Krummacher, Friedrich Wilhelm - Pauli Thränen.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Pauli Thränen.

Predigt über Phil. 3,17-21.

gehalten am 2. November 1851.

Folget mir nach, meine Brüder, und sehet auf die, die also wandeln, wie ihr uns habt zum Vorbilde. Denn Viele wandeln, von welchen ich euch oft gesagt habe, nun aber auch mit Weinen sage, als Feinde des Kreuzes Christi; welcher Ende ist die Verdammniß, welchen der Bauch ihr Gott ist, und ihre Ehre in ihrer Schande, die nur auf’s Irdische denken. Unser Wandel aber ist im Himmel, von dannen wir auch warten des Heilandes, Jesu Christi, des Herrn; welcher unsern nichtigen Leib verwandeln wird, daß er ähnlich werde seinem verklärten Leibe, nach der Wirkung, damit er kann auch alle Dinge sich unterthänig machen.
Phil. 3,17-21.

Eine tief ergreifende Erscheinung, geliebte Brüder, die heute in unsern Gesichtskreis tritt; eine Erscheinung, die, wo sie euch ungerührt lassen könnte, euch als Menschen verdammen würde, welche statt des Herzens Erz und Eisen in ihrem Busen trügen. Es ist wahr, mächtig ist das Wort; aber Mächtigeres wirbt diesmal um unsre Seelen. Nicht Sinais Donner sind’s, noch die Posaunenstöße Ebals. Was ist selbst deren Wucht gegen die übermannende Gewalt der Thränen, von welchen das Pergamentblatt feucht ist, auf welchem uns unser heutiger Text begegnet. Paulus weint. Kommt, laßt uns bei diesen Apostelzähren betrachtend weilen, und unsre Blicke richten 1) auf ihre Gegenstände; 2) auf ihre Ursachen; 3) auf ihr Gewicht.

Erblühe uns unter Gottes Segen aus der apostolischen Thränensaat eine Friedens- und Freudenernte!

1.

Paulus weint. Seine Thränen rollen auf die Bande herab, in die er zu Rom um des Namens Christi willen geschmiedet war. Aber nicht ist’s die eigne Bedrängniß, was ihn so weich und so wehmüthig stimmt. Ein Gefreiter in dem Herrn steht er hoch über seinem zeitlichen Loos, und trägt seine Fesseln, als wären es Ehrenketten. Sein Schmerz gilt Andern. „Unfehlbar“, werdet ihr denken, „irgend schwer verschuldeten Verbrechern, und hoffnungslos verlornen Auswürflingen des menschlichen Geschlechts!“ Nicht, Freunde, wie ihr euch dieselben denken mögt. Unter den Leuten, die ihm vor der Seele schweben, dürfte Mancher euch begegnen, dem ihr unbedenklich den Namen eines Ehrenmannes zuerkennen würdet. Die Apostel messen mit gar andern Maßstäben, als die wir anzulegen pflegen. Hört Paulum. „Viele wandeln“, spricht er, „von welchen ich euch oft gesagt habe, nun aber auch mit Weinen sage: als Feinde des Kreuzes Christi.“ Da habt ihr die Gegenstände seines Kummers. Ihr stutzt, und denkt bei euch, ob der Apostel hier nicht etwa zu engherzig und befangen richte, und all’ zu übertriebener Sorge sich überlasse? „Mein Gott!“ denkt ihr, „Feinde des Kreuzes Christi trugen Bürgerkronen mitunter, und erndten hin und wieder, von der Anerkennung der Völker auf Marmorsäulen erhöht, als Wohlthäter der Menschheit, den Dank der Jahrhunderte; und ein Paulus hat statt Ehrengruß und Lorbeer für sie nur Thränen, und noch dazu Thränen des Bedauerns und des Mitleids?!“ – Ja, Freunde, ob ihr ihn hundertmal einseitig scheltet, kleingeistig, beschränkt, oder wie sonst ihr wollt: der Apostel hat für sie nichts Anderes, als eben nur solche Thränen.

