Krummacher, Friedrich Wilhelm - Thomas.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Thomas.

Predigt über das Evangelium am ersten Sonntag nach Ostern, gehalten den 18. April 1852.

Thomas aber, der Zwölfen einer, der da heißt Zwilling, war nicht bei ihnen, da Jesus kam. Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Es sei denn, daß ich in seinen Händen sehe die Nägelmale, und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, will ich es nicht glauben. Und über acht Tage waren abermals seine Jünger drinnen, und Thomas mit ihnen. Kommt Jesus, da die Thüren verschlossen waren, und tritt mitten ein und spricht: Friede sei mit euch! Darnach spricht er zu Thomas. Reiche deinen Finger her, und siehe meine Hände; und reiche deine Hand her, und lege sie in meine Seite; und sei nicht ungläubig, sondern gläubig. Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr, und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Dieweil du mich gesehn hast, Thomas, so glaubest du. Selig sind, die nicht sehn, und doch glauben.
Joh. 20,24-29.

Die Kirche schließt uns den Ostergarten wieder auf. Sie möchte denen unter uns, die etwa am großen Feste leer ausgegangen, zu einer Nachlese verhelfen. Das Thomas-Evangelium eignet sich hiezu vortrefflich. Wird es doch auch hier Einem gegeben, nachträglich noch, und zwar auf’s seligste, sein Ostern zu halten. Nun, daß man nur bei Leibes Leben noch hiezu gelangt! Jenseits des Grabes wird freilich Jedem einst das Bekenntniß der Verwunderung abgenöthigt: „Der Herr ist wahrhaftig auferstanden!“ Aber wehe Allen, welchen dort erst die Zunge hiezu sich löst! Das „Friede sei mit euch“ ist für sie verstummt, und ein „Hinweg von mir, ich habe euch nie erkannt!“ tritt an dessen Stelle. – Eine kostbare Gnadenstunde, die dem Thomas in unsrer Textgeschichte schlägt! O, schlüge heute eine ähnliche allen denen, die gleichfalls, wie jener acht Tage hindurch, mit ihren Sinnen und Gedanken in der Todesnacht des Charfreitags haften blieben! - Wir wünschen und erflehen es. Verleihe der Herr, daß es geschehe!

Der Apostel Thomas ist der Mittelpunkt unsrer heutigen Betrachtung. Wir wollen sehn, zuerst, wie er sich um den Ostersegen brachte; dann, wie er, der Ungläubige, doch in guter Anwartschaft verblieb; und endlich, wie er der Osterbeute wirklich noch theilhaftig wurde.

Bekenne sich der Herr zu unserm Worte, und segne er es zu unsres Glaubens Stärkung! –

1.

Nicht zu ermessen ist es, geliebte Brüder, in wie weitem Umfange der allgenugsame Gott den Schatz seiner Gnade uns hat aufgethan. Wie könnte die Welt so reich, so gesegnet, so überglücklich sein; und ach, wie ist sie in der Mehrzahl ihrer Kinder so arm, und wie darbt und verkümmert sie selbst da, wo, wie in der Christenheit, der Strom des Heils mit hohen Wogen dicht an ihren Füßen vorüberrauscht! Aber warum verkümmert sie, als weil sie jenem verschmachtenden Pilger in der arabischen Wüste gleicht, der sich nicht einreden lassen wollte, daß die aus nicht zu weiter Ferne herüberragenden grünen Hügel wirklich diejenigen des nun bald erreichten gelobten Landes seien, sondern eigensinnig bei der Behauptung verharrte, es sei was man gewahre, nur wieder eine täuschende Luftspiegelung, nichts Realeres, und dann in diesem Wahne sich niederstreckte, um Angesichts des lieblichsten aller Wanderziele am Gifttrunke der Verzweiflung zu sterben. O, der Unglaube, der Unglaube! Es gibt keinen ärgern Feind der Menschheit als ihn, der um ihr kostbarstes Erbtheil sie betrügt, und, während er sie ausplündert, sie noch glauben macht, daß er sie segne und erhöhe. Einen merkwürdigen Anblick gewährt jene dunkle Trauergestalt dort im Kreise der freudestrahlenden Jünger des Erstandenen! Wie ein vereinzelter, kahler Baum in einem grünenden Frühlingshaine steht Thomas unter seinen Brüdern da. Es haben selten wohl Glaube und Unglaube mit ihren entgegengesetzten Wirkungen in grellerem Contraste einander gegenüber gestanden, als hier: der Glaube eine Lerche, sich selig badend im Strahlenglanze des Firmaments; der Unglaube ein Maulwurf, in die Scholle sich verwühlend, und in seiner Finsterniß behauptend, daß weder Sonne, noch Mond und Sterne am Himmel leuchten!

