Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der Aufbruch.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der Aufbruch.

Predigt über Ebräer 13, 13. u. 14.

So lasset uns nun zu ihm hinausgehn außer dem Lager, und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Geliebte in dem Herrn! Ein alter Leichenstein auf dem Kirchhof einer schwäbischen Stadt zeigt die Inschrift, (Martinus von Biberach ließ sie sich vor etwa 400 Jahren, den Pilgern zu Nutz, die seinem Hügel nahen würden, setzen):

„Ich leb', weiß nicht wie lang;
Ich sterb', und weiß nicht wann;
Ich fahr', weiß nicht wohin;
Mich wundert, daß ich fröhlich bin!“

Nicht Wenige unter uns dürften Grund und Ursache haben, dies Verslein wohl zu Herzen zu nehmen und es zu dem ihrigen zu machen.

Kaiser Carl V., in dessen Reich, wie ihr wißt, die Sonne nicht unter-, in dessen Herzen sie aber erst im 72sten Jahre seines Lebens aufging, ließ sich die Grabschrift stellen: „Hier liegt ein achtzigjähriger Greis, der nur acht Jahre lebte.“ Es gibt also ein Todtsein bei Leibesleben, und ein Auferstehen zum Leben, während man leiblich stirbt. Wehe Allen, bei denen der Leibestod, wenn er kommt, noch mit dem geistlichen zusammentrifft!

Ein Theil dieser Gemeinde vernimmt in diesen Tagen für eine kurze Frist Signalruf zum Aufbruch. Zum Aufbruch wird auch in unserm Texte geblasen. Nur daß der apostolische Drommetenstoß geistlicher Natur ist, und an uns Alle ergeht. Von wannen uns der Apostel abruft, auf welchen Sammelplatz er uns bescheidet, und was er denen, die seinem Signale folgen, in Aussicht stellt, das laßt uns kürzlich miteinander erwägen; und der Herr sei segnend in unsrer Mitte!

I.

