Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Annäherungsstufen zum Reiche Gottes.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Annäherungsstufen zum Reiche Gottes.

Predigt über Marcus 12,28-34.

Marc. 12,28-34.
Und es trat zu ihm der Schriftgelehrten einer, der ihnen zugehöret hatte, wie sie sich miteinander befragten, und sah, daß er ihnen fein geantwortet hatte, und fragte ihn: Welches ist das vornehmste Gebot von allen? Jesus aber antwortete ihm: Das vornehmste von allen Geboten ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist ein einiger Herr; und du sollst den Herrn deinen Gott lieben von ganzem Herzen, und von ganzer Seele, und von ganzem Gemüthe; und von allen deinen Kräften. Das ist das vornehmste Gebot. Und das andere ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. Es ist kein ander größer Gebot, denn diese. Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Wahrlich, Meister, du hast recht geredet; denn es ist Ein Gott und ist kein anderer außer ihm. Und denselbigen lieben von ganzem Herzen, von ganzem Sinn, von ganzer Seele und von allen Kräften, und lieben seinen Nächsten, als sich selbst, das ist mehr, denn alle Brandopfer und Schlachtopfer. Und da Jesus sah, daß er vernünftig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht ferne von dem Reiche Gottes. Und es wagte ihn Niemand weiter zu fragen.

Es ist wahr, theure Freunde, man darf einen Ungläubigen nicht eher verdammen, bis ihm das Christenthum so gepredigt worden ist, wie Christus selbst und die Apostel es predigten. An solcher Predigt aber ist kein Ueberfluß, auch in unsern Tagen nicht. Selbst bei denen wird sie nicht selten vermißt, deren Rechtgläubigkeit kaum etwas zu wünschen übrig läßt. Da predigt man bald dogmatisches System statt Gottes Wort. Bald klimpert man, anstatt die volle Harmonie der evangelischen Wahrheit ertönen zu lassen, nur immer auf einzelnen Saiten derselben herum. Bald behandelt man, den Berg der Seligkeiten in einen neuen Sinai verkehrend, das Evangelium wieder als ein Gesetz, indem man, statt durch die Entfaltung seiner Herrlichkeit zu locken und zu gewinnen, unablässig nur das Cherubschwerdt des Fluches denen vorkehrt, die dies und jenes noch nicht glauben können. Bald übersieht man das Wort des Propheten: „Zertritt es nicht, es ist noch ein Segen darin“, oder das Wort des Herrn: „Wer nicht wider mich ist, ist für mich“, und weiß nur von Kindern Belials und Kindern Gottes, und verkennet die Uebergangszustände, die als Erzeugnisse der vorbereitenden Wirkung des Heiligen Geistes in mannigfaltigen Erscheinungsformen zwischen jenen beiden Sphären in der Mitte liegen. Wir, die wir das Paulinische „Nicht daß wir Herrn seien über euren Glauben, sondern wir sind Gehülfen eurer Freude“, in unsern Wappenschild geschrieben haben, beten, daß Gott uns nach allen Seiten hin vor jenen Mißgriffen behüten möge, und freuen uns, in Christo Freiheit und Herzensweise genug gewonnen zu haben, um auch einmal ein Wort herzlicher Liebe und aufrichtiger Anerkennung zu denen reden zu können, die wir nach dem Vorgange des Herrn mit dem Namen der „Nicht Fernen vom Himmelreich“ bezeichnen wollen. Wir täuschen uns sicher nicht in der tröstlichen Annahme, daß sich solcher eine große Zahl unter unsern Zeitgenossen, und auch in unserer Mitte befinden werde. Der Annäherungsstufen zum Reiche Gottes aber bemerke ich sonderlich drei. Ich bezeichne sie 1) als diejenige der sehnsuchtsvollen Ahnung der höheren Welt; 2) als diejenige der klaren Einsicht in des Menschen sittliche Bestimmung; und endlich 3) als diejenige der heiligen Trauer über den Abstand zwischen der Wirklichkeit und dem Ideal.

Treten wir diesen drei innern Lebensstufen betrachtend näher, und begleite der Herr uns mit seinem heiligen Geiste!