Doch zur Geschichte! Der Anfang derselben versetzt uns in jene späte Osterabendversammlung zu Jerusalem, und zwar in den Moment zurück, da eben bei verschlossenen Thüren der erstandene Friedenskönig unversehens eintrat, den Seinen seinen Ostergroß entbot, und dann, nachdem er die Erschrockenen von ihrem Wahne, als sähen sie nur ein Phantom, geheilt, und in leutseligster Weise sie überführt hatte, daß er mit dem Mann der Schmerzen, den sie am Kreuze verbluten sahen, wahrhaftig ein und derselbe sei, aus ihrer Mitte wieder verschwand, um sie erst in Galiläa wiederzusehn. So wußten denn auch sie jetzt aus eigner Anschauung, daß der Meister in Wahrheit lebe. “Da wurden die Jünger froh“, meldet die Geschichte. O wir glauben’s, daß sie froh geworden. Ueberglücklich waren sie, und vermochten es nicht zu fassen, wie sie die Schrift und des Meisters eigne, ausdrückliche Vorherverkündigungen so übel hatten verstehen können, um nicht sofort schon bei der ersten Botschaft der Weiber von dem leeren Grabe auf den Gedanken zu gerathen, daß der Herr auferstanden sein müsse. Doch wohin wenden sie sich nun? Gehen sie zur Ruhe? Spät genug wäre es hiezu; aber an Schlaf ist in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Sie vermissen der Brüder einen in ihrem Kreise; der muß aufgesucht, und, damit er sich mit ihnen freue und fröhlich sei, von den großen Dingen, die sie erlebt, in Kenntniß gesetzt werden.

Wir wissen, wer der Fehlende ist. Ob er ab dem blutigen Freitage schon, oder erst am Ostermorgen nach Eintreffen der niederschlagenden Nachricht von dem Verschwundensein des Leichnams Jesu aus seinem Grabe, von den übrigen Jüngern sich getrennt, wird eben so wenig uns gemeldet, als der Ort uns bezeichnet wird, wohin er sich zurückgezogen habe. Genug, ein Mann von vorwiegend kritischem Verstande, wie er war, und zugleich, wie es scheint, zur Schwermuth neigend, hatte er nach der Katastrophe auf Golgatha die Sache des Meisters so gut wie verloren geben zu müssen geglaubt, und irgend einen einsamen Winkel aufgesucht, um dort, unglücklich, wie es im größern Maaße wohl selten Jemand war, ganz seinem Harm und Kummer nachzuhangen. Die Brüder aber wußten schon in der Nacht seine Spur zu entdecken, und stürzten, athemlos vor Freude, mit der Botschaft in sein Gemach: “Wir haben den Herrn gesehn. Er ist wahrhaftig auferstanden!“ Aber was gibt es nun? Eine Woge bricht sich an einem Fels; ein Schall verklingt einsam und echolos im Walde. Kann Thomas nicht glauben, oder will er nicht, und gesellen sich zu seinen Zweifeln außer der Furcht vor der Täuschung, auch noch Neid und Verdruß, daß den Freunden so Großes zu Theil geworden sein sollte, und nicht zugleich auch ihm? Ich weiß es nicht. Genug, er braust cholerisch auf, wie einst, da er, nachdem der Meister sich von dem Gefahr drohenden Gange nach Jerusalem nicht hatte wollen abmahnen lassen, in die Worte düster resignirenden Unmuths ausbrach: „So lasset uns mit ihm ziehn und mit ihm sterben.“ Thomas wird ungestüm und heftig, und ruft in gereiztem Tone und mit ungebührlicher Anmassung daher: “Es sei denn, daß ich in seinen Händen sehe die Nägelmaale, und lege meine Hand in seine Seite, will ich es nicht glauben!“