Christi Kreuz, müßt ihr wissen, ist dem heiligen Manne viel, sehr viel. Es ist ihm wie das Wahrzeichen, so der Mittelpunkt des ganzen Christenthums. Er hat letzteres sich hinweg gedacht, sobald er das Kreuz sich wegdenkt. Alles Heil der Welt strömt ihm vom Kreuze Christi aus, als seinem Urborn. Ein nicht gekreuzigter Christus wäre ihm nur ein anderer, und nur noch schauerlicherer Moses mit Bann und Fluch; aber kein Heiland, kein Retter, kein Friedefürst. Im Kreuze sieht Paulus das Grab seiner Sünden, die Wiege seiner Erlösung. Ja, es fehlte dem Himmel seiner Hoffnungen der tragende Pfeiler, und dem neuen Eden, dessen er sich getröstet, der Baum des Lebens, wenn das blutige Kreuz nicht auf dem Berge ragte. Ihr hörtet ihn schon früher sagen, wie sein ganzes Wissen, seine ganze Weisheit und sein ganzer Ruhm im Kreuz sich conzentrire. Auf dem Kampfplatz ist das Kreuz sein Panier; in seinen Mußestunden der Gegenstand seiner beseligendsten Andachten und Vertiefungen; am Morgen der Heerd, an welchem sein Eifer für des Herrn Ehre sich neu entflammt, und am Abende der Altar, an dessen Fuße er gerührt die Opfer seines Dankes niederlegt.

Wer sind ihm nun die Kreuzesfeinde? Ich bemerkte schon, daß sie mitunter hinter ganz ehrsamen Erscheinungen verborgen stecken. Sie gehen vielleicht auf dem Wege der Kirchlichkeit und des Christenthums eine weite Strecke mit uns; so weit gewiß, als die Lehrstimme Jesu tönt, als die erhabenen Tugendregeln von seiner Lippe gleiten, als das unvergleichliche Musterbild seines reinen Wandels leuchtet; ja, auch so weit wohl gar, als des „großen Propheten“ Wunder und Zeichen strahlen und ihn verherrlichen. Sobald aber seine Straße gen Gethsemane und Golgatha ihre Richtung nimmt, und sein prophetisches Amt dem hohepriesterlichen weicht, sein Lehrstuhl dem Blutgerüste Raum macht, geschieht’s ihnen, als senkte sich hemmendes Blei in ihre Füße. Und wie sie über seiner Marterstätte gar die Inschrift lesen: “Das Allerheiligste“, und neben ihr die Mahnung: „Zeuch deine Schuhe von den Füßen“, und ihnen auf ihr „Warum?“ die Antwort wird: „Hier löst der Herr vom Himmel die Hauptaufgabe seiner Sendung; denn hier entreißt er, vermittelnd an der Sünder Stelle tretend, die Welt dem Rachen des Satans und der Hölle, dem sie verfallen war;“ da machen sie stutzend und kopfschüttelnd Halt, und schicken sich an, uns Valet zu geben. Und wie nun vollends ihnen zugerufen wird: „Nicht zurück; nein, vorwärts, vorwärts! In dem Blute, das hier fließt, ist euer Leben; an dem Opfer, das hier gebraucht wird, hängt eure Rettung; dies gezuckte Schwert in Gottes Hand, erwürgt’s das Lamm nicht, dann unausbleiblich euch, wider die es geschliffen ward; dieser Blitz des Fluches, der hier vom Himmel fällt, euch müßte er zerschmettern, und zwar auf ewig, wenn nicht der Blutbräutigam, - (küsset ihm die Füße!) – ihn stellvertretend mit seinem heiligen Haupte für euch auffing;“ – ich sage, wie solche Kunde vollends an ihr Ohr schlägt, da entfärbt sich ihr Antlitz, da schwillt ihnen das Herz in Unmuth; und mit dem Gemurmel: „Pietismus!“ – „Bluttheologie!“ – „Abergläubischer Unsinn!“ wenden sie uns den Rücken, und – gehen hinter sich. – Da habt ihr die Feinde des Kreuzes Christi. Die heutige Welt wimmelt von dieser Art. Der Apostel schauet sie im Geiste, und – die hellen Thränen treten ihm in’s Auge. – Ihr fragt: “Warum?“

2.

