lehnt, daß die Kirche bleiben werde. Das Wort allein hielte sie nicht, bliebe Der, von welchem es ausging, nicht persönlich bei dem Worte, und machte den Buchstaben an den Herzen lebendig. - Er, der in seinem Blute den Grund der Kirche legte, und nach einem von der Welt her gefaßten unwiederruflichen Plane sie in's Leben rief, kann und wird die um so theuern Preis erkaufte, und zu Seiner und des Vaters Verherrlichung aufgerichtete nicht wieder untergehen lassen. Hört Ihn sprechen: „Was soll ich dir thun, Ephraim? Soll ich dich schützen, Israel? Müßte ich nicht ein Adama aus dir machen, und dich zurichten wie Zeboim? Doch mein Herz ist andern Sinnes, und meine Barmherzigkeit ist zu brünstig.“ - „Ich habe dich je und je geliebt. In meine Hände habe ich dich gezeichnet. Deine Mauern sind immerdar vor mir. - Und wenn du durch's Wasser gehst, sollen dich die Ströme nicht ersaufen, und wenn du durch's Feuer gehst, sollen dich die Flammen nicht anzünden: denn Ich, de, Herr, bin bei dir.“ - „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.“ - „Die Pforten der Hölle werden meine Gemeine nicht überwältigen.“ - „Ich bleibe bei euch bis an der Welt Ende.“ - O leset sie euch alle aus seinem Worte zusammen die unzweideutigen Zusagen für die Fortdauer, die unausgesetzte Erweiterung und den endlichen Weltsieg seines Reiches. Stehen sie nicht wie helle Sterne am Firmament der Kirche? Wer kann sie zählen, und wie wohl gefestigt stehen sie! Die unzerbrechlichen Klammern, die sie halten, sind Seine Treue, Seine Wahrheit. - Und ihr täuscht euch, wenn ihr meint, sie schienen trübe. Was hätte ihr göttlich Licht verdunkeln können? Ist dieser Verheißungssterne einer je als ein kernloses Meteor vom Himmel gefallen? O, so sagt mir welcher, welcher? Sank Babylon nicht in Trümmer, wie es verkündet war? Ward Jerusalem nicht verworfen? Sind Daniels Weltmonarchien nicht aufgetreten? Ist das Messiasbild ein bloßes Bild geblieben? Hat Michas Wiege nicht in Bethlehem gestanden, Jesajä Kreuz nicht auf der Schädelstätte? Ist Maleachis Elias nicht erschienen, dem Herrn die Steige zu bereiten? Sind Joels Geistesströme nicht vom Himmel herabgerauscht? Haben die Heiden nicht das große Licht gesehen, das sie bestrahlen sollte? Ist nicht die Wurzel Jesse zum Panier geworden den Völkern? Wandelt nicht heute noch das Haus Israel umher ohne König, ohne Tempel, ohne Priesterthum, wie ihm gedrohet war? Bricht nicht jetzt der große „Abfall“ herein, von dem es hieß, daß er der Zukunft des Menschensohns vorangehen werde? Gebraucht doch euere Augen: bis auf's Jota ist's eingetroffen, was in vergangenen Jahrtausenden der Geist der Weissagung zeugete. Und diejenigen Verheißungsworte unseres Gottes, die noch unerfüllt geblieben sind, weil ihre Stunde noch nicht kam, sollten Irrwische sein, während ihre tausend Brüder, wie jetzt zu Tage liegt, Lichter Gottes waren? Nur die Unvernunft könnte Solches denken. - „So freue dich denn nur nicht, meine Feindin, daß ich darnieder liege, ich werde wieder aufkommen! Und wo ich im Finstern sitze,“ - wie jetzt, wie jetzt, - so schaue ich zum Kirchenhimmel auf, und hefte den Blick an die ewigen Verheißungssterne. Sie werfen holde Hoffnungsschimmer in meine Nacht, und „Du, Herr,“ mit deiner Treue, mit deinem starken Arm, mit deinem allmächtigen Königszepter, - „bist auch im Dunkeln mein Licht.“ Ich glaube auf Dein Wort hin, wider Augenschein und vernünftige Berechnung an, und weiß: „Der Gerechte wird seines Glaubens leben!“