Da habt ihr den ungläubigen Jünger. So brachte er sich um den Ostersegen. Die Osterwelt lag mit ihren tausend Seligkeiten offen vor ihm; aber der Unglaube bannte ihn fest in einer Wüste voll Nacht und Grauen. Wie, daß er nur also zweifeln konnte? Nun, dieses Wie ist kein unergründliches Geheimniß, sondern liegt hier klar und deutlich auf der Hand. Zuvörderst wird ja, wie ihr wißt, das arme Menschenherz dermaaßen vom Bilde des Todes und seiner Schauer beherrscht, daß nichts schwerer Raum und Herberge bei ihm findet, als der Gedanke an die Möglichkeit einer Wiederbelebung aus Sarg und Grab. Sodann ist der Adamssohn in seinem gegenwärtigen, zerrütteten Zustande mit seinem Bewußtsein so unendlich weit von dem persönlichen Gott verschlagen, daß, wo Dieser einmal unmittelbarer, in einer That, die wir Wunder nennen, in die Erscheinung tritt, ihm eher an Gespenster, Phantome, Phantasmagorien und wer weiß, an was Alles sonst, der Gedanke kommt, als an eine wirkliche Offenbarung des Allerhöchsten. Zum Dritten war es dem Thomas eingefallen, nach eigenen Gutdünken eine Meinung darüber sich zu bilden, welchen Ausgang es mit dem Leben seines Herrn und Meisters nehmen müsse; und da nun Alles so gar anders sich gestaltete, als er’s berechnet, stand er verblüfft, und aus aller seiner Fassung herausgeworfen. Er hatte vergessen, daß das Vornehmen Gottes überall das Maaß, womit es gemessen sein will, nicht in unserm Meinen und Gedenken, sondern in sich selber habe. Zum Vierten hatte der liebe Jünger nicht ernstlich genug dem Studium der heiligen Schriften obgelegen. Eine gründlichere Vertrautheit mit den Rathschlüssen und Heilsgedanken Gottes, wie sie ja in den Weissagungen der Propheten schon klar zu Tage lagen, hätte ihn gelehrt, den Tod und dann die Auferstehung des Mittlers als die nothwendig und unausbleiblichen Entwicklungs-, Schluß- und Vollendungspunkte seines Erlösungswerkes anzusehn und mit Zuversicht zu erwarten. Fünftens knüpfte er seine Bereitwilligkeit zum Glauben an zu überspannte Bedingungen. „Es sei denn, daß ich meine Hände lege in seine Wundenmaale!“ O, wozu doch eine solche Forderung? Die übereinstimmenden Zeugnisse sämmtlicher Jünger, Simons getrocknetes Auge, Magdalenens, der tief zerknirschten, Jubel, und die Aussage des lautern und sinnigen Johannes: welche mächtige Beweiskraft für die Wahrheit der Auferstehung schloß nicht dieses Alles in sich! Wie überschwänglich reichte es hin, die hartnäckigsten Zweifel zu brechen! Aber was half’s? Thomas verharrte bei seiner Leugnung. Alles jedoch, was dem Glauben in ihm den Raum benahm, wäre schnell überwunden gewesen, wenn er nicht all’ zu eilfertig einem Gewebe von Scheingründen, welche die Sache Jesu aufzugeben riethen, das Feld geräumt, und zu frühe Jerusalem verlassen hätte. O, wie unzählige auch unsrer Zeitgenossen befinden sich mit Thomas in gleicher Lage, indem auch sie, durch allerlei Trugschlüsse verführt, zu zeitig die Akten über Jesus geschlossen, und, den Glauben ihrer Kindheit an eine elende Gassenweisheit verhandelnd, zu frühe Jerusalem verlassen haben. Nun leben diese Beklagenswerthen von unsern kirchlichen Versammlungen fern, und hören, nur noch vom Gewäsche der blinden Welt umsummt, nicht mehr die Botschaft vom Heile Gottes. Das Schwerdt, das wider den Unglauben hier geschwungen wird, vermag sie nicht mehr zu erreichen; und die Zweifellösung, mit der wir unbefestigten Seelen so gerne zu Diensten stehn, dringt zu ihnen nicht mehr durch. Zu frühe wandten sie der Sphäre den Rücken, wo die Einwürfe gegen unsre Sache an’s Licht gezogen und entkräftet, und wo die siegreichen Argumente für dieselbe wie eine blitzende Legion gegen den Zweifel in’s Feld geführt werden. Zu frühe zogen sie von den Kreisen sich zurück, in denen die Weltgeschichte, mit dem Worte Gottes beleuchtet, zu einem Schauplatze sich verklärt, der, bald in erfüllten Weissagungen, bald in unverkennbaren Fügungen eines höheren Regiments, auf Schritt und Tritt mit den Fußtapfen Dessen, der todt war und ewiglich lebet, bedeckt ist. Zu frühe entfernten sie sich von dem Gebiete, durch welches die Siegeskunden der Mission die Runde machen. Es giebt ja für die Wahrheit, daß der Gekreuzigte lebe, und die Schlüssel der Hölle und des Todes trage, kaum stärkere Sach- und Thatbeweise, als die Wunder der Wiedergeburt und Welterneurung, in welchen Er fort und fort unter den Söhnen und Töchtern der Wildniß sich verherrlicht. Aber zu schnell stießen die Bethörten Freunde von der friedlichen Küste ab, bei welcher die Schifflein mit den Zeitungen von diesen himmlischen Triumphen vor Anker gehen. Und vollends zu frühe trennten sie sich von der engern Gemeinschaft der Kinder Gottes, bei denen der Herr ohne Unterlaß grüßend und segnend aus- und eingeht, und wo er, bald in Gebetserhörungen, bald in überraschenden Aushülfen, bald in mächtigen Tröstungen, oder worin sonst es sei, tagtäglich den Schleier abwirft, und sich als den Lebendigen erfinden läßt. Die Berichte der „Stillen im Lande“ von ihren göttlichen Erlebnissen und Erfahrungen dringen nicht mehr zu ihrem Ohr. Zu früh, zu früh zogen sie von Jerusalem weg, und brachten sich dadurch um Schätze, deren Herrlichkeit mit Worten nicht auszureden ist. Wären sie noch geblieben, ich bin gewiß, sie würden nimmer in ihre jetzige Unglaubensnacht hineingerathen sein. Aber sie zogen ab, und brachten sich um das Köstlichste, was Gottes Gnade uns bereitet hat: den Ostersegen. –