Paulus giebt die Ursache an. “Welcher Ende“, spricht er, “ist die Verdammniß.“ – „Wie, die Verdammniß?“ höre ich sagen. „Sollte dies möglich sein?“ – Nicht möglich nur, Freunde, sondern nur allzu wahr. Ihr Ende ist der “andre Tod“ und das „Bleiben unter dem Zorne Gottes.“ – „Die Armen! Vielleicht möchten sie gerne glauben, und können nicht?“ – In diesem Falle wären sie keine Feinde des Kreuzes, sondern werdende Freunde. An unserm Orte handelt sich’s von Feinden nur, und diese wollen nicht glauben. Die Gründe, aus denen sie’s nicht wollen, bezeichnet unser Text. Eine verabscheuungswürdige Dreizahl: „Ihr Bauch ist ihr Gott, ihre Ehre ist in ihrer Schande, und sie denken nur auf’s Irdische.“ Ja, an den Kreuzesfeinden unsrer Tage namentlich, finden sich diese Züge sämmtlich voll ausgeprägt. Diese Menschen haben zuvörderst keinen Gott. sie mögen sagen, was sie wollen: sie glauben und haben keinen persönlichen Gott im Himmel. Ihre Losung, wie heißt sie: „Wie gelangen wir zu Gottes Gemeinschaft; wie ererben wir seine Gnade, wie leben wir ihm zu Gefallen?“ O nein; - sondern: „Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden?“ Dies ihre einige Sorge, und die Kapitalfrage ihres Herzens. Hätten sie einen Gott, und ständen nur im ersten Beginn einer lebendigen Herzensbeziehung zu Ihm: unmöglich bliebe ihnen das Kreuz auf Golgatha ein gleichgültiges Zeichen, ein unverstandenes, dunkeles Problem; geschweige ein Aergerniß und Anstoß. Sie würden vielmehr, sobald es in ihnen nur zu den allerersten Anfängen eines herzhaften Glaubens an den persönlichen Gott, und eines wirklichen Verkehrs mit Ihm gekommen wäre, dasselbe erfahren, was Millionen vor ihnen in gleichem Fall erfahren haben. Wenn sie im Gebete dem Hocherhabenen sich nähern wollten, würde alsobald ein beklemmendes Gefühl unendlicher Entfernung von Ihm sie überfallen. Arbeiteten sie sich durch dasselbe im Geiste bis in seines Thrones Nähe durch, so umblitzte sie daselbst, ihre eigne Finsterniß ihnen beleuchtend, der Glanz Seiner Heiligkeit, und erschrocken bebten sie zurücke. Getraueten sie sich, auf den Allmächtigen zu hoffen; sofort würde ihr Gewissen sie fragen, mit welcher Befugniß sie Solches sich vermäßen. Gedächten sie, dem Ewigen ein Anliegen vorzutragen; unter dem dunkeln Bewußtsein ihrer Schuld erstürbe das Wort ihnen auf der Lippe. Begehrten sie Befreiung von irgend einem Leiden, womit der Herr sie heimgesucht, so würde gleich ihr Herz, das sie verdammt, den Beweis von ihnen fordern, daß sie mit Unrecht litten. So fänden sie, welche Anläufe sie auch nähmen, nimmermehr einen freien, offnen Zugang zu der erhabnen Majestät da droben, sondern stießen überall auf Schranken und verschloss’ne Gitter, und nur ein dumpfes, abweisendes und fremdes “Zurück von dieser Stätte!“ würden sie allwärts zu vernehmen glauben. Unter diesem “Zurücke!“ aber entwickelte sich dann unfehlbar in ihrem Innern ein Bedürfniß nach Fürsprache, Vermittlung und Versöhnung, das ihnen binnen Kurzem die Stelle des Lichtes bei der Nacht vertreten, und bis zum Kreuze ihnen hinüber leuchten würde. Ein bekannter deutscher Dichter in Paris, gottlos bisher, wie wenige, verkündigt in diesen Tagen von seinem langjährigen Siechbette her der Welt, daß er von seinem Atheismus geheilt worden sei, und nunmehr nicht allein an einen persönlichen Gott, sondern auch ein ewiges Leben glaube, und nur wünsche, unter welchen Qualen es auch immer sei, zwei Jahre noch zu leben, um, „nachdem er lange genug mit den Hegelianern die Schweine gehütet“, vor seinen Zeitgenossen noch weiter Zeugniß von seinem Glauben ablegen zu können. Wenn, was dieser Mann erkannte, nicht eine todte Theorie seines Kopfes nur, sondern, wie wir nicht bezweifeln wollen, eine Wahrheit und Thatsache seines innersten Bewußtseins ist, so bleibt derselbe kein bloßer Theist, sondern wird ein Christ, indem dann der Gott-Vater, dessen er inne ward, ihn unfehlbar zu seinem Sohne weisen, ziehn und drängen wird. – Die Feinde des Kreuzes sind solche eben, weil sie keinen Gott haben, ob sie auch tausendmal des Gegentheils sich rühmen. „Wäre Gott euer Vater“, spricht der Herr, „so liebtet ihr mich;“ – und Johannes: „Wer den Sohn leugnet, hat auch den Vater nicht.