1.

Wir treffen den Herrn zu Jerusalem. Er ist sich bewußt, daß für ihn „die Nacht, da“, wie er sagte, „niemand mehr wirken kann“, nahe herbeigekommen ist. Um so mächtiger und heller läßt er zu guter Letzt noch einmal sein Licht in die Finsterniß leuchten. Tiefe, gehaltvolle Reden, zunächst an versuchende Pharisäer und Sadducäer gerichtet, strömen von seiner Lippe. Von dem Weinberge seiner Kirche spricht er, dann von sich, als dem Stein, den zwar die Bauleute verworfen hätten, der aber zum Eckstein werden würde, und zuletzt von der Auferstehung der Todten, und dem Wesen des zukünftigen Seins. Und was er davon redet, tritt in einer Fassung und Rüstung auf, welche auch die Gegner zum Verstummen nöthigt. Unter seinen Zuhörern gewahren wir aber Einen, der schon durch seine ganze Haltung unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Wenn nicht alle Züge seiner äußeren Erscheinung trügen, so hört der schon mit ganz andern Ohren, und empfindet mit ganz anderem Herzen, als alle Uebrigen, die den Herrn umgeben. Schon lange hat er schweigend dagestanden, den Ausdruck tiefen Sinnens auf der Stirn, den Wiederschein eines heiligen Sehnens in den Blicken. Freilich, ein Schriftgelehrter ist auch er; aber einer, in welchem der Prophet zu Worte kam, der, wach oder schlummernd, frei oder gebunden und verkerkert, in jedem Menschen wohnt und sein Wesen hat.

„Ein Prophet“? – „Was bezeichnest du mit diesem Namen?“ – O, schauet euch nur um in der menschlichen Gemüthswelt, und dieser eigenthümliche Gast wird euch bald begegnen. Der Verstand, der nüchterne, heißt ihn wohl öfter schweigen. Aber immer kommen wieder Zeiten, wo der momentan gedämpfte Prophet im Triumph über den Nacken des Verstandes hintritt, und letzterer selbst sein Wunder an ihm sehen muß. Der Prophet ist eine sehnsuchtsvolle Ahnung, die wie ein himmlischer Engel unter staubgeborenen Geschöpfen unter den Alltags-Gedanken und Empfindungen, welche unablässig das natürliche Herz durchkreuzen, sich geltend macht. Eine Ahnung, die wie ein unruhiges Kind an dem Vorhand zupft, hinter dem sie noch eine andere Welt, als diese irdische, verborgen wittert, und die, man mag es ihr wehren wollen, oder nicht, aus dem Stückwerk in ein Vollkommenes, aus dem Bereiche des Vergänglichen in ein Unsterbliches und Ewiges hinüberdeutet und hinüberdürstet. Allerdings ist das Geschlecht unserer Zeit ein gar sehr auf’s Irdische gerichtetes, und in tausend unserer Zeitgenossen mag wohl jene Prophetenstimme in der Wüste kaum mehr vernommen werden. Aber verstummte sie in Tausenden, so doch lang nicht in Allen, die noch auf dem breiten Wege wandeln; und verklang sie in jenen für einen Augenblick, so verklang sie in ihnen doch nicht für immer. Ehe sie sich’s versehen, kann sie sich mitten unter ihrem eitlen Dichten und Trachten wieder mächtiglich erheben. In allerlei Formen pflegt sie sich zu offenbaren. Sonderlich sind es die häufig eintretende Zustände, in denen sie ihr Dasein kundgiebt, ihr Leben bethätigt.