Bedürften wir eines dritten Halts für unsere Hoffnung, daß die Kirche Gottes wieder aufkommen und bleiben werde, so ist er uns in den kirchlichen und religiösen Zustanden der Gegenwart, gegeben. „Wie darin?!“ - höre ich befremdet fragen. - Unbezweifelt! - „Freilich, insofern,“ sagt ihr, „als jene Zustände auf die Nähe der geweissagten großen Versuchungs- und Abfalls-Stunde schließen lassen, nach welcher der Herr erscheinen, seine Feinde zum Schemel seiner Füße legen, den Satan binden, und dem Reiche der Wahrheit zum endlichen Sieg und Triumph verhelfen wird!“ - Allerdings; aber auch in einer anderen Beziehung ist diese Zeit des reifenden Antichristenthums trotz aller bangen Sorgen, womit sie uns erfüllt, eine verheißungsreiche. Unverkennbar zieht sich durch das Getümmel der Auflehnung gegen Gott und sein Wort auch wieder ein starkes Sehnen nach untrüglicher Wahrheit, durch das materialistische Treiben ein mächtiges Dürsten nach innerm Frieden, durch den Zerstreuungstaumel ein lebhaftes Gefühl geistiger Leere, durch den trunkenen Huldigungsjubel, mit dem man die Vorkämpfer und Fahnenträger der neuesten Tagesweisheit begrüßt, ein sehr nüchterner und zusehends erstarkender Zweifel hindurch, ob jene auch die Apostel seien, in deren Worte man mit Ehren schwören könne. Es ist wahr, Viele fallen den modernen Freiheitsschwätzern zu; mehre aber noch wollen sich erst noch besinnen, ehe sie dem Lärmtrommelschlage einer gassenlausigen Aufklärung folgen. Tausende freilich sagen sich mit hochklingenden Phrasen von unserer Kirche, sofern dieselbe auf dem Grunde der Propheten und Apostel ruhe, los; aber kaum daß man Miene macht, ihnen die Kirchenpforten zu öffnen, und sie auszulassen, treten nicht Wenige unter ihnen kleinlaut zurück, und fühlen sich mit stärkern Banden an die alte Kirche noch geknüpft, als sie selbst geglaubt hatten. - In weiten Strecken liegt die Kirche immer noch gar sehr darnieder; in andern, wie in Schottland, Frankreich und einigen Staaten unseres Vaterlandes hebt sie sich in einer Lebensfrische vom Staube wieder empor, wie man sie seit der Reformationszeit nicht an ihr gesehen. Auf der einen Seite verliert sie, es ist nicht in Abrede zu stellen, ganze, geistlich erstorbene Gemeinden an ein neues Heidenthum; auf der andern gewinnt sie als reichen Ersatz eine doppelte Zahl lebendiger, die aus dem alten Heidenthum zu ihren Fahnen strömen. Millionen von Bibeln durchziehen wie eine blitzende Gottesphalanx die weite Welt, und das Donnern und Schelten, womit der Unglaube sie verfolgt, scheint nur Schloß und Riegel vor ihnen her zu sprengen: denn sie finden immer reichern Eingang. Die Schaaren der Evangelisten mehren sich, und ein Land um das andere muß dem Könige der Ehren seine Thüren hoch machen. Die junge Mannschaft gläubiger Theologen, die auf den Kampfplatz rückt, verstärkt sich von Jahr zu Jahr, und das Zeughaus der geoffenbarten Wahrheit sieht sich aus den Schachten aller Wissenschaften immer reichlicher mit trefflichen Schutz- Trutz- und Siegeswaffen ausgerüstet.

