Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Versöhnung.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Versöhnung.

„Friede auf Erden!“ sangen die Engel über Bethlehems Hügeln. Es wäre dieser Klang ein Hohn gewesen über die Welt, wenn er nicht die Erscheinung Dessen hätte verkündigen sollen, der erst den Frieden bringen werde. Denn der Friede ist längst ans des Menschen Brust gewichen und hat der Furcht, der Unruh und einem geheimen Bangen Platz gemacht. Ein todesähnlicher Schlaf kann für eine Weile das Herz umfangen, so wie ein vorübergehender Rausch die Geister der Unstätigkeit, des Unfriedens und der dumpfen Sorge momentan betäuben und zum Schweigen bringen kann. Aber sobald der Mensch die Augen wieder ausschlägt und wach und nüchtern geworden, ob auch mit halbem Blicke nur seine wahren Zustände und Verhältnisse auf's neue durchschaut, ist er unglücklich in seinem Innern: denn er ist ohne Gott und Hoffnung in der Welt; die Erde füllt mit dem armen Tande, den sie ihm zu bieten hat, sein für die Ewigkeit geschaffenes Herz nicht aus; in seinem ganzen zeitlichen Besitzthum nagt der Wurm der Vergänglichkeit, und in naher Ferne drohen der Tod und das Gericht, und wer weiß, was weiter noch. - Nur in Christo und der Vereinigung mit Ihm ist Frieden. - „In wiefern?“ - das werden wir heute hören.

Micha 6, 6-7.

Womit soll ich vor den Herrn treten? und mich beugen vor dem hohen Gott? Soll ich vor ihn treten mit Brandopfern und jährigen Kälbern? Hat etwa der Herr gefallen an viel tausend Widdern? oder an unzähligen Strömen Oels? Oder soll ich meinen ersten Sohn für meine Uebertretungen geben? meines Leibes Frucht für die Sünden meiner Seele?

Die Stimme eines bußfertigen Volkes ist es, die uns aus diesen Worten antönt. Die wehmüthige Liebesklage des Bundesgottes: „Was hab' ich dir gethan, mein Volk, oder womit habe ich dich beleidigt?“ ist den Leuten zu Herzen gegangen. Die Erinnerung an die zahllosen Gnadenerweisungen, deren sie von Alters her gewürdigt wurden, hat sie vollends gebeugt, das Gefühl ihres Unwerths in ihnen geschärft und Scham und Bangen über ihre Seele herein geführt. Da stehen sie nun gesenkten Hauptes und verlegner Miene und sind genöthigt, sich selbst den Stab zu brechen, und aus der Tiefe ihres zerknirschten Herzens ringt sich die Frage los: „Womit soll ich den Herrn versöhnen?“

Diese Frage, die bedeutsamste und gewichtigste, die über unsre Lippen kommen kann, werde uns diesmal der Gegenstand adventlicher Betrachtungen. Was wir in's Auge fassen, seien zuerst die irrigen Bescheide auf die Frage; sodann die einzig richtige Lösung derselben; drittens die Rathlosigkeit, in welche diese Lösung uns versetzt; und endlich das dringende Bedürfniß, das sie offenbar macht.

1.

Die Frage: „Womit soll ich den Herrn versöhnen?“ ist weder erst durch's Christenthum geweckt, noch blos in Israel laut geworden. Zu allen Zeiten und unter allen Himmelsstrichen hat sie den Geist der Menschen beschäftigt. Durch alle Religionen der Welt geht ihr Wiederhall hindurch. Wie man sich die Gottheit dachte, überall begegnet uns ein Bemühen um Antwort auf jene Frage, weil überall eine dunkle Ahnung der Scheidewand, die zwischen Himmel und Erde befestigt steht. Es kann uns dies nicht wundern. Seit Anbeginn der Welt war keine Zeit und Völkerschaft, über der's nicht irgendwie einmal vom Zorn des Ewigen gewetterleuchtet hätte. Nicht blos in den engen Grenzen des gelobten Landes schütterten vom Schelten des Allmächtigen die Pfeiler der Erde und wankten die Gebirge vor seinem Dräuen. Nicht über Juda blos grollten die Donner seines Grimms und zuckten die Blitze seines Feuereifers. Ueberall entluden sich die Ungewitter der göttlichen Gerichte und rauschten Wolkenbrüche, Tod um sich her verbreitend, aus der Höhe. So konnte es den Völkern nicht verborgen bleiben, daß der Allmächtige eine verzehrende Glut sei für seine Feinde. Furcht ist darum die innerste Seele fast aller Religionen, und durch alle Geschlechter zieht sich ein nicht zu vertilgendes Gefühl von Gottentfremdung, ein beklemmendes Bewußtsein von einem Schuldnerstande, dann man sich befinde, und darum auch ein ängstliches Sinnen und Bestreben, Gott zu versöhnen.