Den ersten dieser Zustände nenne ich den des unbewußten Heimwehs nach dem verlorenen Paradiese, und denke hiebei an euch, ihr oft so seltsam Trauernden in fröhlichen Stunden, ihr so schwer Athmenden bei scheinbar heiterster Stimmung. O sagt, was ist es, daß ihr oft mit einem Male so nachdenkend und gesenkten Haupts und Blicks dahin geht. Kein Unglück hat euch betroffen, keine bewußte Sorge wälzte sich auf euer Herz. Ihr habt Alles, was von den Gütern der Erde ihr begehren möchtet; und doch, welche wunderbare Wehmuth, die euch zu Zeiten plötzlich überfällt, ja vielleicht gar in Momenten euch beschleicht, wo die Festeskerzen der Welt am hellsten euch umstrahlen. Diese Wehmuth, die vielleicht unter den Blüthenbäumen des voll prangenden Frühlings, oder im stillen Glanze einer Mondnacht, oder Angesichts einer entzückenden Aussicht ins Weite, sich euch beigesellt, und manchmal selbst, wenn ihre eure Kinder, die Lieblinge, an euer Herz drückt, euer Auge mit dem Thau der Thränen feuchtet, - was ist sie? Ist sie nur eine Trauer nach der Welt, aus dem Bewußtsein geboren, daß Alles, auch das Beglückendste, der Vergänglichkeit unterworfen sei? Ist sie ein stiller Schmerz nur, den die Erinnerung in euer Herz senkt, daß auch der lieblichsten eurer irdischen Edengärtlein ein Winter harrt, an dessen Eiseshauche ihre holden Blüthen ersterben werden? Mag sie theilweise auch dergleichen sein; gewiß ist sie in ihrer innersten Tiefe ein Edleres, ein Besseres. Sie ist das erwachende Gefühl der Seele, daß sie bei Allem, was ihr hienieden Gutes widerfahre, doch nicht hier zu Hause sei, sondern in der Fremde weile. Sie ist die auftauchende Erinnerung des gefallenen und gebannten Königs an die verlorene Herrlichkeit, die er in seinem unsterblichen Urahn einst besessen. Sie ist des Menschen, wenn gleich unverstandener, Schmerz, aus der Welt des Wahren, des Vollkommenen und Unverwelklichen, von welchem das Schönste unter dem Himmel nur eine leise, duftige Luftspiegelung ist, in die Welt der Schatten, des Stückwerks und der Vergänglichkeit sich hinabgebannt zu sehn, und ach, sein Sehnen nach jener Welt zurück, wo Alles wesenhaft, in Verklärung getaucht, und mit dem Stempel der Ewigkeit geprägt ist.

Seht, dies der innerste Kern jener geheimnißvollen Trauer eurer Seele. Ich denke, ihr lernt dieselbe heute oder morgen selbst verstehen, und wie lange wird’s dann währen, und auch ihr liegt Christo in den Armen. Nein, ihr seid nicht ferne mehr von Ihm und seinem Reich. Er allein ist es, der euch fehlt. Seine Heils- und Hoffnungsschätze sind es, wonach, euch selber unbewußt, euer innerstes Gemüthe schmachtet. Sie allein werden im Stande sein, die Herzensbefriedigung euch zu gewähren, deren Mangel ihr in jenem dunkeln, räthselhaften Licht- und Friedensreichs euch wissen; und ein solches Reich ist eben das, welches als Emblem das Kreuz von Golgatha in seinem Banner trägt.