Ein Lager sieht der apostolische Gottesmann im Geist. Es ist das Lager nicht, über welches Bileam einst in die unwillkürliche Lobpreisung ausbrach: „Wie fein sind deine Hütten, Jakob, und deine Wohnungen, Israel! Der Herr sein Gott ist bei ihm, und das Drommeten seines Königes unter ihm!“ Ach nein, ein Andrer, als dieser König, theilt dort die Parole aus. Allerdings redet Paulus zunächst zu Gläubigen, und versteht diesen gegenüber unter dem Lager das irdische Jerusalem, als den Sitz und Mittelpunkt der alttestamentlichen Haushaltung. Sie sollen, will er, ihre Seligkeit nicht mehr im Dienste des Gesetzes und der Ceremonien suchen. Die levitischen Bräuche seien nur Mahnungen an die zu sühnende Sünde und wirkungslose Schatten des zukünftigen Heils; und auf dem Wege der Gesetzeswerke erarbeite man sich wohl Schuldgefühl und Fluch, aber keinen Frieden. Darum habe man darauf Verzicht zu leisten, an der Hand und in den Ordnungen Mosis gerecht werden und zu Gottes Gunst, Wohlgefallen und Gemeinschaft gelangen zu wollen. Vielmehr gelte es, das Lager der alten Kirche, in der der Sinai donnere, und die Seligkeit nur der persönlichen Vollkommenheit in Aussicht stehe, zu räumen, und seine Zuflucht zu dem zu nehmen, der vor dem Thor (d.h. nicht blos buchstäblich: außerhalb der Mauernder Tempelstadt, sondern vor Allem: in einer von dem levitischen Opferwesen und Priesterthum wesentlich verschiedenen Weise), das Volk geheiligt habe durch sein eignes Blut. - Es hindert uns aber nichts, den Begriff des „Lagers“ in unserm Texte auch noch weiter auszudehnen. Ja, das Lager ist zugleich die im Argen liegende Welt mit ihren zahlreichen Schatzungen und weilen Grenzen. In einer großen Mannigfaltigkeit der Gruppen treffen wir hier die Menschen vereinigt, welche die Schrift kurz und bündig als Solche bezeichnet, die „ohne Gott und Hoffnung seien in der Welt.“ Irret euch aber nicht, Geliebte, die schwarzen Zelte unter der frech entfalteten Satansfahne, die euch dort zuerst in den Gesichtskreis treten, bilden lange nicht das ganze Lager. Neben jener völlig entsittlichten Brut, welche das Brandmal ihrer Schande offen an der Stirn trägt, neben der wüsten Rotte, in der die Abneigung gegen das Heilige zum bittern Haß, der Unglaube zur Atheisterei, die Unsitte zur Schamlosigkeit sich steigerte; neben den Lästerern, Meineidigen, Verräthern, Ehebrechern überblickt das Auge des Apostels noch ganze Massen andrer Gattung und Gestaltung. Auch euch erblickt er in dem Lager, ihr, bei ziemlich sittlicher Erscheinung nach außen hin, ganz dem Diesseits Verfallenen, die ihr mit der Sorge eures Herzens über das „Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden?“ kaum je hinauskommt. Auch euch, ihr in den Dienst der Eitelkeit Verstrickten, die ihr vor tausend kleinen Götzen eure Kniee beugt, aber auch nicht im Traume daran gedenkt, eine Einigung eurer Seele mit dem Gott aller Götter anzustreben. Auch euch, ihr Gleichgültigen und geistig Erstorbenen, denen, was sonst auch eure Theilnahme erregen mag, das Heilige so fern vom Herzen abliegt, daß ihr den öffentlichen Gottesdienst, wenn ihr ihn noch wahrnehmt, nur als eine Parade behandelt, und euch kaum bewegen lasset, beim gemeinsamen Gebete die Hände zu falten, geschweige selbst zu beten. Auch euch, ihr Jünger und Jüngerinnen einer eben so gottlosen als abgeschmackten Aufklärung, die ihr mit keiner Afterrede zwar, mit keiner Unwahrheit, ja vielleicht nicht einmal mit einem frivolen Scherze, wohl aber mit dem Namen Gottes eure Lippen zu beflecken glaubt, weshalb ihr auch diesen Namen sorgfältig mit den sinnlosen Bezeichnungen: „Der Himmel“, „das Schicksal“ u. s. w. zu umschiffen pflegt; ja, die ihr es einem Verstoß gegen den Anstand gleich zu achten scheint, herzhaft in den kirchlichen Bitt- und Lobgesang der versammelten Gemeine mit einzustimmen. - „Nun hier“, höre ich sagen, „wirst Du wohl bei der Grenze deines Lagers angekommen sein?“ Von meinem Lager, Freunde, ist hier zuvörderst überhaupt nicht die Rede, sondern von demjenigen, das dem Apostel vor Augen schwebt; und das erstreckt sich weiter, weiter noch. Ja, das begreift in sich auch euch, ihr grob oder fein pharisäisch Gerichteten, die ihr wähnt, unter eigner Flagge die große, ernste Fahrt zur Ewigkeit unternehmen zu können, und euch einbildet, das „Spinnengewebe“ eurer armseligen Tugend tauge zu dem „Kleide“, das am großen Tage der Offenbarung eure Blöße decke; auch euch, ihr Ebenbilder jenes reichen Jünglings im Evangelium mit dem ebenso kecken als seichten: „Das habe ich Alles gehalten von Jugend auf; was fehlet mir noch?“ - auch euch, die ihr das belobigende Zeugniß, welches kurzsichtige Menschen euch ertheilen, mit süßer Befriedigung als die Akte eurer Rechtfertigung vor Gott an eure Brust drückt; und - fast wehe thut es mir, daß ich es sagen muß, - auch euch, ihr liebenswürdigen Seelen, die ihr so treuherzig über das „gute Herz“, das in euerm Busen schlage, euch selber rühren, und wenn euch ein Mittler angeboten und empfohlen wird, so kindlich arglos fragen könnt, was euch ein Mittler solle, die ihr schon für euch selbst zu stehn gedächtet. Seht, euch Alle, Alle, die ihr unverändert die Natur noch an euch tragt, welche ihr, „Fleisch vom Fleisch geboren“, mit in die Welt gebracht, wie immer ihr sie auch sittlich, künstlerisch oder gesellschaftlich schmücktet und schminktet; euch Alle, die ihr, statt nach Vermittelung zu dürsten, auf eigner Wurzel grünen, statt die Notwendigkeit einer durchgreifenden Erneurung eures ganzen Wesens anzuerkennen, euer eigen Leben behalten wollt: euch schließt der Apostel mit in das Lager ein, aus dem er im Namen Gottes wie mit durchdringendem Posaunenhall zum Aufbruch bläst.