Und in der That stehen die Heiden, die mit ihren Opfern den Zorn ihrer Götter zu besänftigen hoffen, die Götzendiener, die, um die ewige Rache zu sühnen, den grausamsten Kasteiungen sich unterziehen, und das Kostbarste, was sie besitzen, zu ihren Altären tragen, die rasenden Schwärmer, die sich unter den Rädern ihrer Götterwagen zermalmen lassen, um durch solche Selbsthinopferung ihre Seelen vor einer ewigen Zermalmung zu sichern, oder sich freudig in die Wogen ihrer Ströme stürzen, in der Hoffnung, mit ihrem Tode ihre Sünden zu tilgen und die Gnade der Unsichtbaren sich zu erkaufen: diese Kinder der Finsterniß, sage ich, stehen bei aller ihrer Blindheit und Verirrung der Wahrheit näher und verrathen eine größere Ahnungs- und Empfindungstiefe, als das unschlachtige, verkehrte und gottlose Geschlecht dieser gepriesenen aufgeklärten Zeit, dem in seinem leichtfertigen Sinne die Frage: „Womit soll ich den Herrn versöhnen?“ als eine Albernheit erscheint, und welches der Zeichen seiner fortgeschrittenen Bildung eins darin erkannt sehen will, daß es über Fragen dieser Art für immer hinweg sei. Und doch ist, wir wiederholen's, unendlich mehr Erleuchtung in dem Aberglauben jener Söhne der Wildniß, als in dem Unglauben dieser losen Leute, die da Gott, Gericht und Ewigkeit aus dem Mittel gethan zu haben wähnen, wenn sie den Schleier ihrer Nichtbeachtung darüber werfen. Und könnte irgend etwas Menschliches Gnade finden vor Gott, so fände jener Ernst der armen Heiden sie wohl eher, als der Muthwille und das eitle und windige Wesen dieser blinderen Namenchristen.