Ihr seht, unsere Sachen stehen wohl. „Nein, meine Feindin, freue dich nicht über mich, daß ich darnieder liege, ich werde wieder aufkommen! Schon jetzt haben wir Grund und Veranlassung die Fülle, unserm Zion mit den Worten unseres Textes zuzujauchzen: „Die Zeit ist da, daß deine Mauern gebauet werden!“ - Schon jetzt verwirklicht sich die gute Botschaft: „Zu der Zeit wird das Wort Gottes weit auskommen.“ Getrost, getrost denn, lieben Brüder! „Gott ist unsere Zuversicht und Starke; eine Hülfe in Nöthen, kräftig erfunden. Fürchten wir uns darum nicht, wenn gleich die Welt unterginge, und die Berge mitten in's Meer sanken. Wenn gleich sein Gewässer wüthete und wallete, und von seinem Ungestüm die Berge zitterten, Sela! Dennoch wird die Stadt Gottes fein lustig bleiben bei ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind. Gott ist in ihrer Mitte, sie wird nicht wanken; Gott hilft ihr mit des Morgens Anbruch.“

2.

Die Kirche kommt wieder auf. - Aber in welchem Entwickelungsgange und in welcher Gestalt? Mit der Beantwortung dieser Doppelfrage hat sich der zweite Theil unserer heutigen Betrachtung zu befassen. Die neuesten kirchlichen Zeitbewegungen und Gottes Wort lassen uns auch in dieser Untersuchung gewisse Tritte thun.

Verständigen wir uns vorab über den Begriff der Kirche Christi. Es herrscht hinsichtlich dieses Artikels eine große Gedankenverwirrung. Die Römischen lassen bekanntlich die Kirche in ihrer Geistlichkeit aufgehen, und wissen von den „Laien“ nur als von den Pfleglingen der Kirche, nicht als von der Kirche selbst. Eine ultrakirchliche Richtung im Protestantismus trennt ebenfalls die Kirche von den Gemeinen, und stellt zwischen diese und Christus eine kirchliche Konstitution, durch welche allein aller geistliche Segen stieße. - Die Rationalisten nennen Kirche die Gesammtheit aller auf den Namen Christi getauften Christen, und bestimmen so den Begriff jenes Wortes ganz äußerlich. - Wir, fußend auf die h. Schrift, fassen ihn enger, diesen Begriff, weil geistlicher und tiefer, und können unter der Kirche Christi nur die auf den Grund des reinen Evangelii erbaute und durch den heiligen Geist Christo als ihrem göttlichen Haupte und einigen Heilande einverleibte Gemeine aller wahren Gläubigen verstehen, die insofern eine unsichtbare Gemeine ist, als ihr wesentlichstes Ab- und Unterscheidungszeichen in der Tiefe ihres innern Lebens ruht; die in ihren Bekenntnissen aber, wie in ihrer Brudergemeinschaft und in ihrem Wandel zur Erscheinung kommt und sichtbar wird. - „Aber,“ höre ich sagen, „das ist ja wieder das ausschließende System, nach dem nur die Pietisten die Kirche bilden!“ Ja, nur diese, wenn ihr sie mit aller Gewalt so nennen wollt, bilden sie. - „Aber Jesus selbst,“ entgegnet man, „verglich das Himmelreich einem Fischernetze, worin- -.“ - Richtig; aber nur weiter gelesen: „worin gute und faule Fische gefangen werden.