2.

Doch was höre ich? – „Nun“, spricht eine Stimme, „glauben wir nicht, so haben wir auf unserm Standpunkt einen Apostel zum Genossen!“ – Sagt lieber: “Zum Zeugen wider uns!“ O, möchtet ihr Alle, die ihr nicht glaubt, wirklich Sinnesgenossen unsres Thomas sein! Aber nicht zu frühe die Bruderhand ihm dargereicht! Er möchte sich eure Genossenschaft sehr ernstlich verbitten müssen. Zwischen dem nicht glaubenden Thomas und dem frivolen Völklein unsrer modernen Ungläubigen ist eine himmelweite Kluft befestigt. Thomas war nicht ungläubig aus Prinzip, sondern aus Schwachheit. Er war es, nicht, weil etwa in einer niedern Richtung auf’s Irdische das Organ für Höheres, Himmlisches und Ewiges ihm erstorben gewesen wäre, sondern lediglich, weil ihm ein Flor falscher Voraussetzungen vor den Augen hing. Er kokettierte nicht mit seinem Unglauben, wie so Manche unter uns. Welche gründliche Verachtung vielmehr würde er denen unter uns bewiesen haben, die ihre Skepsis als Aushängeschild eines vermeintlichen Scharfsinns und vorgeblichen höhern Bildungsgrades vor sich her tragen. Thomas machte es nicht, wie Tausende unsrer Zeitgenossen, die in mehr oder minder bewußter Absicht mit ihren Einwürfen und Zweifeln sich förmlich gegen das Evangelium verpanzern, weil sie wohl fühlen, daß sie, falls sie dem Evangelium beipflichten, und Jesum als denjenigen, für welchen er sich selbst in seinem Worte ausgibt, anerkennen müßten, in demselben Augenblick genöthigt sein würden, den Weltgötzen, denen sie fröhnen, Valet zu geben, und die breite Straße, die sie mit so vielem Behagen schlendern, mit dem schmalen Wege der Verleugnung zu vertauschen. Verpanzerte sich auch Thomas gegen das Evangelium, so that er dies in ganz entgegengesetzter Absicht. Er wünschte nichts sehnlicher und heißer, als daß der Heiland wirklich wieder leben, und somit als der Sohn Gottes bestätigt sein möchte; aber es graute ihm vor der Vorstellung, daß er sich ohne Grund einem so seligen Gedanken überlassen, und hintennach aufs neue den Schrecken einer bittern Enttäuschung verfallen möchte. Die mehrsten Ungläubigen neueren Schlages glauben nicht, weil sie die Finsterniß mehr lieben, als das Licht; woraus denn auch die auffallende Erscheinung sehr erklärlich wird, daß selbst bei den Verständigeren unter ihnen nicht selten die elendesten Scheingründe wider die christliche Wahrheit viel eher Eingang finden, als die stärksten und entschiedensten Argumente für dieselbe. Thomas war vielmehr ein Freund und Liebhaber des Lichts; und daß er demohnerachtet so lange in Finsterniß saß, hatte seinen Grund nicht in einer Lichtscheu, der des Nachtgeflügels ähnlich, das den Schein des Tages haßt und darum flieht, sondern in einer Wolke nichtiger Vorurtheile, welche den Strahl der Ostersonne noch nicht durchließ. Zweifler solcher Gattung aber, ob sie auch nur erst bis in den Vorhof des Heiligthums hineingedrungen, stehen trotz ihrer Ungläubigkeit doch schon in bester Anwartschaft. Ihrer, die nicht todt, sondern nur noch krank sind, gedenket der Herr in Liebe, und wird nicht zugeben, daß ihr Schifflein zwischen den brandenden Wogen des Zweifelmeers versinke, sondern Sorge tragen, daß es unversehrt den Port der Wahrheit und des Friedens erreiche.