Doch geschieht's auch, daß in tieferen Seelen wirklich ein Begehren erwacht, eines versöhnten Gottes sich getrösten zu können, so wird in tausend Fällen doch der rechte Weg zum Ziele verfehlt, und das sogar inmitten der Christenheit. Wenn der König der Schrecken, der Tod, die Sichel anschlägt und die Pforten der Ewigkeit öffnet, so regt sich in Jedem wohl der Wunsch, für das Jenseits, falls ein solches existirte, ein freundlich Loos zu ziehen, und den Schrecken des Gerichtes zu entrinnen. Aber da sieht man denn in der Regel das Gottversöhnen als ein Werk an, das in jedes Menschen eigne Hand gestellt sei; und der Eine will so, der Andre anders sein eigner Mittler werden. Seltsame Auftritte erleben wir an Siech- und Sterbebetten. Wir fragen die Kranken, ob sie sich eines gnädigen Gottes versichert wüßten, und erhalten meist zur Antwort, wie sie doch hofften, Gott werde Gnade vor Recht ergehen lassen. Forschen wir näher nach dem Grunde, der diese Hoffnung trägt, so offenbart sich erst die Menge unerleuchteter Begriffe, die über die wichtigste aller Angelegenheiten selbst mitten in der Christenheit noch im Schwange gehen. Da beruft sich der Eine auf sein vieles Beten und macht das Gebet zu der wunderthätigen Flut, welche das Feuer des göttlichen Zornes wider ihn löschen soll. Thörichter Anschlag, mit Gebeten begangene Sünden tilgen, und eine Gerechtigkeit damit befriedigen zu wollen, an deren Thronessäulen wir die Inschrift lesen: „Gehorsam ist besser denn Opfer!“ Da äußert ein Andrer, er beschäftige sich ja Tag und Nacht mit Gott, und es werde ihn Gott schon darum nicht verstoßen können; als ob des Adamssohnes Meditiren in der Wage des Heiligthums Berge von Uebertretungen aufzuwiegen vermöchte und einen Ersatz für jene vollkommene Heiligkeit des Herzens und des Lebens böte, wie das Gesetz Jehovah's sie unwiederruflich fordert! Da bringt ein Dritter seine guten Werke in Rechnung und hofft vermittelst ihrer sich Gott zum Freund zu machen. Aber welch eine Verirrung, auf Werke trotzen zu wollen, die im Lichte Gottes angeschaut, um und um mit Sünde befleckt sind, und also Sünde tilgen zu wollen mit Sünde! Ein Vierter schiebt sein gottesdienstlich Leben vor, und auf seine Kirchgänge, seine Bibellektionen und was deß mehr ist, gründet er seine Hoffnung. Aber welch ein Wahn auch dies! Ist der Allmächtige denn ein Gott, der an unsern Neumonden, unsern Sabbathen und dem Geplärr unsrer Lippen sein Gefallen hätte? Will Er nicht vielmehr, daß wir heilig seien, wie Er heilig ist, heilig in Sinn und That, und hat Er nicht doppelte Streiche dem gedrohet, der Seinen Willen wisse und sich dennoch nicht bereitet habe? Ein Fünfter richtet sich gar an dem Gedanken auf, daß schon das Kreuz, welches auf Erden ihn betroffen habe, den Herrn ihm zu Gunsten stimmen werde. Aber „träumet dir, o Mensch,“ möchten wir hier sprechen, „oder sind die Sinne dir zerrüttet? War es nicht deiner Sünden Sold, was du erduldetest, und hast du vergessen, daß selbst die ewige Qual und Pein des reichen Mannes in der Hölle nicht im Stande war, das Herz des Allmächtigen zum Mitleid zu bewegen?“ Ja, kaum glaublich ist es, was für verdrehte Begriffe hinsichtlich der Versöhnung Gottes im Umlauf sind. Denkt man auch nicht grade, es verstehe sich von selbst, daß Gott am Ende einem jeden Menschen, wenn er's mit seinem Freveln auf's äußerste getrieben, in Huld begegnen müsse, so ist man doch der Ansicht, daß mit leichterer Mühe nichts zu erzielen sei, als eben die Gottesgnade. Aber man übersieht, daß all' unser eigen Thun und Treiben vor Gott ein Fluch ist. Der Vater der Lügen ist es, der den Leuten anräth, auf den Ruhm, ihre eigenen Versöhner zu sein, nicht zu verzichten. Er verführt sie, mit ihren sogenannten sittlichen Thaten und edlen Tugendwerken Gott dem Herrn „blinde Opfer“ und abgestandenen Weihrauch darzubringen: Gaben, die der Dreimalheilige ihnen vor die Füße zurückwirft; denn Seine Forderungen zielen auf gar ein Anderes.

2.

Wie wird Er denn versöhnt, der große Gott? Im Wege der Genugtuung, und anders nicht. Greuelt euch vor diesem Worte? Wir können euch nicht helfen. Es ist, wie wir sagen. Vermögt ihr euch mit jener Idee nicht zu befreunden? Weiset sie ab, und - fahret auf eure Rechnung in's ewige Verderben! Ich weiß, ihr habt einen andern Gott als wir. Ich kenne das Gebilde der Phantasie, das eure Willkür sich von Gott geformt. Den matten Schattenkönig, euch selber gleich, aus ungesalzner Empfindsamkeit und blinder Liebe zusammengesetzt, ich kenne ihn. Aber das Leben meiner Seele setze ich zum Pfande, daß der Gott, der einst vor seinen Stuhl euch ladet, ein anderer ist. Licht ist das Kleid, daß Er an hat; ja ein „verzehrend Feuer“ ist Er, sagt die Schrift. Euer Baal lasse die Dinge gehen, wie sie können; unser Gott ist ein Gott der Ordnung, und „Gerechtigkeit ist die Veste seines Stuhles.“ „Wer wird gehen auf seinen Berg, und stehen an seiner heiligen Stätte? Der unschuldige Hände hat und reines Herzens ist; der nicht Lust hat zu losem Wesen, und schwöret nicht fälschlich!“ Ein Licht ist Er, und ist keine Finsterniß in Ihm. Er hasset das Arge und die, so es vollbringen, und hat eine Hölle gebaut neben dem Himmel; und hat ein Mahl bereitet in der Höhe für seine Freunde, für die Rebellen ein unauslöschlich Feuer in der Tiefe. Man hüte sich vor einer einseitigen Beurtheilung Dessen, der auf dem Throne sitzt. Man schaue Ihn an den Erweisungen Seiner unergründlichen Liebe und bewundere die Huld, in der Er mit den Geretteten dort Oben seine Seligkeit theilt, das freundliche Walten, in welchem Er hier unten seine Sonne scheinen lässet über Gerechte und Ungerechte, und die väterliche Güte, die Er an Allem, was Odem hat, betätigt. Aber man betrachte Ihn dann auch in dem Feuerglanze Seiner richterlichen Vollkommenheiten, und entnehme die andre Seite seines erhabenen Bildes aus dem Elend der Verdammten, ans dem Verzweiflungsgeheul der in endlose Nacht Hinabgewiesenen und aus dem Rauche der Qual, welcher „aufsteigt von Ewigkeit zu Ewigkeit.“