“ Man gehe nur der Sache auf den Grund, und der Apostel wird immer Recht behalten: Der Gott der Kreuzesfeinde ist ihr sinnliches Ich; ja, “ihr Bauch ist ihr Gott“, und irdisches Wohlergehn ihr Himmel. - “In ihrer Schande“, fährt Paulus fort, “ist ihre Ehre.“ O, wie trifft auch dies namentlich bei den neuesten Widersachern des Kreuzes zu! Ihr roher, gedankenloser Unglaube ist ihre Schande; sie heften ihn sich unter dem Namen der Aufklärung als ein Ordenszeichen auf die Brust. Der sogenannten „öffentlichen Meinung“ zinsbar, ziehn sie blindlings mit dem großen Haufen die breite Gasse; - welche erniedrigende Stellung! Aber sie pochen auf diese ihre Beigehörigkeit zur „Majorität“, als auf ihre Korne; als ob nicht die Edlern der Menschheit jederzeit in der Minderheit gewesen wären, und als eine kleine Auswahl nur aus der großen Masse sich hätten erfinden lassen! – Sie sind Unterjochte des herrschenden Zeitgeistes, unter die Gewalt etlicher kecker Bannerträger des letztern verkauft und an deren Triumphwagen gespannt; wie schmählich dies! Aber sie gloriiren mit dieser Knechtschaft, und tragen in der Firma des einen oder andern der antichristlichen Rädelsführer ihr Sclavenbrandmal mit einer Selbstgefälligkeit, als wäre es ein Diadem, das um ihre Stirne glänzte. Sie besitzen keine Gerechtigkeit, als etwa das besudelte und mit Heuchelei befleckte Gewand des Pharisäers: die Engel ekelt vor ihrem Anblick; aber wie spreizen sie sich in ihren Lumpen, die tief Verblendeten, und wie werden sie zu Narren in ihrem Bettelstolze! Ihr seht, von welcher Seite wir sie betrachten mögen, immer trifft es zu: “Ihre Ehre ist in ihrer Schande.“ - “Und“, sagt Paulus endlich, “sie denken nur auf’s Irdische.“ Ja, allewege auf nichts Andres, als dies. Sie leben nur für diese Welt, und pflegen auch solcher Schande als einer Art Bravour, und Erweisung ihrer „Emanzipation“ und „männlichen Selbstbefreiung von allerlei dunklen Mächten und aufgedrungenen Autoritäten“ sich zu rühmen. Suchten sie, statt des “Irdischen“ das, “was droben ist“: ihr Weg führte sie an Golgatha nicht vorüber. Dürstete sie nach Gnade und Vergebung: wie bald umspannten auch ihre Arme das blutige Christuskreuz. Ginge es ihnen um Heiligungskraft und Trost im Leben und im Sterben: unmöglich ließe sie dieser Durst den offnen Brunnen des Calvarienberges übersehen. Schmachteten sie nach dem Anrecht an eine Friedensstätte in der himmlischen Gottesstadt: nicht bliebe ihrem Herzen der dorngekrönte Mann ein Fremdling, der die Schlüssel nicht bloß der Hölle und des Todes, sondern auch des Paradieses tröget. Aber ihr Eden blüht, wo die Fleischtöpfe Egyptens dampfen. – Seht, solche Verderbensmasse steckt hinter der Kreuzesfeindschaft; solche Gottentfremdung liegt dem Widerwillen gegen den Artikel von der Versöhnung in Christi Blut zum Grunde. Wie, daß diesen Leuten ein anderes Loos, als das der Verdammniß fallen könnte? Und wären sie auch den menschlich Edelsten auf Erden beizuzählen, und gebührte ihnen selbst der Ruhm eines gewissen sittlichen, ja religiösen Wollens, Strebens und Bemühens; sie verkennen doch im schnödesten Undank die Liebe Gottes, wie sie in dem Werke der Erlösung der sündigen Menschheit sich bethätigte, sie unterschätzen gröblich die Anstalt, die der Ewige zur Wiederbringung der Sünder in Christi Blut gegründet hat, und entziehen sich eigenmächtig der Heilsordnung, welche Er in seiner göttlichen Machtvollkommenheit für Alle, die selig werden wollen, festgestellet und von den Dächern herab hat proklamiren lassen: und schon um dieser ihrer Auflehnung gegen Gottes Wege, Rathschlüsse und Veranstaltungen willen kann und darf, wo anders Recht, Recht bleiben soll, nur die Verwerfung und Verdammniß ihr Loos sein.