Unserm Thomas nähert er sich bereits, der Nothhelfer aller derer, die es redlich meinen. Acht Tage sind vergangen, da treffen wir die Jünger grade wie am Osterabende, und irren wir nicht, auch an demselben Orte, wieder beisammen. „Und Thomas mit ihnen“, meldet die Geschichte. Nein, länger hatte er es in seiner Absonderung von den Brüdern doch nicht auszuhalten vermocht. “Und Thomas mit ihnen.“ – Ihr seht, daß er doch so gar ungläubig und verzweifelt nicht war, wie er sich die Miene zu geben suchte, es zu sein. Die Brüder werden sich bei seinem Eintritt lächelnd angesehn haben; nur durften sie ihn ihre heimliche Freude nicht merken lassen. Er wäre sonst im Stande gewesen, und hätte noch ungestüme denn zuvor, seine trotzige Betheuerung wiederholt: „Es sei denn, daß ich meine Finger lege in seine Nägelmaale will ich es nicht glauben.“ – Wie sie nun so beisammen sind, da plötzlich, - sein Leib, schon im Uebergange zur Verklärung begriffen, war bereits den Winken seines Geistes unterthänig, - steht der Fürst des Lebens wieder in ihrer Mitte, und wie Musik des Himmels schlägt an ihr Ohr sein Ostergroß: “Friede sei mit euch!“ Wir grüßen mit den Jüngern Ihn jubelnd und frohlockend wieder. Ja, er lebt, er lebt, und das nimmer endende Siegeshalleluja darf jetzt erklingen. – Welche Absicht den Friedensfürsten diesmal hergeführt, liegt vor der Hand. Sein Erscheinen ist voll herrlicher und trostreicher Bedeutung. Er will, daß Thomas wieder glaube. Nicht also theilt er die Meinung der Welt, daß am Glauben wenig gelegen sei. Der Jünger soll insonderheit Seiner Auferstehung von den Todten versichert werden. Ihr seht also, daß auf dieses Faktum Er selbst das höchste Gewicht legt. Was könnte aber auch, selbst abgesehen von der bedeutungsvollen Stellung, welche Seine Auferstehung im Werke der Erlösung einnimmt, für uns von höherm Interesse sein, als die Thatsache, daß in seiner Person einmal wirklich ein Verstorbener in’s Leben, und zwar in ein verklärtes und unsterbliches Leben zurück trat? Welch’ eine Fülle lieblicher Aussichten und Hoffnungen knüpft sich für uns an eine solche Begebenheit! Es liegt dem Herrn daran, daß namentlich Thomas als ein zum Apostelamt Berufener, keines Dinges zuverlässiger gewiß sei, als daß sein Heiland, welcher todt war, wieder lebe. Wie unzweideutig spricht der Meister hiemit selbst es aus, das die historische Gewißheit seiner Auferstehung der Pfeiler sei, von welchem das ganze Christenthum getragen werde! – Da steht er in der Schöne seines neuen Lebens, der treue Arzt, der immer das Herz ansieht, und auch unter Haufen von Schutt und Asche das verborgene Fünklein göttlichen Sehnens und Verlangens wohl herauszufinden weiß, um es zu seiner Stunde zur hellen, lichten Flamme anzublasen. Da steht er, der rechte barmherzige Samariter, der großes Mitleid hat mit seinen armen Pfleglingen, und längst mit dem Gedanken vertraut ist, daß er, so lange sie hienieden wallen, wohl meist nur Krankenwärter- und Lazarethdienste in ihren Kreisen werde zu verrichten haben. Auf’s neue spricht er sein “Friede sei mit euch!“ Warum er diesen Gruß so häufig wiederhole? O, warum doch, als um es auf das stärkste und nachdrucksvollste zu bezeugen, welches der wahre Zweck seiner Sendung in die Welt, und seines ganzen Werkes Ziel und letzte Frucht sei? Friede heiße diese Frucht, Rettung, Erlösung und Beseligung der Sünder. Ein neues Eden kam er zu pflanzen, ein Eden voll entsündigter, Gott wohlgefälliger, mit dem Frieden Gottes getränkter, und zum himmlischen Hochzeitsmahl geladener Gotteskinder. O, ihr leset es den Jüngern ja aus ihren freudestrahlenden Augen heraus, daß sie schon mitten in diesem neuen Paradiese athmen. Und auch unser Thomas soll nicht länger draußen stehen, noch ferner sich ohne Noth vergrämen. Ihn seinen osterseligen Brüdern gleichzustellen, kam der Herr. Es befindet sich Thomas somit ohne es zu ahnen, in guter Anwartschaft. In solcher stehst aber auch du, liebe Seele, die ich dem Namen nach nicht kenne, die aber in diesen Tagen brieflich ihr Innerstes vor mir aufzuschließen sich gedrungen fühlte. Du klagst, wie du beim besten Willen immer noch zum zweifellosen Glauben nicht gelangen könnest. O wisse, daß schon diese deine Klage wie den göttlichen Keim, so die unfehlbare Verheißung eines zukünftigen vollen Glaubenslebens in sich schließt. Du bist bekümmert, daß du unablässig um Buße flehst, und dieselbe dir dennoch nicht gegeben werde. Sei getrost! Die Buße kleidet sich in mancherlei Gestalt, und ich bin geneigt, dafür zu halten, daß sie, wenn auch noch nicht als Gefühl, so doch als Gesinnung schon dein eigen ward. Daß du, bevor du zum Bewußtsein des neuen Lebens in dir gelangst, erst in so bittrer Weise deinen innern Tod empfinden mußt, ist mir nur ein unzweideutiger Beweis, daß du nicht mehr dir selbst gelassen bist, sondern in der That schon in der erziehenden Pflege und Führung des Herrn dich befindest. Ja, in dem innigen Leidwesen, welches dein Herz darüber erfüllt, daß du „keine Fortschritte in der Besserung“ an dir wahrnimmst, liegt bereits, ob auch dir selbst verschleiert, ein wesentlicher und erfreulicher Fortschritt. Du hast entschieden mit der Sünde gebrochen, und dein inwendiger Mensch strebt sehnsuchtsvoll der Heiligung in dem Herrn zu. O gehe du nur stille deinen Weg, und lasse nicht ab, an die Gnadenpforte anzuklopfen, und miß zu ängstlich nicht den Grad der Salbung, der Wärme, oder gar des Wortreichthumes deines Gebetes: genug, wenn dein Gebet wahr und aufrichtig ist. Die Stunde, in der der Herr auch dir sich offenbaren wird, wird schon schlagen, und dann der Strom seines Trostes ein um so tieferes Bette bei dir finden, je länger du nach demselben schmachten und auf ihn harren mußtest.