Eines andern Zustandes gedenke ich. Wie soll ich ihn bezeichnen? Ich nenne ihn den der verwaisten Liebe. Der eurige ist’s, ihr stillen Träumer, denen, seitdem euch dieses, jenes Herz im Tode brach, diese Welt nur Einöde ward, und die ihr kaum nur halb noch in der Wirklichkeit lebt, indem ihr meist in wehmüthig träumendem Geiste bei den Bildern derer weilt, die nicht mehr sind. Ihr tief Vereinsamten mitten im Menschengewühl, das euch umgiebt; Fremdlinge ihr in der Welt, mit dem umflorten Blick immer nur der Vergangenheit, nur den Gräbern zugewendet, und mit dem nimmer verhallenden Seufzer in der Brust: „Was blieb mir auf Erden, um deßwillen ich mich des Lebens noch sollte freuen können?“ – ihr also Gestimmten, die ihr, dem Paradiesvogel gleich, schlummernd und träumend über den Höhen der Erde dahinschwebt, wie nahe seid auch ihr dem Reiche Gottes! Wäre doch dieses Reich für euch die rechte Sphäre! In ihm fändet ihr ja nicht allein eine ebenso reine und innige Liebe wieder, wie sie euch einst beglückte; nicht allein würdet ihr in ihm einem Freude begegnen, der Alles, was euch entrissen ward, in seiner eigenen Person euch reichlich ersetzen würde; in ihm würden euch sogar auch die Hingeschiedenen, die unvergeßlichen, um die ihr nicht ablaßt zu trauern, selber zurückgegeben, und zwar in der festen Glaubenszuversicht zunächst, zu der ihr hier gelangt, daß sie euch nicht verloren, sondern nur zeitweilig, als in einer andern Kammer wohnend, durch einen leichten Vorhang von euch geschieden seien, und dann sogar, vielleicht schon heute oder morgen, in ihrer wirklichen, leibhaftigen, persönlichen Erscheinung. O kommt herein, kommt herein, in das stille, lichte Hoffnungsreich des Herrn! Doch ihr werdet ja noch kommen; wir hoffen’s sicher. Das edle Bedürfniß, das euch bewegt, ist ja schon der Stern, der euch lockend und ladend in dies Reich hineinweist. O, sobald ihr nur halbwege zu ahnen anhebt, was Alles dieses Reich in sich beschließe, so kommt ihr; denn auch euer Herz gelangt nur hier zur Ruhe. Wohl Manchen unter euch ging bereits jene Ahnung auf; von diesen aber sagen wir mit verstärktem Nachdruck: „Sie sind nicht ferm vom Reiche Gottes.“

Einen dritten Zustand bezeichnen wir als den einer noch unverstandenen Rührung dem Evangelium gegenüber. Von gar Manchen auch unter euch ist leider! noch nicht zu rühmen, daß sie dem Herrn leben und seines Reiches Kinder sind. Ach, die Welt ist noch ihr Element, der Welt Tand das Gesuch ihres Herzens. Ihr Nachen triebt noch mit dem großen breiten Strom, und die Ewigkeit ward noch nicht zum Gegenstand ihrer Sorge. Und dennoch, so oft das Evangelium mit seinen tiefen Sprüchen, und sonderlich mit seinen lieblichen Geschichten ihnen nahe tritt, mit diesen Geschichten voller Sonnenschein der ewigen Liebe, voller Wiederglanz der himmlischen Welt, voller Klarheit und Tiefe, Majestät und Leutseligkeit zugleich, so bewegt sich ihnen wundersam das Herz, und es wird ihnen zu Muthe, als ständen sie vor dem verschlossenen Gitter eines Gartens, in dem es doch noch viel schöner sei, als in dem schönsten Lustreviere dieser Welt, und als fühlten sie sich zu den Grenzen einer Sphäre hinaufgetragen, gegen deren Harmonien die süßesten Akkorde der Erde nur wie Mißklang tönten. Der Prophet in ihrem Innern meldet sich, und ruft ihnen zu: „Die Schuhe von den Füßen; denn die Stätte, da ihr steht, ist heilig Land!“ O wünschen wir ihnen Glück zu der Thränenperle, die sich in ihr Auge drängt! Das Organ für Göttliches verrottete in ihrem Innern noch nicht. Sie sind nicht fern vom Reiche Gottes. Deute ihnen nur der Heilige Geist das Geheimste ihres dunkeln Empfindens, und lege er ihnen in klaren Gedanken nur auseinander, was der Prophet ihres Herzens ihnen flüsternd zuraunt, und bald werden wir auch sie wenigstens in der Reihe derjenigen erblicken, die sehnsuchtsvoll mit einstimmen in den Ausruf jenes Mannes im Evangelium: „Selig ist, wer das Brod isset im Reiche Gottes!“