3.

Ihr seht, Paulus weint nicht um Nichts. Daß er aber weint, statt nur zu rügen und zu schelten, ist ein bedeutsamer, überaus beachtenswerther Umstand. Das Weinen lag diesem Apostel sonst nicht nah. Er war ein Mann, Held, Charakter durch und durch. Er weinte nicht, wo Andre in Thränen zerflossen wären. Wo es mit Verkennung und Schmach, mit Schimpf- und Scheltwort, oder gar mit Knütteln und Steinwürfen über ihn herging, stand er wie ein Fels im Meer, und bezeugte frei und fröhlich: „Wir rühmen uns auch der Trübsal, dieweil wir wissen, daß Trübsal Geduld bringt, Geduld aber Erfahrung, Erfahrung Hoffnung; und Hoffnung läßt nicht zu Schanden werden.“ Ja, wo man ihm persönlich etwas wollte, bot er entschlossen seine Stirn, war Jedermann stets zur Verantwortung bereit, und konnte die Ruthe schwingen, - und wie furchtbar waren die Streiche seines ahndenden Ernstes und seiner vernichtenden Ironie! – aber an’s Weinen dachte er da nicht. Hier aber, wo er der Kreuzesfeinde gedenkt, ist er seiner Empfindungen nicht mehr Meister. Ja, hier gehen dem sonst so starken Manne die Augen über. Uns aber werden diese seine Thränen zu einem Strome, auf welchem die Schifflein unsrer Gedanken bis in das Innerste und Verborgenste seiner Gemüthswelt hinuntergleiten; und wie, daß sie von dort her anders, als schwer und reich befrachtet sollten wiederkehren können!

Paulus weint um die Verächter des Kreuzes. Er muß es mithin für nichts weniger als eine gleichgültige Sache erachten, wie man sich mit seinem Glauben und seiner Liebe zu dem gekreuzigten Christus stelle. Hätte der Apostel für uns arme Sünder noch irgendwo sonst, als in dem Blute Jesu, Hülfe und Rath gewußt, fürwahr, geweint hätte er um diejenigen nicht, die an diesem Blute vorübergingen. Nun aber spiegelt sich in seinen Thränen unzweideutiger noch, als in irgend einem seiner Worte, seine tiefe, allen Zweifeln enthobene Ueberzeugung, daß außerhalb der Glaubensgemeinschaft mit dem Gekreuzigten für die Kinder Adams an eine Seligkeit nicht zu denken sei; daß sich aber deß ein Mann so tief und absolut gewiß ist, der, wie unser Paulus, sich nicht allein, wo immer er uns begegnet, als ein durch und durch klarer, nüchterner, besonnener Geist und ruhiger Denker uns bewährt, sondern der auch sein ganzes Leben hindurch, wie Wenige, mit der Religion und dem Trachten nach Gottähnlichkeit einen rechten Ernst gemacht, und alle Kräfte Leibes und der Seelen daran gesetzt hat, um im Wege der Gesetzeserfüllung, der sittlichen Selbstveredlung, und frommer Uebungen aller Art, in die Gemeinschaft des Dreimalheiligen sich hineinzuringen: das muß uns doch, wofern wir etwa Pauli Glauben noch nicht theilen, im allerhöchsten Grade belangreich und des tiefsten Nachdenkens werth erscheinen. Ja, fühlt es doch, wie diese Thränen des Apostels über die Kreuzesfeinde so unendlich viel schwerer in die Wagschale der Wahrheit fallen, als alle Ein- und Widersprüche der letztern, welche ja niemals ernstlich gestrebt, mit Gott in’s Reine zu kommen, noch je im Schweiße ihres Angesichts getrachtet haben, Gottes Gesetz zu halten. Die Thränen Pauli sind nächst denjenigen, die der Sohn Gottes selber einst über das ungläubige Jerusalem vergoß, das stärkste und mächtigste Zeugniß für die Thatsache, daß es, wie für die Menschheit im Ganzen, so für das einzelne Menschenkind einen Rettungsweg schlechterdings nicht gebe, außer dem einen, der in der rückhaltlosen Herzensübergabe an den Mann der Schmerzen am Kreuzesstamme uns eröffnet ward. Wer an diesem Wege sich ärgern will, und gegen den Rath, ihn einzuschlagen, sich verschließt, der, auf welchen Pfad er sonst den Fuß auch setze, ist unrettbar verloren. Er wird „das Leben nicht sehen“, denn er stößt das Leben von sich. „Er ist schon gerichtet: denn er glaubt nicht an den Namen des Sohnes Gottes.“ –