3.

Seht unsern Thomas. Da steht er, stumm und bleich, wie ein Marmorbild. In die Lüfte möchte er fliegen vor Wonne, und doch auch wieder in die Erde sich verkriechen vor Schaam und Beugung. O, daß doch das unglückliche Trotzwort: „Es sei denn, daß dies und das geschehe!“ nie von seinen Lippen gegangen wäre! Und am Ende soll ihm in der That jetzt gewährt werden, was er so vermessen zu fordern wagte! – Ja, der Herr schreitet auf ihn zu, sieht mit freundlichem Ernste ihm in’s Auge, und spricht zu ihm, - der Herzenskündiger weiß um Alles: - „So reiche nun deinen Finger her, und siehe meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite; und sei nicht ungläubig, sondern gläubig.“ – Ob Thomas so gethan, und seinen Finger hergereicht? Kaum glaube ich’s. Aber das weiß ich, daß er eine Weile nicht gewußt hat, ob er wache, oder nur selig träume, als er Den wirklich in der Herrlichkeit seines neuen Lebens vor sich sah, der sein Eins und Alles war. Ganz in das holdselige Bild des Erstandenen versunken steht er gebeugten Hauptes da. Mit der lebendigen Ueberzeugung von Seiner Auferstehung wacht zugleich aller aus den Worten und Werken Jesu früher geschöpfter Glaube in seinem Herzen wieder auf. Und was begibt sich? Großes, Großes! Es kommt zu einer Scene, die zu einem der mächtigsten Tragepfeiler unsres eigenen Glaubens geworden ist. Thomas, der Mann der Reflexion und Bedächtigkeit, bricht, auf eine Kette unabweisbarer logischer Schlußfolgerungen gestützt, in das unzweideutige Bekenntniß anbetender Huldigung aus: “Mein Herr, und mein Gott!“ – Johannes, um jeder Verdrehung und Ausleerung dieser Worte vorzubeugen, bemerkt ausdrücklich, “zu ihm“, nämlich dem Erstandenen, habe Thomas Solches gesagt. Er hub mit jenen Worten seinen Meister auf den Stuhl der ewigen Majestät empor, und bekannte nichts Geringeres damit, als die Wesensgleichheit des Sohns Marias mit seinem himmlischen Vater, dem Gott aller Götter. Gab Thomas dem Herrn mit diesem seinem Bekenntniß der Ehre zu viel, so war hier der Ort, wo der Heiland, wie einst Paulus und Barnabas zu Lystra, in heiliger Entrüstung sein Kleid zerreissen, und ihm entgegnen mußte: „Unsinniger, was gehet da von deinem Munde? Auch ich bin ein sterblicher Mensch, wie du, und predige, daß ihr euch bekehren sollt von den falschen zu dem lebendigen Gott!“ – Ja, wenn der begeisterte Jünger wirklich mit seinem “Mein Herr und mein Gott!“ die Grenze der Wahrheit überschritt, so lag es dem Herrn Jesu viel dringlicher noch ob, als jenem Engel, Offenbarung 19, welchem Johannes anbetend zu Füßen fallen wollte, dem maaßlos Schwärmenden mit dem Zuruf entgegen zu treten: „Siehe zu, Thoma, und thue es nicht. Ich bin dein Mitknecht, und deiner Brüder einer. Bete Gott an!