Eines vierten Zustandes gedenke ich endlich. Es ist derjenige Unzähliger in unsern Tagen. Ich nenne ihn den der Jeremiastrauer, nicht auf den Trümmern eines irdischen Jerusalems, sondern auf denen der ganzen höhern überirdischen Welt. Ich habe hier nicht die Leute im Auge, die selber religionslos, um den Verfall der religiösen Gesinnung im Volke nur deshalb jammern, weil sie zur Einsicht gelangen, daß dieser beklagenswerthe Umstand sie mit ihren Gütern, Würden, ja ihrer ganzen Existenz an den Kraterrand eines Vernichtung drohenden Vulkanes versetze. Mir schweben vielmehr die edleren Seelen vor, die zwar auch vom Glauben verschlagen sind, in denen aber jetzt mit einem Male gleichfalls durch den Gegensatz der extremen Gottlosigkeit der Zeit der Prophet, der im Menschen höher hinaufweis’t, aus jahrelangem Schlaf geweckt wird. Ich rede von denen, die vor den schauerlichen Lehren, welche, den Stempel ihres dämonischen Ursprungs an der Stirn, sich keck und immer kecker an’s Licht des Tages wagen, und geradezu den persönlichen Gott, des Menschen höhern Beruf und die persönliche Unsterblichkeit verneinen, entsetzt zurückbeben, und mit Bestürzung zu dem Bewußtsein erwachen, daß, wenn die himmlische Welt über der Erde ihr Auge schlösse, es kaum mehr der Mühe werth wäre, geboren zu sein, und daß in der That mit der Ahnung und Hoffnung des Ueberirdischen und Jenseitigen der beste, ja einzig wesentliche Inhalt aus dem Menschenleben schwinden würde. Es graut ihnen, wenn sie sagen hören, das Jenseitige sei nichts, als ein Traum und eitler Wahn, und der Tod mache es gar aus mit dem Menschen; nicht das menschliche Individuum, nur die Gattung daure fort. Es wird ihnen dabei, als gingen plötzlich Sonne, Mond und Sterne über ihnen unter, und tiefe Grabesnacht umgraute die Welt. Seht, so meldet sich auch hier noch der verborgene Prophet; und auch diese über den kolossalen Abfall des gegenwärtigen Geschlechts Bestürzten, und von Graus und Schrecken ob des drohenden Untergangs aller höheren Beziehungen des Menschenlebens Uebermannten, sind, ob sie auch das Malzeichen der Reichsbürgerschaft Immanuels noch nicht an ihren Stirnen tragen, wenigstens “nicht ferne mehr vom Reiche Gottes.“

2.

Doch es giebt Stände und Stufen des innern Lebens, in denen man diesem Reiche noch viel näher ist; und auf diese haben wir nun weiter unser Augenmerk zu richten. Der Schriftgelehrte in unserm Texte fragt den Herrn, welches das erste und vornehmste aller Gebote sei. Eine Ahnung sagt ihm, die pharisäische Weise, zwischen wichtigern und minder wichtigen Geboten zu unterscheiden, sei falsch und grundlos. Ihm deucht, das Gesetz Gottes sei eine Einheit, ein unzertrennbares Ganzes. Ihm leuchtet ein, daß, um mit einem andern Auslege unsrer Stelle zu reden, wenn Jemand Gott dem Herrn nicht etwa blos zehn Stücke des Mantels von zwölf hinhielte, wie Ahia dem Jerobeam, sondern selbst neunhundertneunundneunzig von tausend, Gott dennoch entgegnen würde: „Ich mag’s nicht, es ist nicht das Ganze.“ Denn unter dem zurückbehaltenen Zahn- oder Hunderttausend-Theilchen wäre genau besehen das ganze Herz mit seinem ganzen Ungehorsam zurückgeblieben. Wer Gott dem Herrn in Allem sich ergäbe, nur in Einem nicht, dessen Herz wäre Ihm ja noch gar nicht geheiligt und geweiht. „Wer das ganze Gesetz hält“, sagt der Apostel, „und sündiget an Einem, der ist es ganz schuldig.“ Diese Wahrheit dämmert unserm Schriftgelehrten auf, und der Herr drückt ihm das Siegel der Bestätigung auf seine Ahnung. “Das vornehmste oder erste aller Gebote“, spricht er, “ist dieses: Höre Israel, der Herr unser Gott ist ein einiger Herr; und du sollst den Herrn deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüthe und von allen Kräften. Das ist das vornehmste Gebot. Und das andere ist ihm gleich (weil in ihm beschlossen) : „Du sollst deinen Nächsten lieben, als dich selbst. Es ist kein ander größer Gebot als diese.“ Er spricht’s, und lieblich und lebenskräftig hallt aus der Brust des Schriftgelehrten das Echo wieder: “Wahrlich, Meister, du hast recht geredet: denn es ist Ein Gott, und ist kein anderer außer Ihm, und denselben lieben von ganzem Herzen, von ganzem Sinn, von ganzer Seele, und von allen Kräften, und lieben seinen Nächsten als sich selbst, das ist mehr, denn alle Brandopfer und Schlachtopfer.“ Und wie lesen wir ferner? “Da nun Jesus sah“, meldet der Evangelist, “daß er vernünftig antwortete, sprach er zu ihm: „Du bist nicht ferm vom Reiche Gottes.“