Und wie sollte er nicht zum Aufbruch rathen? In diesem Lager ist's ja nicht geheuer. Laßt euch nicht täuschen durch die Freudenkerzen, deren Licht von Zeil zu Zeit darin aufblitzt, noch durch den lustigen Lärm, der es dann und wann durchschallt. Fürwahr! es darf kein Bleibens für euch in diesem Lager sein, wenn euch eurer Seele Heil und Seligkeit am Herzen liegt. Denn nicht allein waltet hier nicht die reine vom Egoismus abgelöste Liebe, die die Seele der Gerechtigkeit ist, die vor Gott gilt; nicht allein beglückt der Friede Gottes hier kein Herz, der die Feuerprobe jeder Noth, und selbst des Todes aushält; nicht allein wohnt hier nicht jene Hoffnung, die Strahlen des Jenseits in das trübe Erdendasein webt, indem vielmehr der Schmerz hier ohne das Geleit göttlichen Trostes geht, und die Pein erfahrener Täuschung durch keinerlei himmlischen Ersatz hier gemildert wird: - hier verklagt auch noch die ungesühnte Sünde, und es hängt noch das Schwerdt in dieses Lager herab, welches die Inschrift trägt: „Verflucht sei Jedermann, der nicht bleibt in Allem, das geschrieben steht im Buche des Gesetzes, daß er es thue;“ es schwebt über diesem Lager noch wie eine drohende Wetterwolke das apostolische Wort: „Wie wollen wir entfliehen, so wir eine solche Seligkeit nicht achten?“ und der Tod umschleicht es nicht als Friedensbote, sondern noch als Schreckenskönig, „dessen Gewalt“, nach dem Ausdrucke der Schrift, „der Teufel hat.“ -

II.

Heraus denn mit Sinn und Wandel aus diesem Lager, in dessen Grenzen sich, in welcher Mannichfaltigkeit der Bildungsformen auch, die Welt bewegt, im Blick auf welche der Herr bezeugte: „Ich bete nicht für sie!“ Heraus aus der inneren Gemeinschaft des Geschlechts, das der Apostel meinte, da er den Corinthern schrieb: „Wenn Gott uns züchtigt, so geschieht's, damit wir nicht mit der Welt verdammet werden!“ Heraus aus der geistigen Todesatmosphäre des Volkes, ans welches das Wort paßt: „Der Herr konnte daselbst kein Wunder thun, denn sie glaubten nicht an Ihn!“ O, in welchem großartigen Chore schlägt dies „Heraus!“ an unser Ohr! Es rufen's mit lautem Munde alle Propheten und Apostel. Von Zion's Mauern rufen's Jahrhunderte hindurch die ehrwürdigen Väter der Kirche. Es rufen's vom Himmel herab die vollendeten Gerechten, die schon überwanden durch des Lammes Blut; und über Tabors Höhe, - ihr vernahmt es ja, - rief er, der ewige Vater selbst, es in die Welt hinein. Und lauscht in euer eigen Leben, lauscht in das Gemurmel eures schlafwachen Gewissens, und dann in das Rauschen des unaufhaltsamen Stunden- und Tagesflugs über euch hinein, aus welchem wie Todtenglockenlaut der Klang euch antönt: „Wir haben hier keine bleibende Stadt;“ und sagt, vernehmt ihr nicht auch hier schon etwas wie dumpfen Trommelwirbel, der an Aufbruch aus dem Lager mahnt, in dem ihr bisher euer Wesen hattet? - „Aber wohin gilt's aufzubrechen? - Freunde, der Sammelplatz ist euch göttlich bezeichnet. Scheut nicht vor ihm zurück. Es ist ein Ehrenplatz, an dem ihr die Edelsten und Besten aller Zeiten und aller Völker vereinigt findet. „Lasset uns zu ihm hinausgehn!“ ruft der Gottesherold in unserm Texte. Und schauet euch nur um, die Hermen und Wegesäulen, die Gott der Herr selbst in den vier Jahrtausenden vor unserer Zeitrechnung durch die Hand der Patriarchen und Propheten uns an die Straße pflanzte, weisen sämmtlich in dieselbe Richtung, und tragen alle dieselbe Inschrift: „Zu Ihm, zu Ihm!“ - „Zu Ihm? Zu wem?“ Auch diese Frage findet, und zwar in dem unserm Texte unmittelbar vorhergehenden Worte, ihre Erledigung. Dies Wort lautet: „Darum auch Jesus, auf daß er heiligte das Volk durch sein eigenes Blut, hat er gelitten außen vor dem Thor.“ - „Wie“, höre ich euch sagen, „zu der Martergestalt im Dornenkranze dort? Zu dem Manne mit dem Eli, Eli Lama sabachtani auf der Lippe?“ - Ja Freunde, zu Ihm, der aber trotz Welt und Hölle gegenwärtig auf dem Stuhle der Majestät sitzt, und dem je länger, je mehr vor unsern Augen das Wort der Verheißung gehalten wird: „Heische von mir, so will ich dir die Heiden zum Erbe geben, und der Welt Ende zum Eigenthum!“ - „Wie“, wird mir entgegnet, zu dem Nazarener, an den kaum Einer unsrer Obersten mehr glaubt, und den die Wissenschaft längst entthront hat?“ - Allerdings, zu dem; der aber, in erhabener Majestät die sogenannte Wissenschaft der blinden Maulwurfsgeister am Schemel seiner Füße ignorierend, in unsern Tagen nur um so glänzender sein Königthum entfaltet, indem er jenseits der großen Meere, mit Feuer taufend, sich Land um Land erobert, diesseits aber, wie ihr mit Händen greift, „mitten unter seinen Feinden herrscht“, und entscheiden^ der, als es mit Worten geschehen könnte, durch die Figura der von ihm abgewichenen Welt den Beweis führt, daß ohne Ihn Niemand zum Vater komme, Niemand Frieden habe, ja, Niemand ohne Ihn wahrhaft lebe, und außer Ihm und Seiner Gemeinschaft die Wüste sei.

Hört! Gottes Wille und Veranstaltung ist es, daß die sündige Menschheit nur in Christo und durch Ihn ihrem Verderben entrissen werde, und zum Ziel ihrer Bestimmung, der Seelen Seligkeit, gelange. Wüßten wir nun weiter nichts, als eben nur das, daß es Gott dem Allgenugsamen beliebte und geziemete, diese Ordnung unsrer Wiederbringung fest zu stellen, so hätten wir, wollten wir nicht muthwillig den Fluch an uns fesseln, blindlings dieser gottgewollten Heilsanstalt uns zu unterwerfen. Nun aber hat es dem heiligen Geist gefallen, auch die innersten Gründe des göttlichen Heils-Rathschlusses uns aufzudecken. Wir wissen: die ewige Gerechtigkeit forderte, damit die Liebe zu ihrem Gnadenwalten freie Hand gewinne, Sühnung der Sünde. Wir Sünder bedurften der Vermittelung, wir Entarteten der Erneurung zum Bilde Gottes.

Christus sühnte, Christus vermittelte; und auch unsre Wiedergeburt zu dem Leben, das in Gottes Augen allein für Leben gilt und zum Himmel befähigt, vollzieht sich nur in der lebendigen Glaubensgemeinschaft mit demselben Christus. So ist Er der schlechthin Unentbehrliche für Alle, und ohne Ausnahme Aller einiger und alleiniger Retter; nämlich dem Vermögen nach; der Wirkung nach hingegen nur derer, die unter Wegwerfung aller anderweitigen Stützen und Krücken mit einem: „Herr Jesu, erbarme dich meiner!“ in seine Arme stürzen. Begreift ihr nun das Dringende und das Ausschließliche in dem: „Heraus zu Ihm!“ Er ist's. Das Verhältniß, in das wir zu Ihm uns stellen, entscheidet für immer über unsres Lebens Zukunft. Wohlan denn, wer unter euch seine Seele lieb hat, und dem zukünftigen Zorn entfliehen will, der wache unter dem apostolischen Signalruf vom Schlafe seiner Sicherheit auf! Nein, nicht länger dich besonnen, Freund, nicht ferner dich mit Fleisch und Blut berathen; sondern ungesäumt an deine Brust geschlagen, das Lager der vom Taumelkelch der Lügen Trunkenen geräumt, - und dann? -

Schau hier das Wunderzeichen aufgerichtet,
Das allen Sündern zur Erlösung steht;
Zu dem viel tausend Geister sich verpflichtet;
Zu dem viel tausend Herzen warm gesteht!
Umfaß' auch Du's, und habe ewig Ruh'!
In diesem Zeichen überwindest Du.

III.

Graut euch vor diesem Wege? Nun, was ihr insgeheim befürchtet, trifft wirklich zu. Hört den Drommetenbläser in unserm Text. „Lasset uns“, ruft er, „zu Ihm hinausgehn außer dem Lager und seine Schmach tragen!“ - Ja, die Welt fährt fort, Christum in seinen entschiedenen Parteigängern und lebendigen Gliedern mit Dornen zu krönen, und zu geißeln; und das Petrinische Wort gilt auch heute noch: „Das befremdet sie, daß ihr nicht mit ihnen laufet in dasselbe wüste, heillose Wesen, und darum lästern sie.“ Aber was ist's, genauer besehn, - um die Schmach, die wir etwa um Christi willen zu erleiden haben? Macht der Fahnenschwur zum Banner des Kreuzes in der That verächtlich? Beeinträchtigt er die Würde des denkenden, des charaktervollen Mannes? Ich meine, nimmer entehre das den Mann, daß er die Sünde, die er an sich entdeckt, mit dem rechten Namen benenne, und dann, neben der Thräne der Trauer über die durch sie Gott zugefügte Schmach, den Blitz eines heiligen Ergrimmens wider sie im Auge, ihre Fessel breche, und dieselbe mit Unmuth von sich schleudre; aber das entehre den Mann, daß er wider besseres Wissen und Gewissen sich selbst belüge, als habe er keine Sünde, und die Sünde heuchlerisch beschönige, und ein elender Knecht und Sclave derselben bleibe. Ich meine, das sei nicht schmählich für den Mann, daß er sein verfehltes Leben, nachdem er es mit dem Ideal der göttlichen Forderungen bemessen, unverhohlen verdamme, und dann, durch die Buße sich erneuernd, in höheren Bahnen einen neuen Lebensansang mache; aber schmählich sei es, feige vor der Wahrheit, wie vor der Mühe solch neuen Anlaufs zurückeschrecken, und, um dem Stachel der ersteren und der Unbequemlichkeit der letzteren auszuweichen, sich geflissentlich die Augen verhängen, um nur ungestört in den alten niedern Gleisen fortzuschleudern. Ich erachte, darin liege nichts Verächtliches für den Mann, daß er, von dem eigenen Unvermögen, die vor Gott gehäufte Schuld zu tilgen, überführt, es dankbar auf den Knieen annehme, daß Gott ihm die alte Rechnung streiche, und in Christo ihn befähige, nunmehr zum Ziele einer vollkommenen Heiligung und der höchsten Menschenwürde zu gelangen; aber unehrenhaft im höchsten Grade sei es, nicht allein, bei geschlagenem Gewissen, hartnäckig seine Schuld zu leugnen, sondern auch, unbekümmert um höhere Strebeziele, mit der sittlichen Mißgestalt, in der man einhergeht, sich behaglich zufrieden zu geben. Ich halte dafür, das schände nimmermehr den Mann, daß er die göttlich dargebotene Rüstung, die ihn zum Herrn über Welt, Tod und Teufel macht, sich gerne gefallen lasse, und freudig seine Brust mit derselben gürte; aber über die Maßen bejammernswürdig sei das sich ohne Gottes und Christi Zuthat schon für hinlänglich gerüstet zu erklären, während Einem doch vor Aller Augen die Welt den Fuß auf dem Nacken, der Fürst der Finsterniß die Schlinge um den Hals hat, und schon die entfernte Erscheinung des Todes See! und Leib wie Espenlaub erzittern macht. Nein, Schmach den Söhnen des Unglaubens, den Fesselträgern des Zeitgeistes, den gedankenlosen, in eitel Lug und Trug verstrickten Nachtretern blinder Blindenführer; aber wahrlich nicht dem Jünger der „Weisheit von Oben“, dem Kinde der Wahrheit, dem Schauer der göttlichen Geheimnisse, und dem Nachfolger des Schönsten der Menschenkinder! -

Dennoch wird sie ihn treffen, diese Schmach, wie unverdient und ohne Grund auch immer. „Wer mein Jünger sein will“, spricht der Herr, „der nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!“ - Doch was verschlägt's? Hört den Apostel: „So lasset uns nun zu ihm hinausgehn“, ruft er, und fügt dann mit freudigem Trotze, als begehre er von der Welt nichts Anderes, hinzu: „und Seine Schmach tragen!“ Hierauf lüftet er seinen Angeworbenen die Schleier der Zukunft, und eröffnet ihnen, o, welche Aussicht! „Denn“, ruft er, den innersten Grund seiner Leidensfreudigkeit enthüllend, aus, „wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“, (d. i. wir streben ihr zu, und werden sie erreichen.) Als auf dem Marsch Begriffene lehrt uns also der Apostel uns anschaun; als von dannen Eilende, die in allen irdischen Verhältnissen nur vorübergehend wie auf Reisestationen weilen. Ja, von weilen ist für uns überhaupt die Rede nicht. Mit jeder Sekunde schreiten wir fürder. Und das Ziel der Reise? - Es ist die Stadt, die „einen Grund hat, und deren Schöpfer und Baumeister Gott ist“; die Stadt, „die der Sonne und des Mondes nicht bedarf, denn das Lamm ist ihre Leuchte“; die Stadt, welche zum Sammelplatz alles wahrhaft Großen, Herrlichen und Schönen verordnet ist, was je der Geist des Herrn, dieser erhabene und kunstfertige Bildner aus der Höhe, auf Erden in's Dasein rief. Auf solcher Wanderung denke ich, wird sich das kurze Nachtquartier auch des mühevollsten und schmachbedecktesten Erdensdaseins schon verschmerzen lassen. Angesichts solcher Perspektive richtet man sich schon ein, schickt man sich schon, und läßt sich genügen. Täglich kürzt sich ja der Weg, und von Stunde zu Stunde rückt man dem ersehnten Zielpunkt näher, da jeder Mißton unseres Lebens seine harmonische Lösung findet, und über der gegenwärtigen nimmer endenden Freude der Schmerzen und Schmach von Ehemals leicht vergessen wird. O wohlan denn, brecht auf aus dem Lager, dessen Zelte gleich denen der Rotte Korah am Rande schauerlicher Abgründe stehen. Schaart euch mit uns um Christi Kreuzesfahne, schließt euch unserm stillen Wanderzuge an, und was immer uns betreffe, fort und fort erklinge in unserm Herzen, Furcht und Sorge scheuchend, ähnlicher Klang, wie er in den bekannten Liedeslauten wiedertönt:

Ich hab' von ferne, Herr, Deinen Thron erblickt,
Und hätte gerne mein Herz vorausgeschickt,
Und hätte gerne mein müdes Leben,
Schöpfer der Geister Dir hingegeben. -

Ich bin zufrieden, daß ich die Stadt gesehn,
Und ohn' Ermüden, will ich ihr näher gehn,
Und ihre hellen, goldnen Gaffen
Lebenslang nicht aus den Augen lassen! - Amen

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