“Welcher Ende ist die Verdammniß“. Der Apostel spricht’s und die hellen Thränen rollen ihm über die Wangen. Die “Verdammniß“ muß mithin in seinen Augen etwas mehr doch sein, als ein wesenloses Schattenspiel an der Wand. Wäre sie ein leeres Schreckbild nur, ein Phantasmagorie zu pädagogischen Zwecken, Paulus, - kein empfindsamer Phantasiemann, - hätte bei ihrer Nennung nicht geweint. Selbst dann, vertraue ich, würden dem starken Mann die Thränen gerade noch nicht los geworden sein, wenn er sie die Verdammniß nur als ein einigermaßen noch erträgliches Loos, und etwa als einen Uebergangszustand, als eine Art Läuterungsfeuer, als ein zeitweiliges Hades-Leben hätte denken dürfen. Daß er aber weinen muß, damit verräth er uns eine gar andre Anschauung. Mark und Bein erschütternd ist der Blick, den uns seine Thränen in das Feuer der Hölle thun lassen. Furchtbarer, als in irgend einem Worte der Schrift, sehn wir in ihnen die Schauer des Zustandes der Verlorenen wiederscheinen. – „Aber, mein Gott!, höre ich sagen, „allein wegen des Mancos jenes einen Glaubensartikels, daß das Blut Christi rein mache von allen Sünden, und nicht etwa um schuldig gebliebener Pflichterfüllung willen, verloren, verdammt und in die Hölle verwiesen?!“ – Nein, Freunde, wie ihr euch die Sache vorstellt, verhält sie sich freilich nicht. Ihr faßt sie ganz beim unrechten Ende an. Das bloße Unterschreiben jenes Glaubensartikels ist nicht der Gegenstand, um welchen sich’s handelt. Eine lebendige, herzinnige Aneignung jenes Artikels gilt’s; an der aber hängt unendlich mehr, als ihr euch träumen lasset. Der Bruch mit der Sünde ist damit verknüpft, und der Tod des alten Menschen, und die Auferstehung des neuen, und die Wiedergeburt, und wie Manches sonst noch. Das faßt in’s Auge, und das: “Welcher Ende ist die Verdammniß“ wird euch schon nicht mehr so unbegreiflich erscheinen.