Wir begegnen hier in unserm Schriftgelehrten einem entschiedenen Bewußtsein von des Menschen sittlicher Bestimmung. Euch dünkt, als habe das nicht eben viel noch zu bedeuten. Doch, wo es heut zu Tage uns noch begegnet, mögen wir es nur schon mit Freuden anerkennen. Unzählige unsrer Zeitgenossen leben thierisch stumpf in den Tag hinein, und kennen in der That kaum ein anderes Interesse mehr, als das sie mit dem Vieh des Feldes theilen. Ueber die Fettweide für ihr Fleisch reicht ihr Horizont nicht hinaus. Um’s Haben geht’s ihnen, nicht von Ferne mehr um’s Sein. An dem vergänglichen Gut der Erde hat ihr ganzes Dichten und Trachten seine absolute Schranke. Ja, in der neusten Zeit hat sich sogar wie ein Phosphorbrand aus einer Düngergrube aus jenem Zustande geistiger Verrottung die scheußliche Lehre entzündet, es gebe keine Tugend, sondern nur ein Recht und eine Pflicht, nämlich das Recht jedes Einzelnen an einen dem Bedürfniß seiner Natur entsprechenden Theil von den Gütern der Erde, und die Pflicht, auch Andern den Raum, diese Güter sich anzueignen, nicht zu beschränken. Alles, was Sittlichkeit heiße: Liebe, Demuth, Bescheidenheit, Treue, Wahrhaftigkeit, Selbstverleugnung, Mäßigung u.s.w. gehöre in das Reich des Wahns und der Hirngespinste, und das Streben nach solcher sogenannten “sittlichen Veredlung“ sei Verirrung, und verdiene den Namen einer thörichten Phantasterei. So weit sind wir gekommen; es ist entsetzlich. Ein leiblicher Selbstmord kommt gegen diesen geistlichen gar nicht in Betracht, in dem der Mensch seinem besseren Ich den Todesstoß giebt, seine moralische Persönlichkeit erwürgt, und die Stimme seines Gewissens zur Lüge stempelt. „Ja“, höre ich sagen, „gräulich und über alle Maßen schrecklich dies! Ist doch dem Menschen tiefer nichts in’s Herz geschrieben, als die Aufgabe und Bestimmung, einer sittlichen Vervollkommnung nachzujagen; und jene Irrsterne versunkenster Gattung wollen an den Träbertrog ihn koppeln und nur zur Befriedigung seiner thierischen Begierden ihn lassen geboren sein!“ – O du, der du also sprichst, wir wünschen dir Glück zu diesem deinem Eifer. Aber bleibe auf halbem Wege nun nicht stehen, wie Tausende, welche wähnen, es sei der höhere Beruf des Menschen schon erfüllt, wenn er nur ein äußerlich geputztes Gefäß darbiete, und in jener Ehrbarkeit wandle, die auch ein Heide besitzen kann. Gehe einen Schritt weiter, und sprich: „Gott siehet das Herz an und dessen innerstes Triebwerk. Für Gott ist der Mensch geschaffen, und darin bestehet sein Beruf, daß er Ihm lebe, Ihn liebe, durch die Liebe sich ihm verähnliche, und in all seinem Dichten und Trachten einzig von dieser Liebe sich bestimmen lasse. Dort, auf Judäas Gefilden, wandelt des Menschen Vorbild, leuchtet sein Ideal. Rein, himmlisch gesinnt, selig im Dienste Gottes, wie Er: das ist’s, das thut’s, das gilt’s, und das alleine!“ – Wenn du so erst sprichst, - und ist dies nicht schon die, ob auch noch leise Herzenssprache gar Mancher unter uns? – dann, aber auch dann erst, heißt es auch von dir: “Er redet vernünftig.“ Wer aber zu dieser vernünftigen Denkweise nur erst gelangte, wem nur erst dies Bewußtsein von des Menschen wahrer, sittlicher Bestimmung ungetrübt und umfassend aufging, der ist wahrhaftig nicht fern mehr vom Reiche Gottes. Er steht schon vor dieses Reiches Thür. Wie nahe liegt es, daß es ihm selbst ein Ernst werde, dem klar erkannten Ziele menschlicher Bestimmung zuzustreben. Und lenkt er erst entschlossen in diese Rennbahn ein, o, wie bald wird ihm dann auch, „der auf Judäas Gefilden“ schon zu etwas Höherem noch erwachsen, als zu einem “Vorbild“, oder “Ideal der Menschheit!“