“ – Aber statt dessen, was thut der Herr? Der Hölle zum Trotz, den Ungläubigen zum Gericht, den Freunden zur Stärkung ihres Glaubens, spricht er: “dieweil du mich gesehn hast, Thomas, so gläubest du. Selig sind, die nicht sehn und doch glauben.“ – Also eine nachdrucksvolle Bestätigung des großen Bekenntnisses seines Apostels. “Jetzt glaubest du!“ Was heißt das, als: „Nun erfaßtest du das Rechte; jetzt erkennest du mich im Lichte der Wahrheit!“ – Sein königliches Insiegel drückt er auf Thomä Wort. Sagt nun, ihr Glaubenslosen, was würde aus Jesu, euerm sogenannten „Vortrefflichen aus Nazareth“, wenn er nicht wirklich der wesensgleiche Sohn des lebendigen Gottes wäre, für welchen Thomas ihn erklärte? Bemerkt doch, in welch’ Gedränge ihr hier wieder gerathet, und wie euch hier auf’s neue die Alternative gestellt wird, entweder mit Thomas Jesu als dem göttlichen Immanuel anbetend die Kniee beugen, oder – ich mag nicht sagen, für was, ihn erklären zu müssen. Seid aber keine Thoren, keine Wahnsinnigen, keine Rebellen, sondern gönnt der Wahrheit, die hier mit aufgedecktem Angesichte vor euch hintritt, Raum in euerm Herzen, und stammelt auch ihr, hinsinkend zum Staube, euer “Mein Herr und mein Gott!“ Die Ewigkeit wird es versiegeln, daß ihr Ihm nur die Ehre gabt, die Ihm gebührt. –

„Aber wie können wir?“ – Freunde, wollt auch ihr etwa sprechen: „Es sei denn, daß wir unsre Finger legen in seine Wundenmaale!“ – Sehet Thomas an. Er war euer Stellvertreter. An ihm hat der Herr euch einmal euern kecken Willen gethan. Reicht es nicht hin, daß er zu solchem sinnlichen Erweise seiner Auferstehung, und damit zugleich seiner Gottessohnschaft sich einmal herabließ? Wollt ihr die vermessene Forderung immer wieder erneuern? Haben nicht seit der Scene mit Thomas die thatsächlichen Argumente für das Gottesleben Jesu sich bergeshoch gehäuft? Leuchten sie nicht massenweise aus der Geschichte Seiner Kirche euch entgegen? Läßt sich’s nicht dem Verstande fast demonstriren, daß der Löwe aus Juda überwand, und sich zur Rechten der Majestät in der Höhe setzte? Mustert doch einmal mit vorurtheilsfreiem Geiste die wie in Schlachtordnung aufgestellte unabsehbare Reihe logischer und historischer Gründe für die Wahrheit unsres Evangeliums; und gelingt’s auch der noch nicht, die hartnäckige Brut eurer Zweifel zu überwinden, so gehet meinetwegen, ähnlich wie Thomas, den Herrn auch noch um eine besondere und noch handgreiflichere Offenbarung seines fortdauernden Lebens an, und ersucht Ihn um ein unzweideutiges Zeichen, das er euch in irgend einer Hülfe, in irgend einer Rettung, oder worin sonst es sei, gewähren wolle. Begehrt ihr’s in Einfalt, und nicht versucherlich, ich glaube, Er wird euch euern Willen thun, und so leibhaftig euch unter die Augen treten, daß ihr den Thomas um die Weise seiner Innewerdung nicht mehr beneiden werdet.

