Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Rechtfertigung durch den Glauben

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Rechtfertigung durch den Glauben

Predigt über Römer 3,23-31., gehalten den 10. Oktober 1852.

Römer 3,23-31.
Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allzumal Sünder, und mangeln des Ruhmes vor Gott; und werden ohne Verdienst gerecht, aus seiner Gnade, durch die Erlösung, so in Christo Jesu geschehen ist; welchen Gott hat vorgestellt zu einem Gnadenstuhl, durch den Glauben an sein Blut, zum Beweise seiner Gerechtigkeit, wegen der Nachsicht mit den Sünden, welche vorhin geschahen unter göttlicher Geduld; zum Beweise seiner Gerechtigkeit in jetziger Zeit; auf daß er gerecht sei und gerecht mache den, der da ist des Glaubens an Jesum. Wo bleibt nun der Ruhm? Er ist aus. Durch welches Gesetz? Durch der Werke Gesetz? Nicht also, sondern durch des Glaubens Gesetz. So halten (urtheilen, schließen) wir nun, daß der Mensch durch den Glauben gerecht werde, ohne des Gesetzes Werke. Oder ist Gott allein der Juden Gott? Ist er nicht auf der Heiden Gott? Ja freilich, auch der Heiden Gott. Sintemal es ist ein einiger Gott, der da gerecht macht die Beschneidung aus dem Glauben, und die Vorhaut durch den Glauben. heben wir denn nun das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! Sondern wir richten das Gesetz auf.

Geliebte in dem Herrn! Ueber die zweite Hälfte der verlesenen Worte hörte ich während des Bremer Kirchentages mit tausend Andern eine einfach auslegende Predigt, die mir in mehr denn einer, und namentlich in pastoralamtlicher Beziehung, zum Segen ward. Ich fand nämlich später Gelegenheit, nicht wenige und zwar kirchlich gesinnte Leute versichern zu hören, daß ihnen diese Predigt etwas ganz Neues gegeben habe. „Wie“, sprach ich stutzend bei mir selbst, „Neues vernahmen sie? Wird ihnen denn in den Gotteshäusern wenigstens, die sie besuchen, die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben nicht fort und fort verkündigt?“ Und beängstigend stellte sich die Frage vor meine Seele, ob nicht am Ende die Mehrzahl unsrer kirchlichen Vorträge unsern lieben Zuhörern unverstanden über die Köpfe dahingehe, weil wir theils mit der Form unsrer Predigten uns zu hoch verstiegen, theils bei unsern Gemeinden ein reicheres Maaß christlicher Erkenntniß vorauszusetzen pflegten, als wirklich vorhanden sei. „Wer weiß“, dachte ich, „ob nicht auch unsre lieben Berliner in jenem Zeugniß etwas Neues zu vernehmen gemeint haben würden;“ und dieser Gedanke verursachte mir nicht geringe Pein und Sorge. Und als ich mir vergegenwärtigte, wie viel ängstlich gesetzliches Wesen, wie viel Ueberschätzung frommer Formen und Exercitien, und wie wenig frisches, freudiges, zuversichtvolles und thatkräftiges Christenthum im Allgemeinen unter unsern Gläubigen daheim sich finde; da schien mir’s vollends ausgemacht, daß es denselben allerdings an der rechten Bekanntschaft, oder doch an der erforderlichen Vertrautheit mit dem Kern- und Grundartikel des Evangeliums und der evangelischen Kirche, dem Artikel von der Rechtfertigung, gebrechen müsse. So nahm ich mir denn vor, euch denselben sofort nach meiner Rückkehr wenigstens meinestheils einmal wieder so anschaulich, verständlich und handgreiflich, wie immer möglich, vorzuhalten; und dies geschehe denn mit Gottes Hülfe in dieser Stunde. Laßt mich euch in katechismusmäßiger, kindfaßlicher und bündiger Weise auf folgende sieben Fragen den biblischen Bescheid ertheilen:

  1. Was ist die Rechtfertigung?
  2. Wer ist der Gegenstand derselben?
  3. Auf welchem Grunde vollzieht sie sich?
  4. In welcher Ordnung wird sie erlangt?
  5. Wie weit erstreckt sie sich?
  6. Ist’s möglich, ihrer gewiß zu werden? - und
  7. In welchem Verhältniß steht sie zur Heiligung?