“ - Er wußte, daß um jenen lebendigen Kern wahrer Kirchenglieder herum im Laufe der Zeiten eine Menschenmenge sich lagern werde, die dem Anscheine nach mit hinzugehören, aber näher bei Licht besehen nur als Schaale erkannt werden würde. Die Kirche ist nicht Herzenskündigerin, und seitdem vollends das Zuchtamt ihren Händen entwunden ist, ist sie in einem Maaße von der Welt überwuchert, daß an vielen Orten sogar das kirchliche Regiment: die Anordnung der Gottesdienste, die Berufung der Prediger u. f. w. in ihren Händen ruht. - „Aber wen zählst du zu der Welt? höre ich sagen. „Wir sind nicht minder Christen, denn ihr. Können wir auch nicht bis auf den Buchstaben euer Bekenntniß theilen, so glauben wir doch dem Wesen nach dasselbe, was ihr, indem auch uns Christus der Weltheiland ist, nur daß wir für die Fassung und Entwickelung der Lehre von Christus zu Christus freien Raum in Anspruch nehmen!“ - Nun ja, wir kennen diese Rede, wissen aber auch, daß der Weg „von Christus zu Christus“ ein Weg weiden könnte, wie ihn der Fuhrmann, der einen durchlöcherten Sack auf seiner Karre hatte, von der Mühle nach seiner Wohnung fahren würde. Beladen führe er aus, und käme leer nach Hause. Auf dem Wege sogenannter „freier Lehrbildung von Christus zu Christus“ kann Viel verlorengehen; denn da kann sich's ereignen, daß man von dem Gotte Christus ausging und bei einem bloßen Menschen Christus anlangt; daß man den Hohenpriester Christus auf der Straße läßt, und nur einen Pflichtenlehrer Christus mit heimbringt. - Wisset, wir fragen nicht, ob ihr die Ewigkeit der Höllenstrafen, die Prädestination, eine sichtbare Wiederkunft Christi und dergleichen glaubet; sondern nur nach euerer Stellung zu den großen Grund- und Cardinalartikeln des biblischen Christenthums fragen wir. - Ob ihr die Gottheit, nicht die Göttlichkeit Christi annehmt; ob ihr die Verderbtheit und Verdammlichkeit des natürlichen Menschen glaubt; ob ihr die durch Christi Blut vermittelte Versöhnung zwischen Gott und den Menschen, und die Nothwendigkeit der Wiedergeburt durch den heiligen Geist, und die Rechtfertigung des Sünders aus Gnaden allein um des Verdienstes Christi willen gelten lasset: seht, darnach forschen wir, aber urtheilen darnach dann auch über euere Beigehörigkeit zur christlichen Kirche. „Aber das sind ja wieder,“ werft ihr ein, „die Satzungen eurer Parthei!“ - Nein, das sind nach dem übereinstimmenden Urtheil aller Theologen von Bedeutung, die ungläubigen nicht ausgenommen, die großen Lichter, welche vom Himmel des Evangeliums her den Tag des Neuen Testamentes regieren; das sind die Grund-, Eck- und Angelsteine des Licht- und Friedenstempels der geoffenbarten Wahrheit. Glaubt ihr diese Fundamentalartikel nicht, so rühmt Christi Tugend und Weisheit, so hoch ihr wollt: ihr befindet euch außerhalb des Christenthums, und somit auch außerhalb der Kirche. Bekennt ihr euch aber zu derselben, und entspricht euer Wandel euerm Bekenntniß, dann, aber auch nur dann wird euch die Kirche, indem sie die Entscheidung, wie weit euer Glaube lebendig sei, dem Herrn überlaßt, zu ihren Gliedern zählen.