Er hat es einmal ausgesprochen, und zwar in seinem vollen heiligen Ernste, daß „verflucht, verbannt, verstoßen sei, wer nicht bleibe in Allem, das geschrieben stehe im Buche des Gesetzes, daß er es thue;“ und einen Eid hat Er bei seinem eignen Namen hinzugefügt, daß es bei jener Drohung sein Verbleiben haben solle unverrückt. Und indem Er der Sünde fluchte, hat Er von aller Welt gefordert, daß sie „Amen“ schriee zu Seinem Fluche, und Ihm ihr: „Heilig, Heilig, Heilig!“ sänge. Und die Welt thue oder lasse es: es hat sich so, und es verbleibt dabei, daß wir allzumal. Alt und Jung, Vornehm und Gering, von Hause aus unter dem Fluche liegen, weil wir nicht geblieben in alle Dem, das geschrieben steht im Buche des Gesetzes. Damit wir nun der allerschrecklichsten Gerichtsvollstreckung heil entrinnen mögen, ist Eins von Nöthen: Bezahlung bis auf den letzten Scherf. Es muß Gott gegeben werden, was Ihm gebührt, und was Er mit der unerbittlichsten Consequenz und Strenge in Anspruch nimmt. Und seine Forderungen, ihr höret's, sind nicht gering, und abstehen kann Er davon nicht, ohne mit sich selbst zu zerfallen und aufzuhören, Gott zu sein.

Nachdem Er einmal in Gemäßheit Seiner erhabenen Natur ausdrücklich erklärt hat, daß Er allein Diejenigen in seine Gemeinschaft aufnehmen und sie segnen und erhöhen werde, die eine fleckenlose Gerechtigkeit und Reinheit vor Ihn brächten, d. h. Seinem ganzen Gesetze nach Buchstaben und Geist in sich selbst, Gestalt und Leben geliehen hätten, so behält's nun auch dabei für Zeit und Ewigkeit sein Bewenden. Und weil Er einmal geschworen, die Sünde ohne Erbarmen mit einer ewigen Verdammniß strafen zu wollen, so muß es also auch geschehen. Gott ist durch seine Gerechtigkeit, wie durch seine Wahrheit genöthigt, uns, sofern wir die Bedingung einer vollkommenen Gesetzeserfüllung schuldig bleiben, zu verfluchen. Können wir diese Bedingung erfüllen und zugleich den mit der Sünde verdienten Zornesbecher bis auf die Hefen leeren, so ist Seiner Gerechtigkeit wie Seiner Wahrheit Genüge geleistet und seine Liebe frei geworden, um ihre Arme, und mit ihnen die Pforten des Himmels uns zu öffnen. An ein willkürliches Verzeihen aber ist bei einem Gotte des Rechtes und der Ordnung nicht zu denken; und Diejenigen, die Ihm eine Liebe andichten wollen, vermöge deren Er auch ohne vorhergegangene Sühne begnadigen und Sünden erlassen könne, trennen die Gerechtigkeit von Gott, lästern den Herrn der Herrlichkeit und verunehren, in dem Wahne, ihn zu ehren, Seinen Namen. Wehe ihnen! Sie übertreten das erste Gebot: „Du sollst keine andern Götter neben mir haben;“ das zweite: „Du sollst dir kein Bildniß noch irgend ein Gleichniß machen;“ das dritte: „Du sollst den Namen des Herrn deines Gottes nicht mißbrauchen;“ und wie manches andere dazu! Seht, so steht die Sache.

3.

Können wir selbst die erforderliche Bezahlung leisten? Eher Welten schaffen, und dem, das nicht ist, rufen, daß es sei, als dieses. Hier habt ihr von allen Unmöglichkeiten die absoluteste. Wie es dem zu ergehen pflegt, der ernstlich darauf bedacht ist, das göttliche Gesetz zu halten, weiß Mancher von euch aus eigner Erfahrung. Er ist's inne worden, daß, je entschlossener man zu jenem Werke schreitet, um so mächtiger der Widerspruch gegen das Gesetz in uns sich regt, um so ungestümer die Sünde in uns hervortritt. „Wir sind verkauft, übel zu thun vor dem Herrn,“ sagt die Schrift. „Wir können nicht Gutes thun,“ sagt sie, „weil wir des Bösen gewohnt sind.“ So ist's mit unsrer Natur und deren Kräften bestellt, daß, würde uns auch eine tausendjährige Zeit gegönnt, um sie lediglich an die Erfüllung des göttlichen Willens zu verwenden, wir dennoch nicht einmal dahin gelangten, nur das erste Gebot nach dem Sinne Gottes zu halten: „Du sollst keine andern Götter vor mir haben;“ geschweige das letzte: „Laß dich nicht gelüsten.“ Wir sind die Dornen, die aus eigner Triebkraft nimmer Feigen tragen; die Disteln, von denen, solange sie in ihrem Boden wurzeln, Niemand Trauben liest.

Wir können aus uns selbst nur unsre Schuld vermehren und unsre Verdammniß schwerer machen; aber abzutragen die Verdammniß, die uns zukommt, sind wir unvermögend, weil das uns gedrohte Elend ein ewiges ist. Und wäre es das auch nicht, so würden wir in den Aengsten der Hölle doch nur verzweifeln, gegen den Richter, der solchen Jammer uns überwies, in Haß entbrennen, nur Lästerungen ausschäumen, und also auch hier auf die alten Missethaten nur neue häufen können.

Was Raths denn? Großer Gott, eine schauerlichere Rathlosigkeit, als diejenige, in der wir hier, uns selbst gelassen, uns befinden, gibt es nicht. Ach, haben wir uns selbst zu versöhnen, dann, ihr himmlischen Gezelte, lebet wohl; lebt wohl, ihr ewigen Friedenshütten: unser Auge wird euch nimmer sehen. Dann, du herrliche Gottesstadt da Droben, lebe wohl: denn unsre Füße werden deine goldnen Gassen nicht betreten! Lebt wohl, ihr grünen Auen des Paradieses, ihr Hügel der Wonne, ihr seligen Engelkreise; du aber, Gehen na, öffne uns deine finstern Pforten, denn unser Loos ist gefallen: wir sind verloren!

„Aber gibt's denn keinen andern Rettungsweg, als den der Zahlung?“ Keinen andern. Genugthuung heißt die unerläßliche Bedingung. „Aber könnte nicht ein Andrer für uns leisten, was uns unmöglich?“ Wer sollte dieser Andre sein? Ein Mensch? Der sorge doch vor Allem für sich selbst! Ein Engel? Vermag ein Engel über das Maß der eigenen Schuldigkeit hinaus Gerechtigkeit zu wirken? Sollte Gott überhaupt an einem anderen Geschöpfe unsre Sünden strafen können? Was würde in solchem Falle aus Seiner Gerechtigkeit? Wer heilig ist, der ist's für sich, und der Sünder muß für seine eigne Sünde sterben. „Kann doch,“ heißt es Psalm 49, „ein Bruder Niemand erlösen, noch Gotte Sühnung für ihn geben. Zu theuer ist das Lösegeld der Seelen, daß er's muß lassen anstehen ewiglich.“ Es würde ja schon ein solches Maß von Liebe zu fluchwürdigen Sündern bei keinem Geschöpfe, selbst bei den Engeln, nicht zu finden sein, als dazu erforderlich wäre, um für jene zur stellvertretenden Erduldung des Zornes Gottes sich darzustellen. Nur im Herzen Gottes könnte eine Liebe von solcher Größe vorausgesetzt werden. Aber angenommen, eine Kreatur besäße sie und böte sich an, so wäre es doch umsonst. Ihr Anerbieten würde nicht angenommen; denn weit über alles kreatürliche Vermögen hinaus liegt die Wiederbringung eines so tief versunkenen Geschlechtes, wie das Geschlecht der Kinder Adam's ist.

4.

Da stehen wir denn, und schauen zitternd hinunter in die ewige Nacht, und müssen den entsetzlichen Gedanken denken, dort, wo die ewigen Ketten rasseln, wo das Winseln der Verdammten uns entgegen tönt, wo die Verzweiflung haus't und keiner Hoffnung mehr gestattet ist, das Weh zu lindern, stehe unsres Pilgerlaufes Ziel, sei unsre Heimath. O möchte man nicht jetzt schon laut aufschreien bei solchem Gedanken? Doch stille! - O Brüder, es müßte Eins geschehen, Eins, Eins, so wäre noch Rettung für uns möglich. Wenn nämlich Einer sich fände, der, weil über dem Gesetze stehend, für die eigene Person an das Gesetz nicht gebunden wäre; der aber, obwohl göttlicher Natur, nichtsdestoweniger auch wieder der Menschheit angehörte, welcher die Erfüllung des Gesetzes obliegt. Wenn dann ein Solcher an unsre Stelle träte und leistete den Gehorsam für uns, den wir weder leisteten, noch leisten können; wenn er zugleich stellvertretend die Last des Zornes Gottes wider unsre Sünde auf sich nähme und für uns ohne Murren, ohne Verzagen, in unverrückter Heiligkeit und willenloser Ergebung und Geduld den Fluch erduldete. Ja, wenn das geschähe! O wir athmen freier. Ein Morgenroth beginnt zu dämmern! - Doch ist so Unerhörtes zu erhoffen? - Ja, es ist's! Singt Halleluja, Brüder! Das fast Unglaubliche ist geschehen. Ein Helfer, wie unsre Noth ihn fordert, ist vorhanden. Ein Erhabener, über dem Gesetze stehend, wahrer Gott und Mensch, heilig, unbefleckt, von den Sündern abgesondert und höher denn der Himmel ist. Er kam, ward unser Bürge, leistete Gehorsam, wirkte Gerechtigkeit, bezahlte Fluch tragend unsre Schuld, und - die ewige Erlösung ist erfunden. Seht, dort vom Kreuze fließt sein Blut, und aus seinem erblassenden Munde tönt der Siegesruf: „Es ist vollbracht!“ „Also,“ verkündet er uns selbst, „hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß Alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Und der Vater besiegelt's mit seinem Amen und ruft mit vernehmlicher Stimme vom Himmel: „Ja, dieser ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören.“

So ist denn die Scheidewand gefallen, der Rückweg zu Gott gebahnt. Ueber Golgatha geht er. Hier wird uns ein königlicher Purpur dargeboten, die Gerechtigkeit Immanuels, darin wir, als in unserm Hochzeitsschmucke, vor dem Stuhl des Alten der Tage erscheinen sollen; hier ein Blut, das von dem Augenblicke an, in welchem der Grund unsres Herzens damit besprengt wird, uns völlig und ewig rein macht von aller Sünde. Ach, sollten wir nicht vor Freude jauchzen über das anbetungswürdige Ereigniß, daß Gott für uns Rathlose solch' einen Rath gewußt und seinen eingebornen Sohn für uns dahin gab? Und doch treten die allermeisten Sünder das einzige Mittel ihrer Rettung, das Blut des Lamms, mit Füßen! Gräßlich, gräßlich! Ihr Wahnsinnigen seid eines doppelten Todes schuldig, die ihr das Gesetz geschändet habt, und nun auch noch die Hand der Gnade von euch weisend, eine solche Seligkeit nicht achtet, wie sie euch in Christo dargeboten wird. O dreimal wehe euch! Wenn ihr aber nicht anders wollt, dann vorwärts nur unter der Fahne des Lügenvaters der Hölle zu! Wir benedeien dagegen Den, der uns also die Todesfesseln abnahm und selber uns zur Himmelsleiter wurde, schlagen unter seinem Kreuze unser Zelt auf, werfen uns in feine blutigen Arme und rufen bewegt von seliger Hoffnung: „Du bist mir ein Blutbräutigam!“

Aller Trost und alle Freude
Ruht in Dir, Herr Jesu Christ;
Dein Erfreuen ist die Weide,
Da man sich recht fröhlich ißt:
Leuchte mir, o Freudenlicht,
Ehe mir mein Herze bricht,
Laß mich, Herr, an Dir erquicken,
Jesu, komm, laß Dich erblicken, - Amen.

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