Auf alle diese Fragen liegt die Antwort in unsrer Textesstelle. Hören wir denn unsern Apostel, und öffne der Heilige Geist uns Ohr und Gemüthe.

1.

Was ist die Rechtfertigung? – Antwort: eine richterliche Handlung. Gerechtsprechung ist sie, nicht Gerechtmachung. Dies mögt ihr zuvörderst wohl beachten. An dem Schriftgelehrten Lucas 9,29 wird getadelt, daß er “sich selbst rechtfertigen“ wollte. Schon hieraus geht hervor, daß das griechische Wort, das wir “rechtfertigen“ verdeutschen, den Begriff des für gerecht Erklärens und nicht des gerecht Machens in sich schließt. Weiß waschen und für schuldlos erklären wollte sich jener Mann; und dies ward ihm schwer verargt. Bedeutete das Wort so viel wie heiligen, so hätte er ja Lob darum verdient, daß er sich sittlich vervollkommnen wollte, und nicht Vorwurf. Lucas 16,15. spricht der Herr zu den Pharisäern: „Ihr seid’s, die ihr euch selbst rechtfertiget vor den Menschen; aber Gott kennet eure Herzen, und was hoch ist unter den Menschen, das ist vor Gott ein Greuel.“ Hier seht ihr abermals, daß rechtfertigen und gerecht sprechen in biblischem Sprachgebrauch ein und dasselbe ist. Es erhellt dies nicht minder aus Matth. 12,37. wo der Herr spricht: „Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt, (d.i. gerecht gesprochen,) und aus deinen Worten wirst du verdammet werden.“ Genug, die Rechtfertigung ist der Akt, in welchem Gott, der höchste Richter aller Welt, über Jemanden ein freisprechendes Urtheil fällt, d.h.: von aller Schuld ihn losspricht und für gerecht erklärt, und hinfort auch als einen Gerechten und Heiligen ihn behandelt. O, welch ein köstlicher Schatz ist diese Rechtfertigung! Gottes ganzes Herz, der goldene Schlüssel zur Paradiesespforte, die unverwelkliche Krone des ewigen Lebens: dieses Alles ruht auf ihrem Grunde. Dem Könige David ward nur erst ein Vorgeschmack derselben; und in welche Seligkeit getaucht, wirbelt schon sein jubelndes: „Lobe den Herrn meine Seele, und Alles, was in mir ist, seinen heiligen Namen“, empor gen Himmel. Paulus genoß die Rechtfertigungsgnade ganz, und nichts bedurfte er weiter; er war überschwänglich erfüllet.

2.