Paulus weint. Ja wohl, in seinen Thränen liegt der schlagendste Beweis, daß er wirklich und in vollem Ernste glaubt, es sei, wer dem Gekreuzigten den Rücken kehre, unbedingt verloren. Oft hören auch wir auf die Kreuzesfeinde schelten, und mit großem Aufwand der Stimme und des Affekts wider sie toben, donnern und rumoren. Aber daran ist mit Sicherheit noch nicht zu erkennen, ob die Eiferer in Wahrheit selbst von Herzen glauben, daß, wer zur Kreuzesfahne nicht schwöre, rettungslos dem ewigen Verderben entgegengehe. Ich denke, daß, falls sie in der That die Leute, wider welche sie die Geißel schwingen, im Geiste schon am Rande der Hölle schweben sähen, ihre Stimme sich in etwa wandeln, ihre Posaune abwechselnd auch weichere Töne von sich geben, ja ihr Auge zu Zeiten mit Thränen sich füllen würde. Paulus schaut die Kreuzesfeinde in jener Lage, und – schilt nicht, tobt nicht, sondern - weint. Das ist der rechte “Weltschmerz“, wie ihn allein das Christenthum gebiert, welches daran zugleich ein starkes Zeugniß für die Göttlichkeit seiner Natur hat. Der “Weltschmerz“ der Neuern ist das Gegentheil von jenem, und nur eine Ausgeburt des vollendetsten Egoismus; ein heimlicher Verdruß und Gram darüber, daß sie mit den Plänen ihrer Selbstsucht nicht zum Ziele kommen, und nicht selbst auf den Thronen der Erde sitzen. Der Christ, sein selbst vergessend, bethaut seinen Lebenspfad mit stillen, stummen Thränen um eine Welt, die ihn vielleicht nicht kennt, und der er durch nichts Menschliches sich verwandt weiß; aber die er den Irrweg wandeln, und von den Gefahren eines ewigen Untergangs bedroht sieht; und darüber zerschmilzt ihm das Herz in Wehmuth und mitleidiger Trauer. – „Er ist ein Narr!“ höre ich rufen. – Nein, Freunde, in Gottes Augen, so wie auch in den Augen derer, denen noch nicht im Sumpfe der Gemeinheit aller Sinn für göttlich Wahres und göttlich Schönes verloren ging, und die noch Geistliches geistlich zu richten wissen ist er es nicht. O, seht doch, welche hehre Erscheinung, jener Paulus dort im Kerker zu Rom, bitterlich beweinend das Unglück derer, die ihn hassen, oder gar wider ihn zu Felde liegen; die er aber nichtsdestoweniger so ernstlich und so innig lieb hat, daß er wohl seine eignen, des viel Verkannten, des jetzt in Fesseln und Bande Geschlagenen, Bedrängnisse und Leiden, nicht aber das verschmerzen kann, daß jene auf die holde Stimme Dessen nicht hören wollen, der da ruft: „Kommet her zu mir Alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ – sondern Muthwillens ihrem ewigen Verderben entgegentaumeln. O, die Erscheinung dieses, eine fremde, ja feindselige Welt mit den Armen mit erbarmungsvoller Liebe umfassenden Kettenmannes: welch ein Lobebrief ist sie für das Christenthum; welch ein gewaltiger Beweis für die wunderthätige Macht des Worts vom Kreuze!