Doch vor allen Dingen überhört nicht sein Wort: “Selig sind, die nicht sehn, und doch glauben!“ Er sagt hiemit, daß es eine Gläubigkeit gebe, der er vor jeder andern den Vorzug ertheile. Zweierlei Glauben giebt’s, ihr lieben Freunde: Der eine stützt sich auf äußere Beweisthümer, und ist derjenige weniger innerlicher Menschen; der andere wirft jene Krücken weg, weil er, im Besitze höherer Gründe ihrer nicht bedarf, und ist der Glaube tieferer und zarter besaiteter Seelen. Laßt mich Niederes mit Höherem vergleichen. Wir stehn vor einem Bilde. Es weiß Einer, das Bild sei von Raphael, weil zuverlässige Urkunden ihm dies außer Zweifel stellten. Ein Anderer weiß ohne jene Urkunden dasselbe, weil er mit dem Geiste des großen Künstlers so vertraut ist, daß er mit zartem und geübtem Organe, wo immer derselbe in einer Schöpfung ihm begegnet, ihn sofort herauswittert und erkennt. An einem Orte war ein edler Mann. Einer weiß dies, weil glaubwürdige Augenzeugen es ihm berichtet haben. Ein Anderer weiß es nicht minder, aber bevor irgend Jemand es ihm kund that. Aus den sinnigen Erinnerungszeichen nimmt er es ab, die der Mann, wie eine Blume ihren Duft, wie ein ätherisches Meteor seinen Lichtreif, hinter sich zurückeließ. So gibt es auch eine feinere und zartere Wahrnehmungsfähigkeit für die göttlichen Dinge, welche in dem Maaße zunimmt und sich schärft, in welchem wir mit den Bedürfnissen unsres inwendigen Menschen vertrauter werden. Da schaut man Jesum nur im Spiegel des Evangeliums an, und Alles, was in uns ist, jauchzt ihm entgegen: “Du bist es!“ Man begleitet ihn im betrachtenden Geiste auf seinem Lebensgange, und stimmt mit voller Seele in die Worte Johannis ein: „Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit!“ Wie mit Händen greift man in seiner Person, wie in all’ seinem Thun den Rathschluß des lebendigen Gottes; und glaubt es nicht mehr nur, sondern weiß es: „Dich sendete Gott, du kommst im Namen des Herrn!“ „Wer“, spricht man, „könntest du sein, wenn nicht Immanuel, Du, der Du allein mein ganzes Herz ausfüllest, meine verborgensten Wünsche krönst, meine heiligsten Bedürfnisse befriedigst, und aller meiner Noth ein Ende machst?“ – Man glaubt an Ihn, wie man an das Dasein der Sonne glaubt, während man in ihren Strahlen sich badet; wie an die Wundermacht der Quelle, indem man an ihren Wassern sich neues Lebens trinkt. Vermöge einer unmittelbaren Innewerdung erfaßt man Ihn als den Herrn vom Himmel, und bedarf für Seine göttliche Heilandschaft so wenig der Argumente mehr, wie deren ein Kind an der zärtlichen Mutter Brust dafür bedarf, daß es keine Waise sei. –

Begnadige denn der Herr uns Alle mit dieser Gläubigkeit, und ziehe Er unseren Seelen bald in der Buße die Aeolsharfensaiten auf, in denen die Friedenskunden seines Evangeliums einen reinen Wiederklang finden. Sein Geist allein ist solchem Werk gewachsen. Verleihe Er, daß bald Keiner mehr unter uns sei, der nicht, die Zweifelsschlange unterm Fuß, das Herz und Haupt umstrahlt vom Glanz der Ostersonne, mit dem anbetenden Bekenntniß Thomä: “Mein Herr und mein Gott!“ dem Erstandenen zu Füßen liege, und selbst die Seligkeit derjenigen empfinde, die “nicht sehen, und doch glauben!“ – Amen.

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