Wer ist der Gegenstand der Rechtfertigung? In jedem menschlichen Gerichte ist es nur der Gerechte. Hier wird nur losgesprochen der, welcher unschuldig befunden worden ist. Wehe dem Richter, der hier anders verführe! „Wer den Gottlosen gerecht spricht“, sagt die Schrift, „und den Gerechten verdammet, die sind Gott beide ein Greuel.“ – Gölte nun aber diese Regel auch für das Gericht des lebendigen Gottes, so wäre unsere Sache schlechthin verloren. Denn wen unter uns sprächen die Untersuchungsakten schuldfrei? „Da ist nicht“, bezeuget durch David der Geist der Wahrheit, „der gerecht sei, auch nicht Einer;“ und durch Pauli Mund derselbe Geist in unserm Texte: „Denn es ist hie kein Unterschied: Sie sind allzumal Sünder, und mangeln des Ruhms vor Gott“, buchstäblich: „der Herrlichkeit Gottes“, d.i.: der sittlichen Gestalt und Schöne, die ihnen ursprünglich eigen war, und die allein vor Gott besteht. Feinde Gottes sind sie von Natur. Der Egoismus beherrscht sie, und nicht die Liebe. Auch ohne Laster und Verbrechen sind sie verwerflich, weil fleischlich und von Gott entfremdet. „Herr, wer wird bleiben auf deinem heiligen Berge?“ singt der königliche Psalterschläger. – „Wer wird erleiden den Tag seiner Zukunft“, fragt Maleachi, der Prophet. Die Antwort lautet hie wie dort: Niemand, niemand, auch nicht Einer! – „Wenn du das Urtheil lässest hören vom Himmel“, heißt’s im 76. Psalm, „so erschrickt das Erdreich, und wird stille.“ – „Ich weiß sehr wohl“, ruft Hiob in tiefer, tiefer Wahrheit, „daß ein Mensch nicht rechtfertig bestehen mag vor Gott; denn hat Gott Lust mit ihm zu hadern, so kann er ihm auf tausend nicht eins antworten.“ – So unverholen, wie dieser Mann im Lande Uz, gesteht dies freilich nicht ein jeder zu. Aber die Todesstunde zerreißt gar Manchem schon den Lügenschleier. Die Ewigkeit wird denselben Allen von den Augen nehmen. Was folgt aus dem Gesagten? Zunächst nichts Anders, als daß Gott, der Heilige, nur Engel rechtfertigen oder gerecht erklären könne, nicht aber den sündigen Adamssamen. Wie vollkommen richtig aber dieser Schluß auch immer sei, so lesen wir nichtsdestoweniger weiter in unserm Texte - was? – Vernehmt es: “Wir werden ohne Verdienst gerecht gesprochen aus seiner Gnade“! – Wie, Gott der Herr erklärt aus Gnaden wirklich Schuldige für Schuldenfreie? Mögen bei so unerhörtem Verfahren die Wahrheit, Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes noch bestehn? Thut der Ewige da nicht selbst, was er unter schweren Androhungen uns untersagt, und nennet sauer süß, und Finsterniß Licht? – Allerdings, so hat’s den Anschein; aber dennoch verhält es sich gar anders, und die Glorie des Allmächtigen bleibt unverdunkelt.

3.