Vernehmen wir unter dem Eindruck der Thränen Pauli jetzt das Mahnwort, das er in unserm Textesspruche an uns ergehen läßt; welche Wucht hat es nun gewonnen, und welchen Nachdruck! “Folget mir“, (buchstäblich: seid meine Mitnachfolger, nämlich Christi:) ruft er mit der vollen Zuversicht eines Mannes, dem es göttlich versiegelt ward, und dem es darum außer Zweifel steht, daß er auf der einzig rechten Fährte sich befinde. Damit aber nicht etwa ein Verdacht stolzer Erhebung über seine Brüder auf ihn falle, fügt er, jedoch ohne sich, als dem unfehlbaren Wegweiser in dieser Sache, etwas zu vergeben, bescheiden hinzu: “Und sehet auf die, die also wandeln, wie ihr uns habt zum Vorbilde.“ Und in der That, es räth Alles uns dazu, ihm ohne Verzug uns anzuschließen. Oder sagte euch nicht euer innerstes Gefühl, daß wir mit diesem Manne unbestritten in der besten und vertrauenswürdigsten Gesellschaft gehen, die auf Erden zu finden ist, und daß, wenn man an seiner Seite das Ziel der himmlischen Berufung verfehlen könnte, dieses Ziel gewiß auf keinem Wege zu erreichen wäre? – Und wenn die Thränen Pauli uns Eile anempfehlen bei dem Anschluß an ihn und seinen Wanderzug, so ist sein in das innerste Geheimniß seines Glaubenslebens uns einweihendes Schlußwort ganz geeignet, diese Eile noch zu beflügeln und zu einer recht freudigen zu machen. „Unser Wandel“, beginnt er, „ist im Himmel.“ Das griechische Wort, von Luther „Wandel“ verdolmetscht, ist ein sehr gedankenvolles, und kaum übersetzbar. „Unser Bürgerwesen“ übersetzen’s Manche treffend. Der Apostel will sagen: „Dort Oben ist der Staat, dem ich angehöre, der König, dem ich diene, die Heimath, der ich entgegenpilgre; und darum droben mein Gedenken, mein Sehnen und mein ganzes Hoffen. Wie dornicht hier unten unser Pfad: über freie Bergeshöhen ziehn wir hin, auf Schritt und Tritt entzückende Aussicht vor uns. Wir wandern im Anschaun des offnen Himmels, der unsrer harret, wie wir seiner. Und nicht unserm Geiste nur blüht selige Zukunft: nach Seele und Leib hat der Mann am Kreuze zu seinem Eigenthume uns erkauft. Wir warten auch, (so fährt er fort) von dannen des Heilandes Jesu Christi, des Herrn, (hört, wie er Ihm hier wieder als dem Gottgleichen die volle Ehre gibt!) der unsern nichtigen Leib, (den Leib der Demüthigung) verwandeln wird, daß er ähnlich werde seinem verklärten Leibe nach der Wirkung, damit er kann auch alle Dinge (der letzte Feind, der aufgehoben wird, das ist der Tod) sich unterthänig machen.“ – Seht, lauter Hoffnung, lauter goldne Perspektive, selbst für die irdene Hülle, den elenden Staub, den gebrechlichen, damals mit Ketten umschlossenen Gefährten seines Erdenlebens! Aber das Blut des Lammes ist es, aus welchem er alle diese Herrlichkeit, deren Wiederschein ihm schon das Dunkel seiner zeitlichen Wallfahrt so wundersam verklärt, erwachsen sieht. Ja, Himmelsleiter ist ihm Christi Kreuz; es ist ihm das Holz des Lebens, dessen Blätter zur Genesung der Heiden dienen, und der geheimnißvolle, von Gott gepflanzte Pfeiler, von welchem der ganze Bau des Heiles aller Welt getragen wird: was Wunder, daß er der Feinde dieses Kreuzes nicht anders, als mit Thränen gedenken kann?

Brüder, es galten diese Thränen vielleicht bisher auch Manchen unter uns. Nicht wahr, hinfort sollen sie uns nicht mehr gelten? – Ist’s doch, als stände heute der Herr persönlich vor einem jeglichen unter uns, und fragte, hindeutend auf seinen weinenden Apostel, wie einst der Vater der Rebekka, Angesichts des alten frommen Elieser’s, seine Tochter: “Willst du mit diesem Manne ziehn!“ – Und wie, daß uns unser Herz nicht drängen sollte, ein freudiges: “Wir wollen! wir wollen!“ Ihm zuzujauchzen? – Brechen wir denn entschlossen durch Alles durch, was uns die Straße zum Kreuze Christi noch verzäunen will; lenken wir, die Hand Immanuels ergreifend, ein in die hohe und heilige Bahn, in welcher wir „der Welt gekreuziget“ sind, aber auch “uns die Welt“, und schlagen wir hochsinnig das nichtige Gut der Erde um die ewigen Kronschätze des Himmelreichs los, auf daß bald auch in uns, ja in uns Allen, eine Wahrheit werde, was kürzlich Einer der Unseren singen konnte:

“Und lächelnd, ohne Bitterkeit
Geh’ ich den Pfad der Schmerzen;
Der Friede einer Ewigkeit
Ruht schon in meinem Herzen.

Die Reichen haben keine Zeit,
An ihren Gott zu denken;
Ich kann in hoher Seligkeit
Mein ganzes Herz ihm schenken.

Der Erde Glück, der Erde Tand
Stört nimmer meinen Frieden;
Stracks nach dem trauten Heimathland
Richt’ ich den Lauf hienieden.“

- Amen. –

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/k/krummacher_f.w/krummacher_f.w_pauli_traenen.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain