Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Stationen zum Kreuz.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Stationen zum Kreuz.

Predigt über das Evangelium am Sonntage Estomihi, gehalten den 22. Februar 1852.

Lukas 18,31-43.
Er nahm aber zu sich die Zwölfe und sprach zu ihnen: Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem und es wird Alles vollendet werden, das geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn. Denn er wird überantwortet werden; und sie werden ihn geißeln und tödten; und am dritten Tage wird er wieder auferstehn. Sie aber vernahmen derer keines, und die Rede war ihnen verborgen, und wußten nicht, was da gesagt war. Es geschah aber, da er nahe zu Jericho kam, saß ein Blinder am Wege und bettelte. Da er aber hörete das Volk, das durchhin ging, forschete er, was das wäre. Da verkündigten sie ihm, Jesus von Nazareth ginge vorüber. Und er rief und sprach: Jesu, Du Sohn David, erbarme dich mein! Die aber vorneran gingen, bedräueten ihn, er sollte schweigen. Er aber schrie vielmehr: Du Sohn David, erbarme dich mein! Jesus aber stand stille, und hieß ihn zu sich führen. Da er aber nahe herbeikam, fragte er ihn, und sprach: Was willst du, daß ich dir thun soll? Er sprach: Herr, daß ich sehend werde. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend, dein Glaube hat dir geholfen. Und alsobald ward er sehend, und folgete ihm nach, und pries Gott. Und alles Volk, das solches sah, lobete Gott.

Dies, geliebte Brüder, das Evangelium, mit dessen Klängen und die Kirche alljährlich die heilige Passionszeit einzuläuten pflegt. Fein, sinnig und weise hat sie gewählt. Wüßte ich doch kaum ein Schriftstück, das passender an der Schwelle des blutbenetzten Heiligthums der Leidensgeschichte stände, als eben dieses. Zum Richtzeichen, Leuchter, leitenden Faden, und zu was Allem sonst noch kann es auf dem geheimnißvollen Gebiet uns dienen, auf welchem wir nun wieder unter dem Liedesklange „O Lamm Gottes unschuldig“ sieben heilige Wochen hindurch mit unsrer Andacht uns bewegen werden. Diene es durch Gottes Gnade auch uns, wozu die Kirche in tiefer Berechnung es uns setze!

Der Herr, am Ziele seiner Erdenwallfahrt angelangt, nimmt seine zwölf Vertrauten besonders, und sagt ihnen endlich frei heraus, was es binnen Kurzem für einen Ausgang mit ihm nehmen werde. Er eröffnet ihnen die Aussicht auf sein Kreuz, aber auch auf seinen Triumpf und seine Herrlichkeit darnach. Was aber frommt’s? Die Jünger verstehn nicht, sonder meinen, er rede in unentzifferbaren Räthseln und Bildern. Nicht einmal den Wortsinn seiner Rede fassen sie. So fern lag ihnen damals noch selbst die leiseste Ahnung von dem eigentlichen Zwecke seiner Sendung. „Unbegreiflich!“ ruft ihr aus. Brüder, verwundert euch nicht zu früh. Ich besorge, daß nicht Wenigen unter uns in jenen blinden Männern nur ihr eignes Conterfei begegnet. – „Sollte dem wirklich also sein?“ – Ja, dem ist so. Diesen Lichtbedürftigen aber in unsrer Mitte vermittelst unsres Evangeliums zurechthelfende Handreichung zu thun, sei der Zweck unsrer heutigen Betrachtung. Wir geleiten sie in das Heiligthum der Passion hinein. Wir helfen ihnen zum Verständniß des Kreuzgeheimnisses. Mögen sie sich’s nur nicht verdrießen lassen, durch sieben Stationen uns zu folgen. Geben sie sich unsrer Führung hin, so verheißen wir ihnen dann auch mit aller Zuversicht, daß sie jenseits des siebenten jener Stand- und Ruhepunkte endlich zu der Stelle gelangen, wo sie tief innig und für die Ewigkeit befriedigt mit dem Apostel Gal. 6,14. jauchzen werden: „Es sei ferne von mir rühmen, denn allein des Kreuzes unsres Herrn Jesu Christi, durch welches mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt!“

Gefalle es dem Herrn, uns mit seinem Geiste zu begleiten, und mache er unsern stillen Betrachtungsgang für uns alle zu einem Gange des Heils und Segens!

1.

Komm denn, mein noch unkundiger Gefährte, und vertraue dich mir für eine kurze Gedankenreise an. Bis zur ersten Station haben wir nicht weit. Im Beginn unsres Evangeliums ist sie schon erreicht. Ein erhebender Blick wird uns hier gewährt. Der Sohn des lebendigen Gottes erschließt uns sein innerstes Bewußtsein. Was aber erscheint in diesem heiligen Schreine? Der Wille seines himmlischen Vaters in Gestalt eines Kreuzes! „Sehet“, spricht er, „wir gehen hinauf gen Jerusalem, und es wird Alles vollendet werden, das geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn. Denn er wird überantwortet, verspottet, verschmähet werden“, und wie es weiter heißt. Was verrathen diese Worte, als die zweifellose Gewißheit seiner Seele: Es ist meines Vaters Rathschluß, daß ich blute, daß ich sterbe? Was athmen sie, als die Freudigkeit des willigen Knechtes, welchem es Speise und Trank ist, seines Vaters Befehle zu vollstrecken? Was verlautet in ihnen, als das Frohlocken seiner Liebe in der entzückenden Zuversicht: Ich sterbe, damit Ihr Sünder lebet? Und was beurkundet die Kraft und Frische ihrer Betonung, als die tiefe Ueberzeugung des Herrn der Herrlichkeit von der unbedingten Nothwendigkeit der seiner harrenden Katastrophe, zur Welterlösung. Mit dem Bilde des Kreuzes in der Seele wurde Jesus geboren, und stellt er dasselbe jetzt erst des letzten Schleiers entkleidet an das Licht, so hindert das nicht, daß der Schattenriß entkleidete an das Licht, so hindert das nicht, daß der Schattenriß des blutigen Zeichens auch hundertmal schon früher in seine Reden herüberdämmerte, zum Zeugniß und Erweise, daß das nachmals zu den Emmausjüngern in der Form der Vergangenheit gesprochene: „Mußte nicht Christus solches Alles leiden“, schon längst, ja sein ganzes Leben hindurch, in der Form der Gegenwart und Zukunft als ein „Muß er nicht“ klar in seiner Seele ruhte. Daß aber Er, der die Wahrheit und Klarheit selber war, in seiner Todesmarter ein solches Muß erkannte, und daß wir Ihn, der dieser Marter in tausend Wege sich entziehen konnte, in die Worte freiester Entschließung ausbrechen hören: „Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem“, das ist wohl geeignet, uns von vorneherein schon einen hohen Begriff von der heilswirkenden Bedeutung der Leiden Jesu einzuflößen. Ja, Freund, sein Kreuz ward zu dem Pfeiler, von welchem der Bau aller deiner Hoffnungen getragen wird. – Doch greifen wir nicht vor. Nimm deinen Stab. Wir ziehen weiter.

2.

Der zweite Standort, zu dem ich dich geleite, ist von Palmen umschattet, und von Klängen der Verheißung umrauscht. Es weiset uns dahin das Wort des Herrn: „Es wird Alles vollendet werden, das geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn“. Könnte doch immer noch jemand frevelnd denken, es habe Jesus das Muß seiner Passion nur phantastisch geträumt. Solchem lästerlichen Einfall aber ist durch die Weissagung gründlich vorgebeugt. Schon durch das ganze Alte Testament, in welchem der Alles versehende Gott das Buch seiner Rathschlüsse vor uns aufthut, bewegt sich das Kreuz als das Heils- und Friedenszeichen des zukünftigen Gnadenreiches. Aus tausend Bildern in und außer der heiligen Hütte schaut es uns an. In unzähligen Aussprüchen malt der Heilige Geist es uns vor Augen. Gedenkt nur an das bekannte 53. Kapitel des Sehers Jesaias, an diesen Stein des Anlaufens für den Unglauben, an diesen Fels der Aergerniß, gegen den die falschberühmte Kunst, „höhere Kritik“ genannt, bis diesen Augenblick nur anstürmt, um an ihm, wie die Woge an dem hohen purpurnen Korallenriff im Meere, zu zerschellen. Weckt in eurer Erinnerung noch einmal die oft gehörten heiligen Klänge jenes Schriftstücks auf: „Er schießt empor vor ihm wie ein Reis, und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er war der Allerverachtetste und Unwertheste; ein Mann der Schmerzen, vor dem man das Angesicht verbarg. Fürwahr, er trug unsre Krankheit, und lud auf sich unsre Schmerzen. Er ist um unsrer Missethaten willen verwundet, und um unsrer Sünden willen zerschlagen, die Strafe lag auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. – Da er gequält und gemartert ward, that er seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführet wird, und wie ein Schaf, das vor seinem Scheerer verstummet. Er ist aber aus der Angst und dem Gericht genommen; wer will seines Lebens Länge ausreden? – Man bestimmte ihm (so lauten die Worte nach dem Grundtext) sein Grab bei den Gottlosen; aber man gab ihm seinen Hügel bei den Reichen. – Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, so wird er Samen haben und in die Länge leben; und des Herrn Vornehmen wird durch seine Hand fortgehn“. - - Hört, hört! – Von wem ist alles dies gesagt? – Von Israel? – Unsinniger Gedanke! Israel ist’s ja, das hier in der Person des Propheten, seines Vertreters, redet, und denjenigen, der um seiner (Israels) Sünden willen, werde verwundet werden, ausdrücklich von sich unterscheidet. – So gelten denn die Worte etwa vom Prophetenthum? Ich bitte euch! – Auch nicht ein Zug des wunderbaren Bildes paßt auf die Propheten. Wird doch auch hier nicht ein Prophet, sondern durchweg ein Hoherpriester geschildert, der „viele Heiden besprengen“, „Vieler Sünden tragen“, und „für die Uebelthäter beten werde“. Nein, der Mann jenes verheißungsvollen Kapitels ist kein andrer als der zukünftige Messias. Unmöglich aber konnte Jesaias acht Jahrhunderte vor der Erscheinung des großen Dulders, dessen Bildniß also malen, wie er es malte, wenn Gott der Herr ihm nicht die Farben dazu lieh, und das Modell ihm vor die Blicke rückte. Ja, wenn irgend eine prophetische Schilderung den Stempel unmittelbarer göttlicher Eingebung an der Stirn trägt, dann wahrlich diese, die aus eines, der Vorstellung eines leidenden Messias ohnehin nicht sehr geneigten Israeliten eignem Denken und Träumen nimmermehr erwachsen konnte. Ueber die Maßen bedeutsam aber ist es, daß Gott, der Ewige und Allmächtige gerade da, wo er vollständiger, als an irgend einem andern Orte, und fast in unvermittelter Weise, wie mit eigner Hand, das Conterfei des künftigen Retters uns vor Augen zeichnet, ihm sogleich die Dornenkrone auf das Haupt drückt, mit der Todeswunde im Herzen ihn uns vorführt, und als den Heiland der Welt und den Erlöser der Sünder erst aus seinem Blute, ja aus dem Todeszwinger erst ihn hervorgehen lässet. Nun steht’s ja außer Frage, daß das Muß, welches Jesus im Blick auf seine Passion in seiner Seele trug, kein Traum, sondern nur der reine Wiederhall einer hochheiligen Verordnung seines Vaters war. Gott der Herr entsiegelt uns in den Weissagungen seiner Seher seinen Erlösungsrathschluß; und das Erste, was aus der Tiefe dieses lebendigen Sacrariums hervortaucht, ist - das Kreuz, das Kreuz! Was sagst du hiezu? Durch was könnte die Bedeutung des Marterholzes in deinen Augen mehr sich steigern, als durch diesen Umstand? –

3.

„Warum aber ein blutiger Messias?“ – Wirklich kannst du so noch fragen? – Folge! Ich führe dich zur dritten Station. Hoch gelegen ist sie. Unser Weg geht aufwärts über die irdische Welt hinaus, empor zur lichten Schwelle des Thronsaals des Allmächtigen. Hier machen wir Halt. Hörst du das „Heilig, heilig, heilig“, in tausendstimmigem Engelchore seinen Stuhl umrauschen? Liesest du an Seines Thrones Stufen die Inschrift: „Ich bin heilig, und ihr sollt auch heilig sein?“ Vernimmst du den Ruf der Seraphinen: „Du bist nicht ein Gott, dem gottloses Wesen gefällt; wer böse ist, bleibt nicht vor dir!?“ – Merk: “Fern ihr Profanen!“ heißt hier die Losung. – Du zitterst? Es ist aller Grund dazu vorhanden. Der Erhabene, vor welchem dort die reinen Geister Haupt und Knie beugen, ist ein Licht, das mit der Finsterniß sich nimmer eint. - “Heilig, oder von seinem Angesicht verworfen!“ heißt hier das unverbrüchliche Gesetz. – Du zagst? – O, es zagten an dieser Stelle Größere schon, denn du. Ein Moses zagte, rufend: „Ich bin erschrocken und zittre!“ Es zagte ein Jesaias: „Wehe mir, ich vergehe, denn ich bin unreiner Lippen“. Es zagte ein heiliger Johannes selbst, als er von einem Strahle der Herrlichkeit Jehovas nur sich angeleuchtet glaubte, und sank einem Todten gleich zu Boden. Du fühlst, Gott stehe den Sündern entgegen. Er müsse ihnen entgegenstehen, fühlst du, oder er sei nicht Gott. In seiner Natur siehst du seine Geschiedenheit von Allem, was unrein, ewig begründet; und wie denkst du in diesem Allen so richtig, so wahr, so höchst vernünftig! – Und doch sähe die Liebe des Allerbarmers die ungeheure Kluft, die zwischen ihm und uns, den Uebertretern, gähnt, so gerne überbrückt und ausgefüllt. Wie aber mag dies möglich werden? Soll Er die Sünde rein – die Missethat heiligsprechen, das Gesetz mit seinen Forderungen und Flüchen zurückziehn, und den Unterschied zwischen Gerechten und Ungerechten für aufgehoben erklären? Nicht wahr, dir leuchtet ein, daß dies nichts Geringeres Ihm würde zumuthen heißen, als daß er sein Wesen wandle, mit eigner Hand seine Reichsordnung zertrümmere, seinen Thron von dessen Grundfesten, Recht und Gerechtigkeit, heruntersetze, und Sich selbst der gegründeten Lästerung des Teufels und aller Kreaturen überantworte? – Und dennoch verlangt Ihn in den Tiefen seiner Barmherzigkeit darnach, seinen Himmel nicht mit Engeln nur, sondern auch mir armen Sündern bevölkert zu sehn. Wie wäre dies unbeschadet seiner Gerechtigkeit zu erzielen? Du siehst ein: durch einen Diktatorspruch und einen willkührlichen Amnestieerlaß nimmermehr! – „Es muß etwas geschehn“, sprichst du, „das die Gerechtigkeit mit der Gnade eine“. „Nennt’s“, fährst du fort, „was geschehen müßte, so, oder anders. Heißt es Genugthuung, oder Vertretung; Bürgschaft, oder Opfer, oder wie immer sonst ihr wollt. Ich entscheide nicht, ob ihr es mit dem rechten Namen nennt. Eins aber weiß ich: irgend eine Vermittlung muß der Vergebung und der Wiedervereinigung Gottes mit den Sündern vorangehn!“ Du sprichst’s und hast die Sache recht gefaßt. Die ganze Schrift redet nicht anders, wie du; nur bezeichnet sie zugleich dasjenige bestimmt und scharf, was geschehen mußte, wenn Gott der Herr Sünder gerecht sprechen, und in diesem Akte auch selbst gerecht bleiben sollte.

4.

„Was war denn vonnöthen?“ Es wird sich entschleiern. Folge mir zur vierten Station. Blitze umzucken, Donner umrollen sie. Im Schatten des Berges liegt sie, der mit Feuer brannte. Siehe vor dir das heilige Gesetze, den reinen Ausdruck des Willens des Allmächtigen, den Inbegriff seiner Forderungen an die vernunftbegabte Kreatur. Lies sie, die leuchtenden Feuerzeilen: „Du sollst, und du sollst nicht“, und versenke dich in die ganze Fülle ihres reichen und tiefen Sinnes. Und faßtest du ihn, so übersiehe vor Allem das majestätische Insiegel nicht, das Gottes Hand darunter drückte, und welches die Inschrift führt, die unwiederrufliche: „Verflucht sei Jedermann, der nicht bleibt in Allem, das geschrieben ist im Buche des Gesetzes, daß er es thue!“ „Ein furchtbares Wort!“ Wohl ist es das. Der Apostel setzt es in den Ausspruch um: „So Jemand das ganze Gesetz hält, und sündigt an Einem, der ist es ganz schuldig“. An Einem sündigest du wohl schon; und sicher nicht an Einem nur. Vernimm: „Du sollst kein falsch Zeugniß reden;“ „du sollst Vater und Mutter ehren;“ – „du sollst den Namen deines Gottes nicht mißbrauchen“. Schuldigen dich solche Gebote nicht? „O“, sprichst du, „geringer Vergehen etwa“. Geringer Vergehen? In der That nur solcher? – Wie, wenn ich dich denn überführte, daß dein ganzer Zustand von Natur eine fortgehende und völlige Aufhebung und Verneinung des göttlichen Gesetzes sei? – „Mein ganzer Zustand?!“ So ist’s. Antworte mir, ich will dich fragen. Sag’ an, wie heißt der Centralgedanke deines innern Lebens? Heißt er Gott? Heißt Gott der Mittelpunkt deiner lebhaftesten Interessen? Heißt der Gegenstand deines stärksten Sehnens Gott; und das Ziel deines heißesten Verlangens, ist’s die Gemeinschaft mit Ihm, Sein Wohlgefallen an dir, und Seines Namens Ehre und Verherrlichung? – Du stutzest. – Ich frage weiter. Vernimmst nichts lieber du, als Gottes Lob? Liesest du nichts lieber, als Sein Wort? Bewegst du dich nirgends lieber, als in Seinem Dienst und auf Seinen Wegen? Es sollte ja billig also sein; aber ist’s auch so? – Du siehest mich scheu und schweigend an. Ich fahre fort zu fragen. Gibst du Gott dem Herrn mit Freuden, was Er von dir fordert? Lässest du ihm gerne, was Er dir versagt? Küssest du Seine Hand, auch wenn sie dich anders führet, als dein Fleisch gelüstet; und segnest du Seine Ruhe, wenn Er es heilsam erachtet, dich zu züchtigen? – Ich harre deiner Antwort, aber es scheint dir schwer zu werden, sie zu finden. – Höre denn ferner! Liegt dir näher nichts am Herzen, als daß Sein Wille geschehe? Fühlst du dich nur glücklich, wo du Seine Nähe spürst; und verwaist, wo du Ihn vermissest? Findest du dich bei Ihm, wenn du wachst wenn du träumst? Fragst du nach Himmel und nach Erden nichts, wenn du Ihn nur hast? - - Du schlägst die Augen nieder, und senkst dein Haupt. – Nicht wahr, auf keine dieser Fragen findest du ein entschiedenes Ja in deinem Busen? Ferner liegt deinen Interessen nichts, als Gott? In guten Tagen kümmerst du dich nicht um Ihn, und in bösen empört sich dein Herz wider Ihn, und schuldigt Ihn der Ungerechtigkeit und Härte? Ist’s nicht so? – Und doch heißt die Summa aller göttlichen Gebote: „Du sollst lieben Gott deinen Herrn von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüthe und aus allen deinen Kräften!“ Was wird nun aus dir an diesem Maaß gemessen? Ein tief verschuldeter Knecht, voller Feindschaft wider den Hochheiligen in der Höhe, und der Liebe, die, „des Gesetzes Erfüllung“ ist, baar und ledig. So ist es also nicht das eine und andre Gebot, das dich verklagt; es verklagt und verurtheilt dich vielmehr das göttliche Gesetz nach seinem ganzen Geist und Inhalt. Unglücklicher, wie entkommst du unversehrt und heil aus dieser schauerlichen Klemme? Nicht wahr, du fühlst es, deine Lage sei verzweifelt? „Ja“ höre ich dich sagen, „wenn es in der That so ernst mit den Forderungen und Flüchen des Gesetzes gemeint ist, wie der Buchstabe der heiligen Schrift besagt, so bin ich ein Kind des Todes, und unrettbar verloren, es müßte denn ein Anderer an meiner Statt dem Gesetze Genüge thun, und den Kelch des Fluches für mich leeren!“ – Du hast’s getroffen. Deine Ahnung zeuget recht, und findet in Gottes Wort und in dem blutigen Werke des großen Mittlers ihre vollständige Bewahrheitung und Besiegelung.

5.

Wir nehmen unsern Wanderstab wieder auf, und ziehen einer neuen Station entgegen. Durch den zweiten Theil unseres Textevangeliums, der übrigens, wie Keinem unter uns entgehen wird, zu dem ersten in engster und bedeutsamster Beziehung steht, bewegt sich ein Feierzug. Ein Blinder, am Wege sitzend, hört die Tritte rauschen, und fragt nach der Bedeutung des Getümmels. Da vernimmt er, das Geleite Jesu von Nazareth ziehe an ihm vorüber; und das Herz wallt ihm in ahnungsvoller Freude. – Komm Freund, wir setzen ähnlich uns, wie Bartimäus dort, und nehmen unsern fünften Standort, nicht an der Straße von Jericho zwar, aber am Wege der Weltgeschichte. Auch durch diese schreitet seit achtzehnhundert Jahren schon ein unabsehbarer Festzug von Hosianna- und Hallelujah-Sängern: das Weltcomitat Jesu von Nazareth; der Kirchenchor des neuen Testamentes. In ihm erblickst du die heiligen Apostel zuerst, dann die Apostelschüler, dann die Väter der Kirche im Morgen- und Abendland, und die Pflanzer des Himmelreichs in der Heiden Grenzen, und die Vorläufer der Reformation, nach ihnen die Reformatoren selbst, diese sieggekrönten Gotteshelden, und die Zeugen alle, die nicht zu zählenden, in der blutgenetzten Märtyrerkrone, und neben den Evangelisten der neusten Zeit, den mit der Fackel des Evangeliums die weiten Meere durchkreuzenden, die Tausende von „Stillen im Lande“, die an den Herrn gläubig und in Ihm selig wurden. Die Besten und Edelsten, welche die Welt gesehen, wandeln in jenem Zuge. Und alle tragen das Kreuz an ihren Stirnen, in ihrem Munde das Lied des Lammes. Und sieh’ nur, alle eins in dem Bekenntniß: Wir sind Schuldner vor dem richterlichen Gott; eins in dem Bewußtsein: Ohne Mittler ist die Verdammniß unser Loos; eins in der Erfahrung: Kein Friede im Himmel und auf Erden, als in der Gemeinschaft des gekreuzigten Friedensfürsten; und eins, wie im Glauben an die Todesmarter Jesu, als an eine die Sünde sühnende, und der göttlichen Gerechtigkeit genugthuende Straf- und Fluch-Erduldung, so in dem Bezeugen: „Das Blut Jesu Christ, des Sohnes Gottes, macht uns rein von allen Sünden“. Und alle, nachdem sie dieses Blut sich angeeignet, froh das Haupt erhebend; und muthig durch dieses Blut zum Leben und zum Sterben; in Kraft des Blutes die Welt überwindend, und den Satanas zertretend unter ihren Füßen, und durch und durch geheiliget durch des Blutes Wundermacht, das, nachdem es den Bann ihrer Gewissen lös’te, das Feuer jener Liebe in ihrem Innern entzündete, von der geschrieben steht, sie sei „stark wie der Tod“, und „fest wie die Hölle“. – Und solch’ fast zweitausendjähriges, in Wort und That gefaßtes, in Lehr und Leben ausgeprägtes, millionenstimmiges und doch so einheitliches Zeugniß der Kirche Christi, Seiner wahren Kirche, des besten Theils der Menschheit, des wiedergeborenen Geschlechtes unter dem alten, - dieses Zeugniß von der Passion des Sohnes Gottes als einer versöhnenden, Frieden pflanzenden, aus der Herrschaft der Sünde erlösenden, und die Kreatur erneuernden; - sprich, hat es nicht etwas Imponierendes und Bewältigendes? Gewiß hat es das, und zwar in einem Grade, wie kaum eine andere Thatsache der Geschichte. Nicht wahr, auch du empfindest das, und bist schon nahe daran, mit einzustimmen in den nimmer endenden Lobgesang der Himmel: „Das Lamm, das erwürget ist, ist würdig, zu nehmen Anbetung, Preis und Ehre!“

6.

Aber warum nur erst nahe daran? – „Ach“, entgegnest du, „ich sänge so einsam, stimmte ich mit ein!“ – Wie, das Verstummen der Abgefallenen um dich her imponirt dir mehr, als der Jubel der Millionen Treuen? Mehr das “Schweig!“ das aus dem Lager des Unglaubens dir entgegenschrillt, als das “Stimme ein mit uns!“ das wie mit Einem Munde, die streitende und triumphirende Kirche dir zuruft? Armer Sclave, der du bist! Elender Knecht der Menschenknechte! – Komm, zu einer sechsten Station muß ich mit dir eilen. Siehe den Blinden an in unserm Evangelium. Auch ihn will man bedräuen, daß er schweige und Jesum ziehen lasse. Aber was kümmert ihn die summende Menge und deren unbefugter Protest? Statt ihrem heillosen Rathe sich zu bequemen, schwingt er sich trotzig über sie empor, und je herrischer die Zudringlichen ihm wehren wollen, um so lauter schreit er, und um so ungestümer dringt er vorwärts. Thue, mein Gefährte, du ein Gleiches. Schüttle das schmachvolle Joch der Unterthänigkeit unter eine windige Tagesmeinung ab, und stelle dich frei über das armselige Volk, das von dir begehrt, du sollest nach seiner Pfeife tanzen. Dieser Standpunkt über der wahnumstrickten Masse ist unsre sechste Station. Von dort her besiehe dir den großen Haufen etwas näher, der von dem Gekreuzigten nicht wissen mag, und beachte, wie er das Zeugniß seines Mundes gegen Christum durch sein Leben und Sein wiederum vernichtet, ja wie er am Ende eben so entschieden, wie jener Friedenszug unter der Kreuzesfahne, wenn auch in umgekehrter Weise, nämlich nicht durch das, was er hat, sondern durch das, was er nicht hat, durch seine geistige Bettelarmuth, für Christum und seine Sache zeugen muß. Nimm an ihm wahr, daß, wo das Kreuz nicht schattet, und der Thau des Bluts des Lammes nicht den Acker netzt, nichts grünt, nichts blüht: kein Friede, keine Lust zu Gott, keine Kraft der Heiligung, kein Trost im Leben und im Sterben; sondern wie das die reine Sterilität, die absolute Unfruchtbarkeit zu Hause ist. Und den Fußtapfen der magern Kühe willst du folgen, und Wegweisern dich anvertrauen, die du in der quellenlosen Steppe irre gehen und selbst verschmachten stehst, und zu deinen Lootsen willst du dir Leute wählen, die vor deinen Augen stranden und Schiffbruch leiden? – Ferne, ewig ferne von dir bleibe solche Thorheit! –

7.

Hast du aber die sechste Station glücklich erreicht, so komm, und folge mir zur siebenten und letzten. Bartimäus bezeichnet dir auch sie. Sie liegt zu den Füßen Jesu selber. Höre den Blinden schreien: „Herr Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich mein!“ – Gehe hin, und thue desgleichen. Bete, bete! – Gebet ist der Hahnenschrei vor Tages Anbruch. Gebet erschließt den Blumenkelch des Gemüths dem Strahl der Himmelswahrheit. Gebet gräbt die Kanäle für alle Licht- und Lebensströme aus der Höhe; und der sichere Schlüssel zum Heiligthum aus der Höhe; und der sichere Schlüssel zum Heiligthum der Passion – bleibt – das Gebet. – Bete kindlich, bete ohne Unterlaß, und es wird nicht fehlen, daß, was der Blinde erfuhr, geistlich sich auch an dir erneuere. Es wird, was du in den Schlußworten unseres Evangelii liesest, bald ein Bruchstück deiner eigenen Lebensführung sein. Deine Geschichte wirst du in den Worten erzählen hören: „Jesus aber stand stille, und hieß ihn zu sich führen. Da er aber nahe herbei kam, fragte er ihn, und sprach: Was willst du, daß ich dir thun soll? Er sprach: Herr, daß ich sehend werde. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend, dein Glaube hat dir geholfen. Und alsobald ward er sehend, und folgete ihm nach, und pries Gott“. – Ja, Freund, es widerfährt jetzt Aehnliches auch dir. Die Schuppen fallen dir von den Augen. Das Bewußtsein von deinem Nothstande vollendet sich in dir. In demselben Momente aber siehest du auch das Kreuzgeheimniß entsiegelt, die Pforten des hohenpriesterlichen Heiligthumes vor dir aufgethan, und dich, ein seliges Friedenskind, in Jesu Wunden am Ziele all’ deines Hungers und Kummers, Sehnens und Verlangens angelangt. Du preisest Gott, und Mancher, der für das Gnadensiegel Gottes an deiner Stirn ein Auge hat, wird Ihn mit dir loben.

Verleihe denn der Herr, daß alle diejenigen unter uns, die dessen noch benöthigt sind, die Wanderung, die wir heute nur in Gedanken mit einander zurückgelegt, bald in der wirklichen Erfahrung ihres innern Lebens antreten und vollenden mögen. Möge ihnen allen dieselbe Gnade wiederfahren, die, wie ihr in einem unsrer christlichen Blätter gelesen haben werdet, ohnlängst einem Gutsherrn in unsrer Provinz widerfahren ist. – Ein trefflicher Mann war er nach der Welt Schätzung, und ein ausgezeichneter Landwirth, dem es binnen kurzer Frist gelang, sein Besitzthum, welches, da er’s übernahm, in ziemlich trostlosem Zustande sich befand, nicht allein von einer schweren Schuldenlast zu befreien, sondern auch in aller Beziehung zu einer hohen Blüthe zu fördern. Uebrigens aber war er ein Weltmann, und bei aller Ehrsamkeit seines äußern Verhaltens entfremdet von dem Leben, das aus Gott ist. –

Vor zwei Jahren war es, um die fröhliche Weihnachtszeit, als ein holder Stern auch über dem Hause jenes Mannes aufging. Der „heilige Abend“ war gekommen. Die Mutterliebe hatte eben ihr stilles heimliches Werk vollendet. Der Christbaum strahlte im weiten Saale in hundert Lichtern auf. Auf ein gegebenes Zeichen öffneten sich die Flügelthüren, und jubelnd stürzten die vier glücklichen Kinder herein, von der Mutter, die das fünfte auf ihren Armen trug, geleitet. – Die reinste Freude glänzte von allen Angesichtern. Nur der Hausherr schien diesmal weniger fröhlich theilzunehmen, als sonst. Schweigend saß er in seinem Lehnstuhl am Kamin, und schaute mit eigen ernster Miene in den Jubel der Feiernden hinein. Die Tage seiner eigenen Kindheit tauchten in seiner Erinnerung vor ihm auf. Das Bild seines längst verstorbenen Vaters wandelte an ihm vorüber. Wie er leibte und lebte, stand er wieder vor ihm, der heiter fromme Mann, der bei gleichen Gelegenheiten unter seinen Kindern selbst zum harmlos fröhlichen Kinde zu werden pflegte; und unnennbar wehmüthige Gefühle durchzogen Angesichts dieses Bildes, und der Jugendscenen, die sich an dasselbe knüpften, seine Seele.

Als er so da saß, hüpft einer seiner Knaben, sechs Jahre alt, zu ihm heran, und fragt: „Vater, warum werden Weihnachten die Kinder alle bescheert, als ob ihr Geburtstag wäre, und weshalb brennen so viele Lichter?“ – Ach, wie ward ihm bei dieser Frage! Eine Antwort des Glaubens auf sie hatte er nicht. Schule und Universität hatten Krippe und Kreuz in seinen Augen längst ihres Wunderglanzes entkleidet. Stumm und verlegen sah er sein Söhnlein an. Da öffnet sich die Thür, und die Tochter seines vor Kurzem verstorbenen Hofmeiers tritt herein. Freudig sprangen die Kinder, die mit der kleinen Marie oft zu spielen pflegten, auf sie zu, fragend, was ihr denn von ihrer Mutter bescheert worden sei; und da sie mit Thränen antwortet: „Weil Vater todt ist, bescheeren wir dieses Jahr nicht“, beeifern sich die mitleidigen Gespielen, ihr von ihren Gaben mitzutheilen, und die Hausmutter verfehlte nicht, reichlich zuzulegen. – Mit einem Male, als glaubte sie, ihre Dankbarkeit dadurch bezeugen zu müssen, tritt das Mädchen hin und beginnt das Evangelium und die Epistel des Festes herzusagen. – Mit gehobener, wenn gleich zitternder Stimme betont sie namentlich die Engelbotschaft: „Siehe, ich verkündige euch große Freude, denn euch ist heute der Heiland geboren“, und den englischen Lobgesang, und fährt dann mit den Epistelworten fort: „Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen, und züchtiget uns, daß wir sollen verläugnen das ungöttliche Wesen, und die weltlichen Lüste, und züchtig und gerecht und gottselig leben in dieser Welt“. – Der Hausherr hört die lange nicht mehr vernommenen Klänge seiner Jugend, geht, wundersam bewegt, auf die Waise zu, schließt sie in seine Arme, küßt sie, und drückt ihr, mit der Bitte, es ihrer Mutter zu überbringen, ein Goldstück in die Hand. Was in seinem Innern weiter an jenem Abende vorgegangen, ist uns nicht berichtet. Daß da aber etwas Heilsames sich ereignet habe, davon gab gleich der folgende Tage erfreuliches Zeugniß.

Als nämlich im Thurm der Dorfkirche die hellen Weihnachtsglocken noch zusammenschlugen, entstand plötzlich in der herbeiströmenden Gemeine eine fröhliche Bewegung. „Unsre gnädige Herrschaft kommt“, hießt es von Munde zu Munde, und wirklich rollte der Wagen schon dem Kirchlein zu: ein Schauspiel, dessen sich die Leutchen lange nicht mehr erfreuen durften. Ehrerbietig und mit Freude strahlenden Blicken begrüßen sie ihren hohen Herrn und dessen Familie. Nur der Küster befindet sich in nicht geringer Verlegenheit. Denn wie bringt er nur in der Schnelligkeit die seit Jahren nicht mehr geöffnete und darum verquollene und verrostete Thür des herrschaftlichen Stuhles auf, und wie säubert er in der Eile die Sitze desselben von ihrem dichten Staube. – Unter Beihülfe des Bedienten geräth denn doch das Eine wie das Andere. Die Herrschaft nimmt Platz. Der Gottesdienst beginnt mit dem alten Lutherliede: „Vom Himmel hoch da komm ich her“. Der Gutsherr, den Sessel einnehmend, auf welchem vor langen Zeiten sein seliger Vater, dessen Denkmal von der Mutter ihm gesetzt, und mit der Inschrift: „Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn“, versehen, ihm grade gegenüberstand, allsonntäglich zu sitzen pflegte, vernimmt schon in dem Gesange die Antwort auf die noch immer seine Seele durchtönende Frage seines Söhnleins: „Warum feiern wir dieses Fest, als wäre es unser Geburtstag, und weshalb brennen so viele Lichter?“ – Doch umfassender noch ertheilte ihm diese Antwort die nun folgende Predigt, welche die Festepistel zu ihrem Grunde hatte. –

Die heilsame Gnade, sagte der Prediger, die allen Menschen erschienen sei, sei das Jesuskind in der Krippe. Dasselbe sei, lange vorher von den Propheten verkündigt, und von der Barmherzigkeit des Vaters gesendet, in die Welt gekommen, um die Sünder selig zu machen. Wie ein Senfkorn sei es gewachsen und habe einen Theil der Erde nach dem andern erobert, und werde nicht ruhen, bis alle Zungen bekenneten, daß Jesus Christus der Herr sei zur Ehre Gottes des Vaters. Durch das Kindlein sei Europa groß und mächtig geworden und regiere die Völker der Erde. Könige und Kaiser hätten sich vor diesem Kindlein gebeugt, und in seinem Namen die Völker regiert. Sein Arm reiche zum Thron hinauf und hinab bis in die kleinste und ärmste Hütte. Zu einer Macht sei das Kind geworden, wie es keine zweite auf Erden gebe. Wo sein Reich aufhöre, da hauseten Finsterniß und die Schatten des Todes, und wo man von ihm abfalle, da erreichten Ruhe und Frieden ihre Endschaft. „Wer ist das Kind in der Krippe?“ rief der Prediger aus und gab darauf selbst die Antwort: „Es ist das Licht der Welt, das A und O, der wahrhaftige Gott und das ewige Leben. Der Schlüssel zu den Geheimnissen der Weltgeschichte ist es, und zu den dunkeln Schicksalen der Völker, Familien und einzelnen Menschen. Der Zug des Vaters zum Sohne geht durch die ganze Geschichte mit wunderbarem Schritt.“ – „Wer zählt die Tausende“, so sprach der treue Zeuge dann zum Schluß, „die in diesem Kinde die Kraft gefunden haben, ihre Lasten zu tragen, und ihre Kämpfe zu kämpfen? – Wer zählt die Thränen, die es getrocknet, und die Verirrten, die es zurückgeführt hat? Wer zählt die Tausende, die im Namen dieses Kindes die Schrecken des Todes überwunden, und im Frieden in das Vaterhaus hinübergezogen sind? Wie arm ist ein Mensch, der nicht an dieses Kind glaubt? Im Leben ist er ohne Halt, im Tode ohne Hoffnung. Es ist dem Menschen ein Name gegeben, in dem er selig werden könne: der Name Jesu Christi unsers Herrn.“ –

Mit tiefer Bewegung hatte der Gutsherr der Predigt zugehört. Es war ihm nicht anders, als hätte er laut mit Petrus schreien mögen: Gehe hinaus von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch!“ – Was sich weiter in seinem Innern zugetragen hat, davon zeugt sein gegenwärtiges Leben. Auch er hat an der Hand der Gnade die sieben Stationen zum Kreuze glücklich durchgemacht. Als ein Vorbild lebendigen Christenthums leuchtet er jetzt mit seinem ganzen Hause in die Gemeine herein. Und wie die Thür zu seinem Kirchenstuhl nicht mehr verquollen ist, noch knarrt, so tritt hinfort Niemand zur Thür seines Schlosses wieder heraus, ohne, freundlich getröstet oder weise berathen, die Stelle still zu segnen, an der er weilte. – Auch konnte sich der theure Mann am letzten Weihnachtsfeste wieder herzlich mit seinen Kindern freuen, denn er ist selbst ein Kind geworden, ein Kind Gottes in Christo Jesu! –

Erzeige der Herr uns Allen eine gleiche Gnade, wie jenem Gutsherrn. Steche Er auch uns den Staar unsers geistigen Auges. Verkläre Er in unsern Herzen seinen Jesusnamen, und helfe Er uns bald die herrliche Station erreichen, auf der auch wir aus seliger Erfahrung jauchzen können: In dem Herrn habe ich Gerechtigkeit und Stärke!“ – Amen.

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autoren/k/krummacher_f.w/krummacher_f.w_stationen_zum_kreuz.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
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