Hört, auf welchem Grunde die Rechtfertigung des Sünders vollzogen wird. „Wir werden ohne Verdienst gerecht gesprochen“, lesen wir in unserm Texte, „aus seiner Gnade;“ und dann weiter: „durch die Erlösung, so in Christo Jesu geschehen ist, welchen Gott hat vorgestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blut, zum Erweise (so nämlich heißen jetzt die Worte nach dem Grundtext weiter,) seiner Gerechtigkeit in jetziger Zeit, daß er gerecht sei, und gerecht spreche den, der da ist des Glaubens an Jesum.“ – - Wer Ohren hat zu hören, der höre! Es sind dies überaus gewichtige, Grund legende, und auf dem Gebiet der Lehre unbedingt entscheidende Worte. „Gott“, sagt der Apostel, „hat Christum vorgestellt zum Gnadenstuhl“, griechisch: Hilasterion. Dieser Ausdruck weiset auf die vorbildliche Bundeslade hin, und namentlich auf den goldnen, die Gesetzestafeln in der Lade bedeckenden, sogenannten Sühn- oder Versöhnungsdeckel, den der Hohepriester einmal im Jahre, am großen Versöhnungsfeste, feierlich mit dem Opferblut besprengte, und über welchem dann zwischen den Cherubimgestalten Jehovah sich in Gnaden offenbarte, weshalb dieser heilige Ort auch der Gnadenthron oder der Stuhl der Gnaden genannt zu werden pflegte. Dieser geheimnißvolle Deckel zielte vorbildend auf Jesum Christum, der mit seinem stellvertretenden Gehorsam das Gesetz bedecken, in seinem blutigen Opfertode als Bürge den der Sünde gedrohten Fluch erdulden, und durch Beides in der Art der Gerechtigkeit Gottes genug thun werde, daß Gottes segnende Liebe gegen die Sünder freie Hand gewinne. Auch unter dem alten Testamente herrschte nicht immer die gesetzliche Strenge. Ein großer Reichthum der Nachsicht und Geduld wurde auch schon damals offenbar. Viele Sünder, - denkt nur an David, an Manasse und an unzählige andre, - wurden begnadigt, und nicht als Uebertreter, sondern wie Unsträfliche und Heilige behandelt. Dieses Verhalten des höchsten Richters aber gegen Individuen, welche der unzweideutige Buchstabe seines unverbrüchlichen Gesetzes als Frevler verdammte, hatte etwas seine göttliche Vollkommenheit Verdunkelndes, und mußte die Frage hervorrufen, ob denn Gott der Herr sich selbst widersprechen, sein Wesen verleugnen, sein Wort brechen, und willkührlich seiner eigenen Heilsordnung zuwider handeln könne. Aber Gott hat dergleichen Fragen, behauptet Paulus nun, in neuester Zeit jeglichen Raum benommen. Denn zum nachträglichen Erweise seiner Gerechtigkeit, zur thatsächlichen Beurkundung, daß er, indem er sündige Geschöpfe gerecht erkläre, auch selber gerecht sei und gerecht bleibe, hat Er Christum zum Mittler bestellt, und an ihm die Sünde der Sünder richterlich heimgesucht, und den ihrerseits schuldig gebliebenen Gehorsam des Gesetzes von Ihm erfordert. Es ist nichts gegründeter, als das, daß Gott nie einen Gegenstand für etwas ansehn kann, was er nicht wirklich ist. So kann er einen Sünder, in ihm selbst betrachtet, nicht ansehn für einen Gerechten. Aber dies thut der Allmächtige auch nicht. In dem Akte der Rechtfertigung sieht er den Sünder an in dessen göttlichem Haupte, Bürgen und Vertreter Christo; und in diesem steht der Sünder vor ihm nicht mehr als Schuldbeladener, sondern entsündigt und gerecht, indem Christi Flucherduldung und Gehorsam durch geheimnißvollen Uebertrag ihm zugerechnet wird und in seine Rechnung übergeht. Er sieht den Sünder in Christo an, wie der Gläubiger seinen Schuldner in dem Bürgen, der für ihn zahlte. Der Schuldner zahlte persönlich nicht; und doch achtet ihn der Gläubiger für keinen Schuldner mehr. – Seht, Freunde, jetzt kennt ihr den Grund, auf welchen hin der heilige Gott Sünder gerecht spricht. Der Grund liegt nicht in den Sündern; er liegt außer ihnen und zwar lediglich in dem Verdienste Jesu Christi. „Wo bleibt nun der Ruhm?“ sprechen wir mit Paulus; und antworten mit ihm: „Er ist aus.“ „Durch welches Gesetz? Durch der Werke Gesetz? Nicht also, sondern durch des Glaubens Gesetz“, oder: nach der Regel des Glaubens.

4.

Wir fragen weiter: In welcher Ordnung werden wir dieser göttlichen Rechtfertigung theilhaftig? Die Ordnung heißet: Buße und Glauben. Es gilt eine lebendige Vereinigung mit Christo; und diese vollzieht sich vermittelst jener beiden inneren Akte. In der Buße richtet der Sünder sich selbst, und bricht in diesem von Trauer und Beugung begleiteten Selbstgerichte mit der Sünde. Durch den Glauben ergreift er Christum als seinen einzigen Trost im Leben und im Sterben, und giebt sich unbedingt und rückhaltlos an ihn und seine Gnadenführung hin. Eines Weiteres bedarf es, um gerechtfertigt zu werden, nicht. Ja, die Schrift nennt als das Nothwendige den Glauben allein. Sie meint nämlich, wie sich von selbst versteht, den lebendigen Glauben, der die Buße zu seiner Voraussetzung und zu seinem Grunde hat. Von dem Zöllner im Winkel des Tempels wird uns nichts gemeldet, als daß er reumüthig an seine Brust geschlagen, und (nach dem Grundtext) ausgerufen habe: „Gott sei mir Sünder versöhnt“; oder: „Um des Sühnopfers willen, o Gott, gnade mir“! Und der Herr bezeugt vor ihm: „Er ging gerechtfertigt in sein Haus“; d.h. Gottes Urtheil sprach ihn von seinen Schulden frei, und erklärte ihn des Himmels würdig.

Doch gehen wir dieser Sache tiefer auf den Grund. Welches war das Motiv dieses günstigen Urtheils des höchsten Richters? Sprach er den Zöllner gerecht um seiner Buße willen? O behüte! Wie sollte Buße begangene Sünden ungeschehen machen, und vor Gott als ein aufwiegender Ersatz für die schuldig gebliebene Erfüllung des Gesetzes gelten können?! – „So erwarb ihm denn vielleicht sein Glaube die rechtfertigende Sentenz“? – Sein Glaube? Wie meint ihr das? Etwa so, als habe Gott diesen Glauben als Aequivalent für den rückständigen Gehorsam angenommen? – Ei, ein solcher Handel wäre ja ebenso seltsam, grund- und bodenlos, und des heiligen Gottes unwürdig, als der vorhin erwähnte. „Aber“, sagt ihr, „der lebendige Glaube schließt doch schon den fruchtbaren Keim einer zukünftigen Heiligung in sich, und der allwissende Gott, der in der Blüthe bereits die Frucht erblickte, nahm eben um dieser seiner zukünftigen Heiligung willen den Sünder schon jetzt als einen Gerechten“? – Ah, ich verstehe, wie ihr die Sache fassen wollt. Ich weiß es, es fassen sie so Viele denen in ihrem Dünkel die Lehre des Evangeliums von diesem Artikel zu thöricht deucht. Aber diese Auffassung ist eine falsche, eine sinnlose, die der Heiligkeit Gottes zu nahe tritt, indem sie voraussetzt, daß Gott um eines nachgebrachten, und auch dann wahrscheinlich nur stückweisen Gehorsams willen die früher gehäufte Schuld ohne Weiteres übersehen könnte. Und wenn sie das Alles nicht wäre, diese Ansicht, so ist sie doch entschieden unbiblisch und schon darum unwahr und absolut verwerflich. Nach der in Frage stehenden, nur scheinbar tieferen, aber bei Lichte besehen doch höchst oberflächlichen Anschauung, würde der Mensch gerechtfertigt um eines Etwas willen, das er in sich selber trüge; also eines persönlichen Werthes halber, und somit, wie die Schrift es nennt, “aus den Werken“ und in Folge dessen auch “aus Verdienst.“ Die Schrift bezeugt aber: “Wir werden ohne Verdienst gerecht gesprochen aus Gottes Gnade durch die Erlösung, so in Christo Jesu geschehen ist.“ Und abermal: „So halten wir“, (d.i. dabei verbleibt es und hat es sein Bewenden,) „daß der Mensch durch den Glauben gerecht werde, ohne des Gesetzes Werke“, d.i.: ohne daß etwas Tugendliches an und in ihm selbst dabei in Rechnung kommt, oder gar den Ausschlag birgt. Der Glaube nimmt hier keine ursachliche, sondern nur eine , sondern nur eine erzeugliche Stellung ein. Er wirkt hier nicht erwerbend mit; sondern er eignet nur Erworbenes zu. Er ist die Christum ergreifende Hand; er ist das Band, das die Gemeinschaft mit Christo knüpft. Die Rechtfertigung widerfährt uns ganz umsonst. Gott vollzieht sie lediglich im Blick auf das, was stellvertretend Christus für uns geleistet. Im vierten Capitel unseres Briefes wird Gott ausdrücklich ein Gott genannt, der „die Gottlosen gerecht spricht“, und nicht die Frommen, nämlich nicht als solche. Wie kann es stärker ausgedrückt werden, daß die Rechtfertigung ein Akt freiester Gnade sei, welcher ohne Rücksicht auf unsern persönlichen Werth oder Unwerth vollzogen werde, als es hier geschieht? „Dem aber“ sagt der Apostel, „der nicht mit Werken umgeht, glaubet aber an den, der die Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit“; d.h. nicht die That seines Glaubens, sondern seines Glaubens Inhalt, welcher ist der gekreuzigte Christus, und dessen stellvertretender Gehorsam. Der “Glaube“ wird in der Schrift immer den „Werken des Gesetzes“ entgegengesetzt, woraus handgreiflich erhellt und erhellen soll, daß derselbe bei der Rechtfertigung nicht als That und Tugend, was er freilich auch ist, in Betrachtung kommt; (denn in diesem Falle käme ja die Rechtfertigung wieder aus einem Werk, wenn auch aus einem innerlichen;) sondern daß nur der hier angesehen wird, den der Glaube ergreift, nämlich Christus. Käme hier der Glaube als Erwerbgrund der Rechtfertigung in Anschlag, so müßte ja derjenige, der einen reicheren Glauben besäße, für gerechter erklärt werden, als ein Schwachgläubiger. Aber hier wird kein Unterschied gemacht. Der Zöllner, in dessen zerknirschter Seele der Glaube nur erst keimartig vorhanden war, ging ebenso gerechtfertigt nach Hause, wie ein Paulus oder Johannes. Dies führt uns auf die folgende Frage, wie weit die Rechtfertigung sich erstrecke. Laßt mich aber zuvor noch dies bemerken. Luther hat im 28. Verse unsres Textes den Worten „So halten wir es nun, daß der Mensch gerecht werde durch den Glauben“ das Wörtlein “allein“ beigefügt, und das ist der Grund, aus dem die Römischen bis diese Stunde in’s Gelage hinein schreien, Luther hab die Bibel verfälscht. Aber der theure Gottesmann hat sich wider diese Anklage herrlich vertheidigt, und unwiderleglich nachgewiesen, daß, wenn auch das Wörtlein sola oder allein nicht ausdrücklich dastehe, dasselbe doch in dem apostolischen Gedanken mit eingeschlossen liege. Wenn, sagt er, wie ja geschehen, alle Werke des Gesetzes ausgeschlossen würden, so bleibe ja der Glaube allein als Grund der Rechtfertigung zurück. Und also ist es auch.

5.

Wie weit erstreckt sich die Rechtfertigung? Wir haben’s schon angedeutet. Sie ist vollkommen. Nicht blos etliche, sondern alle Sünden werden in ihr vergeben. „Nichts Verdammliches“, sagt die Schrift, „ist mehr an denen, die in Christo Jesu sind.“ Nicht nur für theilweise gerecht, sondern für ganz gerecht wird der gläubige Sünder erklärt. Die Schrift sagt: „Gott hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir in ihm würden die Gerechtigkeit Gottes.“ Gott schenkt dem Sünder, den er rechtfertigt, nicht sein halbes, sondern sein ganzes Herz. Er bezeugt ihm nicht sein theilweises nur, sondern sein volles Wohlgefallen. Wenn Gott nicht sein ungetheiltes Herz uns schenkte, sondern etwa zu uns spräche: „Ich verzeihe dir Alles bis auf Eins, das ich dir freilich nicht vergesse“, so besäßen wir Gott den Herrn gar nicht als den unsern, wie auch ein reumüthiges Kind, zu dem sein Vater also spräche, diesen gar nicht wiedergewonnen hätte, weil es sich seiner ungetheilten Liebe nicht wieder getrösten dürfte. Aber Gott spricht in der Rechtfertigung von Allem los, so daß dem Gerechtfertigten nichts übrig bleibt, als der Jubel: „Lobe den Herrn, meine Seele, der dir alle deine Sünden vergiebt, und dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit“! – Hieraus geht nun wieder sonnenklar hervor, daß die Rechtfertigung lediglich auf Grund des Verdienstes Christi vollzogen wird. Denn wie könnte Gott einen Sünder, Zöllner und Schächer mit Wahrheit für vollkommen gerecht und unsträflich erklären, rechnete er demselben nicht alles dasjenige als ein Eigenes zu, was Christus für ihn erduldet und geleistet hat?

6.

Wie selig muß nun nicht derjenige sein, der sich solcher göttlichen Gerechtigkeit theilhaftig weiß! Aber kann es geschehen, daß man zu solchem Wissen gelange? Rom verneint diese Frage, und uns ist wohl bewußt, aus welchem Grunde. Wir bejahen sie, und zwar mit der ganzen heiligen Schrift, und aus der Erfahrung aller Apostel heraus. „Der Geist“, spricht Paulus Römer 8, „giebt Zeugniß unserm Geiste, daß wir Gottes Kinder sind.“ Da habt ihr’s ja! Wie viele Sprüche aber vermöchte ich sonst noch zu citiren, die es unbegreiflich erscheinen lassen, wie man je die Möglichkeit jener Gewißheit noch in Frage stellen konnte. Fordert uns nicht die Schrift ausdrücklich zum „Fleiß thun“ auf, „unsern Beruf und Erwählung fest zu machen“? Bezeichnet Johannes nicht in der Liebe zu den Brüdern das untrügliche Merkmal, woraus uns die Zuversicht erwachsen dürfe, daß wir „vom Tode zum Leben durchgedrungen seien“? Rühmt sich nicht Paulus seines Bewußtseins, daß „nichts ihn scheiden werde von der Liebe Gottes“, nicht etwa als einer außerordentlichen Offenbarung, die ihm geworden, sondern als eines Schatzes, zu welchem allen Gläubigen der Zutritt eröffnet sei.“ Und geschah es nicht uns zum tröstlichen Vorbilde, daß der Herr selbst bald hier, bald dort einem zerknirschten Sünder laut und ohne Vorbehalt sein „Gehe hin mit Frieden, deine Sünden sind dir vergeben“, zurief? – Ja, Freunde, außer Zweifel steht’s, daß wir unsres Gnadenstandes nicht allein versichert werden können, sondern sollen, damit wir auf dem Wege des Lebens “gewisse Tritte“ tun, und dem Herrn unserm Gott mit Freuden dienen mögen.

7.

„Aber wie gefährlich das für den Menschen, für einen Gerechten sich zu halten“! – Allerdings, Freunde, sehr gefährlich, wenn es ohne Grund, d.h. entweder in pharisäischer Selbstgerechtigkeit, oder mit unberechtigter Berufung auf Christi Verdienst geschieht. Geschiehts dagegen im wahren Glauben, der, wie wir vernommen haben, von der Buße zu Gott als seiner innersten Wurzel getragen wird, so ist keinerlei Gefahr dabei. Im Gegentheil bewährt sich dann das Wort des Apostels an unsres Textes Schluß. “Heben wir denn nun das Gesetz auf durch den Glauben“? fragt er; und antwortet mit großer Bestimmtheit selbst: “Das sei ferne! Sondern wir richten das Gesetz auf“! – Der Apostel sah die Verdächtigungen und Anklagen voraus, die man wider die Rechtfertigungslehre im Kreise der Werkgerechten wie der Vernünftler erheben werde, und so säumt er nicht, denselben schon gleich von vornherein den Schild der Wahrheit vorzuhalten, an dem sie alle zerschellen und zersplittern müssen. So wenig ist es seiner, d.i. des Heiligen Geistes Meinung nach der Fall, daß er vielmehr aller wahren Heiligung Hebel, Bedingung, ja einige Quelle in demselben findet. Das Gesetz wird im Herzen des Gerechtfertigten statt aufgehoben, “aufgerichtet.“ Nur der, dem Gott im wollen Wunderglanze seiner Liebe begegnet ist, wird Gott den Herrn wahrhaftig und von Herzen wiederlieben. Nur er, der in der Versöhnungsgnade Selige, trägt seinen Brüdern ein in Mitleid oder Mitfreude warmes und weites Herz entgegen. Nur er, dem erst selbst ein so großes Erbarmen widerfuhr, wird brennen, auch fremdem Elende Abhülfe zu schaffen. Nur er, der sich mit einer so unvergleichlichen Göttlichen Güterfülle überschüttet weiß, wird dieser armen Welt und ihres Tandes entrathen können, und mit Flügeln himmlischer Gesinnung über ihren Höhen schweben. Nur er, der den Greuel der Gottentfremdung wie die Wonne der Erlösung kennen lernte, wird vor der Sünde fliehen als vor einer Schlange; und er nur, der Erkaufte mit Gottes Blut, wird auf das dringendste Begehren, sein ganzes Sein und Leben allein der Verherrlichung seines erhabenen Retters zu Dienst zu stellen und zu weihen. Nein, nein, das Gesetz wird nicht aufgehoben durch den Glauben, sondern aufgerichtet. Feinde des Gesetzes sind nur, die ein Brandmal in ihrem Gewissen tragen. Der Friede Gottes hingegeben befreundet dem Gesetze, und erzeugt “Lust“ an demselbigen „nachdem inwendigen Menschen.“ –

Jetzt, Freunde, ist euch, mindestens ihren Grundzügen nach, die herrliche Lehre des Evangeliums bekannt, die allein allen wahren Seelenfrieden vermittelt, und uns berechtigt, diejenigen der Unsern, die zu unserm Schmerze noch die breite Straße wandeln, bis zu ihrem letzten Athemzuge noch mit stiller Hoffnung zu begleiten. Ihr kennt sie, die Lehre, auf deren Verkennung und Verwerfung das ganze Irrthumsgebäude Roms beruht, und die, genau besehen, die einzige Grenzscheide zwischen unsrer evangelischen Kirche und der römischen bildet, indem, sobald sie auch in letzterer Aufnahme fände, alles Andre, was wir in ihr als schriftwidrig verwerfen müssen, alsobald von selbst zusammenstürzen würde. Preisen wir die göttliche Gnade, daß uns dies unvergleichliche Licht in so ungetrübter Klarheit leuchtet, und öffnen wir demselben durch Buße und Glauben die dunkeln Gründe unserer Seele, daß es aus derselben alle Nacht des Wahns und des Zwiespalts vertreibe. Lassen wir uns nicht vergeblich gesagt sein, was der Apostel spricht: „Ist Gott allein der Juden Gott? Ist er nicht auch der Heiden Gott? Ja, freilich auch der Heiden Gott, sintemal es ist ein einiger Gott, und die Vorhaut durch den Glauben.“ – Ja, für Alle nur ein einziger Weg zur Rechtfertigung, und durch diese dann zum ewigen Leben; und dieser Weg ist der Glaube, der lebendige, an Christum Jesum, den Gekreuzigten. Mit diesem Glauben segne uns denn der Herr! Ihn pflanze Er als das göttliche Saatkorn himmlischer Verklärung in unsre Seele! Ihn stärke und erneuere Er uns täglich, und mache durch ihn uns tüchtig, bald nicht mehr aus dem Katechismus nur heraus, sondern aus seligster Herzenserfahrung dem Apostel mit seiner Gewißheit und Bestimmtheit nach zu sprechen: “So halten wir nun, daß der Mensch gerecht werde durch den Glauben allein ohne des Gesetzes Werke!“ Amen. –

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