Ich vernehme in der Ferne ein Gemurmel. - „Was,“ höre ich sagen, „wir, die wir jenen alten Dogmen nicht mehr beipflichten können, im Vorhofe der Heiden?!“ - O nicht doch Freunde, im Vorhofe der Namenchristen weilt ihr, nach denen die Kirche übrigens nicht aufhört, liebend ihre Netze auszuwerfen, um auch sie in ihren Schooß hereinzuziehen. „Wie, auch hier ein allein seligmachender Kirchenschooß?!“ - Unbezweifelt; aber ein solcher, den Gott selbst dafür erklärte, und nicht menschliche Anmaaßung oder Willkühr. - „Und wir also draußen?“ Nach den Zeugnissen der Schrift und den schriftgemäßen Bekenntnißbüchern der Kirche allerdings. - „Aber wir unterwerfen uns diesen Büchern nicht mehr!“ - Auch nicht den vorhingenannten Artikeln derselben? - „Nein!“ - Aber wenn wir euch beweisen, daß sie biblisch sind? - „Die Vernunft steht über der Bibel!“ - Nun seht, da excommunicirt ihr euch selbst aus Christi Kirche; denn wer das Grundprinzip derselben verneint, hört auf, ihr Glied zu sein.

Wir wissen, daß schon lange dieser innere Riß durch unsere Gemeinen geht, und die beiden einander grundsätzlich entgegenstehenden Lager unter dem Schein der Einheit sich neben einander herziehn. Was Gott aber nicht zusammenfügte, kann auf die Dauer auch nicht zusammen halten. In neuester Zeit hat die Stunde geschlagen, da der geheime Zwiespalt zur Reife gelangte, und an's Tageslicht heraustritt. Man rüstet sich zu einer offenen Trennung von der Kirche. Tausende rufen: „Lange genug haben wir uns kirchliche Einrichtungen und Lehrvorträge gefallen lassen, über welche wir auf den Flügeln der Zeitbildung langst hinaus sind! Lange genug waren wir gezwungen, bald unsere Kinder auf Glaubenssatze vereiden zu hören, die unsere Vernunft verwerfen muß, bald bei Tauf-, Abendmahls- oder Trauungsfeierlichkeiten Formulare zu vernehmen, vor denen ein gebildetes Ohr zurückschreckt!“ Sie schreien's und der Lärm nimmt überhand. Die Brandung schäumt zwar bei uns noch an den Schranken auf, die ihr in der Staatsgewalt gesetzt sind; aber die Stunde mag nicht ferne mehr sein, da auch diese fallen werden, und eine allgemeine Religionsfreiheit der neuen Vernunftkirche die letzten Hindernisse aus dem Wege räumt, die ihre volle Entwickelung bisher noch aufgehalten. - Für uns dagegen, die wir durch Gottes Gnade bei dem Glauben der Väter verharrten, ist alsdann eine Zeit tiefer Demüthigungen herbeigekommen. Wir erscheinen für eine Weile als die Ueberwundenen, unsere Sache als eine verlorene. Wessen wir jetzt noch „nach dem Fleische“ uns rühmen, fällt dahin. Das bekannte: „Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Edle, nicht viele Gewaltige, sondern was thöricht, schwach, unedel und nichts ist vor der Welt, das hat Gott erwählt“ wird auf unsere Gemeinschaft wieder dieselbe Anwendung erleiden, wie auf die apostolischen Sprengel. Wir treten in die ursprüngliche Gestalt einer „Sekte“ zurück, „der in aller Welt widersprochen wird.“ - Es werden sich kaum noch Andere zu uns halten, als die ein brennender Durst nach Gnade unsern Fahnen zuführt. Im Uebrigen wird man sich mit allen Waffen einer fleischlichen Ritterschaft gegen uns zu Felde legen, als gegen Leute, die es gewagt, mit kecker Hand dem rollenden Rade des allgemeinen Fortschritts in die Speichen zu greifen, und die darum auch nichts Besseres werth seien, als von demselben erfaßt und zermalmt zu werden. - Diese Bedrängnisse aber grade werden der Kirche Christi sein, was der Erzstufe die läuternde Gluth des Feuertiegels. Wann es scheinen wird, als sei es aus mit ihr, dann wird sie erst recht wieder aufkommen. Unter den Züchtigungen, die sie erfährt, wird sie nach allen Seiten hin der Schäden sich bewußt, und so veranlaßt, dieselben durch die Buße von sich auszuscheiden. Bei ihrer Verlassenheit von Allem, was Fleisch heißt, wird sie um so inniger an den Herrn sich schmiegen: und wer auf den Henn hofft, wird nicht zu Schanden werden. Bei den Anklagen, die man ohne Unterlaß gegen sie erheben wird, wird sie um so brünstiger die Kräfte des Geistes vom Himmel auf sich herniederflehen, damit sie im Stande sei, zur Ehre Christi durch das Licht ihrer ganzen Erscheinung die Schmähungen der Lügner tatsächlich zu Schanden zu machen: und wie sollte der Herr seine Auserwählten nicht hören, die Tag und Nacht zu ihm schreien? In ihrer gesonderten Stellung endlich, herausgeschält aus der hemmenden und dämpfenden Umgebung der Welt, wie sie dann ist, wird sie sich um so mehr berufen fühlen, „der Hut des Herrn zu warten, und seine Höfe zu bewahren.“ Und wenn sie dazu noch eines Sporns von Außen bedürfen sollte, so werden ihr schon die scharfsichtigen Argus-Augen dazu dienen, womit die Welt- und Vernunftkirche sie unablässig bewachen wird. Kurz, ehe man sich's versieht, taucht gerade aus dem Gluthofen der Zeitbedrängnisse die Tochter Zion in neuer, verklärterer Gestalt herauf; denn allerdings ist nach den Zeugnissen der ganzen heiligen Schrift auch in der Kirche Christi Fortschritt, auch sie durchschreitet ihre Entwickelungsphasen. Das letzte Ziel nach 1. Cor. 15.: „Gott Alles in Allem.“ Ein Ziel, diesem unmittelbar voranstehend: Das triumphirende Christusreich auf Erden. Ein Ziel noch näher nach uns zu: Ein Hirt und Eine Heerde. Doch hat auch dieses wieder seine Vorstufen, und in die zunächst an dasselbe hinanreichende steht die Kirche gegenwärtig einzutreten im Begriff; die Wehen wie die Segnungen dieser Periode sind vor der Thür.

Laßt mich aber jetzt das aus naher Zukunft herüberdämmernde liebliche Bild der in Kampf und Sturm geläuterten und fortgeschrittenen Kirche in flüchtigen Zügen euch vor Augen malen. Ich kann es, nicht allein darum, weil ich diese Züge zerstreut in den Weissagungen der Bibel finde; sondern auch, weil jenes Bild unter göttlicher Einwirkung in klaren Umrissen schon in den Gesichtskreis unserer Sehnsucht und Hoffnung hereingetreten ist, ja hin und wieder bereits aus manchen kirchlichen Erscheinungen der Gegenwart wie die Blume durch das Grün der Knospenhülle uns anschaut, oder wie ein zum Durchbruch sich anschickender Schmetterling aus dem zerfallenden Puppengehäuse herüberschimmert.

Ich erblicke die Kirche der Zukunft zuerst als einen frischen Baum, gepflanzt an den Wasserbachen einer umfassenderen, gründlicheren, tieferen und lebendigeren Schrifterkenntniß. Die Anfechtung „lehrte auf's Wort merken,“ die Zweifelsgeschosse, die auf sie eindrangen, erforderten neue Rüstung. Der enge Kreis von Wahrheiten, in dem sich die Kirche bisher bewegte, ist durchbrochen. Sie beschifft das weite Meer des ganzen Bibelworts, sie erkennt, daß dasselbe unendlich größer sei, als alle menschlichen Systeme, sie lernt die unerschöpfliche Fülle von Licht- und Lebensschätzen ahnen, die noch in seinem Grunde verborgen liegen, und fühlt sich angeregt, die betende, denkende, betrachtende und genießende Vertiefung in den Wunderschacht des Wortes zur ersten ihrer geistlichen Beschäftigungen zu erheben. Sie erfaßt den Plan Gottes im Zusammenhang dringt tiefer und tiefer in die apostolischen Lehrgeheimnisse ein, sieht immer vollständiger im Spiegel des Evangeliums das ganze Bild „des Schönsten der Menschenkinder“ sich vor ihr entfalten, und lernt von den prophetischen Warten der Seher Gottes her die Zeichen der Zeit immer sicherer verstehen und entziffern. Nicht Paulus und Petrus blos, sondern auch Johannes und Jakobus, nicht blos die Zeugen des Neuen Bundes, sondern auch die Herolde des Alten allzumal feiern mit ihren Gottessprüchen und Erlebnissen, ihren Klagen und Psaltertönen ein Auferstehungsfest in dem Glaubensbewußtsein der Kinder dieser Kirche. Sie leben in deren Herzen Tag und Nacht, und begleiten sie auf Schritt und Tritt, eine Zeugenwolke bald, ermuthigend zu Kampf und Siege; bald eine Versammlung von Brüdern, rathgebend oder tröstend, ermunternd oder warnend; bald ein Heer von Fackelträgern, ihnen beigesellt, das Dunkel ihrer Wege zu erhellen; bald eine traute Wandergenossenschaft, in allen Steppen und Hohlgassen auf der Straße gen Jerusalem wohl zu Hause, und mit dem tröstlichen: „Nur frisch hinein! Es wird so tief nicht sein, das rothe Meer“ und wie es weiter heißet, ihnen vorangesendet.

Je tiefer aber die Kirche Christi in das Wort der Wahrheit sich hineinleben wird, um so deutlicher wird sie erkennen, daß für die feinere Fortdauer der seit Jahrhunderten unter ihren Gliedern bestandenen konfessionellen Trennung kein haltbarer Grund mehr vorhanden sei. Die wahre Union kommt zur Verwirklichung. Was die einzelnen Kirchengemeinschaften vorzugsweise zu pflegen berufen waren, nimmt die Eine Kirche vereinigt in sich auf: das mystischere Element der lutherischen, die Begriffsschärfe und Lehrkonsequenz der reformirten, den trauten Familiengeist der herrnhutischen, den kirchlichen Ernst und die sittliche Strenge der baptistischen Gemeinschaft; und wenn etwa die „ Apostolisch-Katholischen“ in ihrem bessern und erleuchteteren Theile mit der besonderen Mission sich beauftragt glaubten, das geistliche Priesterthum auch der Gemeinden und ihrer einzelnen Glieder wieder zur vollen Anerkennung zu bringen, und neben dem Wahren und Guten auch dem Schönen namentlich in harmonischeren Liederklängen und Chorgesängen den ihm gebührenden Platz im Heiligthum zu sichern, so werden auch sie in den Einrichtungen der allgemeinen Kirche ihre volle Genüge finden, und keinen Grund mehr sehen, dem Verbände derselben sich ferner zu entziehen. - So hören die Parteien auf. Die Gläubigen sind auch sichtbar wieder Ein Heer des Herrn um Ein Panier geschaart. Und „o, wie fein und lieblich ist's, wenn Brüder einträchtig bei einander wohnen,“ und wie süßen Klang haben die Verheißungen, die dieser Einträchtigkeit gegeben sind. -

Mit der Vertiefung ins Wort hält aber auch die Einsicht in die Rechte gleichen Schritt, die der Kirche von Gottes wegen zustehn. Die Kirche wird dieselben, so weit sie ihr genommen wurden, im Namen ihres Herrn reklamiren, und darf getrost und freudiger Hoffnung voll schon heute mit Israel in unserm Texte sprechen: „Er wird meine Sache ausführen, und mir Recht schaffen; Er wird mich an's Licht bringen, daß ich meine Lust an seiner Gerechtigkeit sehe.“ Die Kirche der Zukunft wählt allewege selbst wieder ihre Hirten, regiert sich selbst, verwaltet selbst ihren Haushalt, und ordnet frei dem Wort und ihren Bedürfnissen entsprechend ihre Gottesdienste. Sie handhabt nach apostolischem Vorgange eine Zucht der Liebe über ihre Glieder, sondert, sich immer neu verjüngend, in frischer Lebensthätigkeit alles ungesunde und unbiblische Wesen von sich aus und gibt den mannigfaltigen Gaben und Kräften in der Gemeine zu ihrer Bethätigung und Erweisung freien Raum. Vielleicht schon, ehe ein Jahrzehnt verfließt, ist, wie die Communion als reines Brudermahl mit dem Herrn, und die Confirmation als die feierliche Aufnahme wirklicher Gotteskinder in die Gemeine, so auch das Amt der Aeltesten und Diaconen, und manches andre Amt wieder zur vollen Wahrheit unter uns geworden. - Dann haben sich auch unsre Gesangbücher verjüngt, und enthalten nur noch das Gesalbteste und Beste, was der reiche Liederschatz unsrer Kirche darbeut. Ja Alles ist dann in Guß und Fluß gekommen, und während das menschlich Gebrechliche sich abschlackte, nur das ächt Biblische und aus dem Geist der Erleuchtung Geborne geblieben. Die Kirche in ihrer gefrischten und freigewordenen Lebensthätigkeit schickt nun selbst ihre Sendboten zu den Heiden, und ist selbst Missionsseminar, Bibelgesellschaft und Unterstützungsverein für bedrängte Gemeinen in der Ferne. - Sie selbst bildet Diaconissen, gründet Kleinkinderschulen, predigt den Gefangenen und pflegt der Armen, und ihre Samariterliebe baut und eröffnet der Hülfsbedürftigkeit eine Herberge und Zufluchtsstätte um die andre. Die Gemeinschaft der Heiligen gedieh zur lebenskräftigsten Entfaltung, sie, die bis zu dieser Stunde nur in dürftigen Bruchstücken erst vorhanden. Das „sich einander nicht mehr Kennen nach dem Fleische“ wie selten wird es gegenwärtig angetroffen, während der Unterschied der Stande oder Bildungsstufen unter den Kindern des einen Hauses sich noch in einem Maaße geltend macht, daß das Bewußtsein, dem großen heiligen Bruderbunde anzugehören, für unzählige Bedrängte in Zion noch wenig Tröstliches in sich schließt. Dann aber ist auch nach dieser Seite hin, wie in der Jerusalemsgemeine einst, der Geist des Fleisches Meister worden. Der Standesunterschied ist zwar geblieben und Gütergleichheit in der Weise, wie eine antichristische Richtung sie anstrebt, nicht eingetreten; aber die bevorzugten Brüder machen die geringeren den erstern durch ungeheuchelte Demuth und Herzlichkeit vergessen, und die andre vermittelt die Liebe, die es zu ihren süßesten Freuden zählt, Jesum in seinen nackten, hungernden und obdachlosen Brüdern zu kleiden, zu speisen und zu beherbergen.

Da habt ihr denn einzelne flüchtige Züge des Bildes in welchem nach unzweideutigen Verheißungen der Schrift die Kirche Jesu einst (wir hoffen bald!) zum Preise der göttlichen Gnade auf Erden erscheinen wird. Die Pfingstgemeinde wird in größerem Maaßstabe sich erneuen. „Meine Feindin wird es sehen müssen und mit Schanden bestehen, die jetzt zu mir sagt: Wo ist der Herr dein Gott?“ So sprechen wir mit unserm Text. Sollen wir auch weiter mit ihm sprechen: „Meine Augen werden's sehen, daß sie dann wie Koth auf der Gasse zertreten wird?“ O, wie viel lieber sähen wir's, daß was von der Jerusalemskirche geschrieben steht, dann, aufs neue zur Verwirklichung käme: „Die Gläubigen hatten Gnade bei dem ganzen Volk; der Herr aber that hinzu täglich zu der Gemeine, die da selig wurden!“ - Ja, also geschehe es! Baue der Herr seinen heiligen Tempel aus; fertige Er Jerusalem zum Lobe auf Erden, lasse Er ihre Gerechtigkeit aufgehen wie einen Glanz, und ihr Heil entbrennen wie eine Fackel und bringe bald an ihr zur Erfüllung das Wort durch Mosen geredet: „Das wird eure Weisheit und Verstand sein bei allen Völkern, daß, wenn sie von euch hören werden, sie sagen müssen: „Ei, welche weise und verständige Leute sind das, und welch ein herrliches Volk! Wo ist so ein großes Volk, das so gerechte Sitten und Gebote habe, wie dieses?!“ -

Ihr seht, unsre Ansichten sind heiter, unsre Hoffnungen groß. Wenn auch noch schwere Sichtungen über uns ergehen werden, „wir kommen, und zwar phönixartig wieder auf!“ Nichts ist gewisser als dies. Des Herrn Mund verheißt es; und ein Fels ist Er: wohl Allen, die auf Ihn trauen! - Stärken wir drum unsre Seelen in trüber Zeit an den Bildern der schönem Zukunft, der wir nach seinem Worte entgegengehen. Tragen wir selbst, so viel an uns ist, Steine und Mörtel hinzu zum neuen Tempelbau, arbeitend, wie weiland Israel: die Kelle in der Rechten, in der Linken zur Abwehr der Widersacher das Schwert des Geistes, und vor Allem betend, daß bald der alte Prophetenklang Jes. 66 erwache und lebendig werde: „Freuet euch mit Jerusalem, und seid fröhlich über sie, Alle, die ihr sie lieb habt. Freuet euch mit ihr, Alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. Denn nun sollt ihr saugen und satt werden von den Brüsten ihres Trostes; ihr sollt nun schlürfen und euch ergötzen von der Fülle ihrer Herrlichkeit. Denn also spricht der Herr: Siehe, ich neige den Frieden zu ihr, wie einen Strom, und die Herrlichkeit der Heiden, wie einen ergossenen Bach. - Ich will euch trösten, wie Einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden!“ - Amen.

Quelle: Krummacher, Friedrich Wilhelm - Zeit-Predigten

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