3.

Unsre Textgeschichte schließt mit der Bemerkung: “Und es wagte Ihn, den Herrn, Niemand weiter zu fragen.“ Sie waren mithin Alle überführt, daß die Heiligkeit, die vor Gott bestehe, ein unzerstücktes Ganzes sei, und daß ein Solcher, in dem die Liebe Gottes wirklich wohne, nicht größere und kleinere Gebote kenne, sondern ohne Rückhalt und in Allem dem göttlichen Willen nachzuleben brenne. – Doch irre ich nicht, so lese ich aus den Mienen unseres Schriftgelehrten noch ein Weiteres heraus, als diese Ueberzeugung. Ja, ja, sein niedergeschlagenes Auge, sein sinnender Blick verrathen mir’s, er gehöre nicht zu denen mehr, die nur phantastisch für das Ideal sittlicher Menschenbestimmung schwärmen, ohne mit der Erreichung desselben sich ernstlich zu befassen, sondern er sei beschäftigt, an dem Maßstabe jenes Ideals sich zu messen und versinke eben in tiefen Kummer und Schmerz über die himmelweite Kluft, die er zwischen seinem Wandel, Stand und Wesen und dem vorgesteckten Ziele noch befestigt sieht. Ach, von jener Alleinherrschaft der Liebe Gottes im Herzen des Menschen nimmt er bei sich selber noch nichts wahr. Er findet nicht bei sich jenen himmlischen Sinn, nicht jene heilige Scheu, die da zittert, auch nur im Geringsten vom Wege der göttlichen Gebote abzuweichen, nicht jene zarte Sorge, die Winke des Herrn zu erlauschen, um dann mit Verleugnung alles Andern seraphsfreudig ihnen nachzuleben. Dieses Alles, wehe! er vermißt es bei sich gänzlich, und sein Herz zerfließt darum in Scham, Gram und Wehmuth. Aber nun ist er dem Reiche Gottes erst recht nahe. „Wie“, sprecht ihr stutzend, „auch jetzt nur immer noch erst nahe, und noch nicht darinnen? – Nein, Freunde! Gewiß ist seine Trauer eine heilige; aber kann ich wissen, ob er sich in ihr nicht verbrüten und verträumen, oder gar in ihr sich selbst bespiegeln, und Nahrung für einen geistlichen Hochmuth aus ihr schöpfen wird? Kann ich wissen, ob er sie nicht am Ende selbst als ein Heilpflaster auf sein Gewissen legt, und sie zu der Gerechtigkeit sich rechnet, die vor Gott gelte? In diesen Fällen wäre sie ihm aber nicht nur kein nütze, sondern gereichte ihm gar zu Strick und Falle. Ja sie würde ihm zu so einer, ob auch aus Tempelsteinen gebauten, Brücke zu Verderben und Verdammniß. Wohl Manche tragen sich mit dem edlen Schmerze um den unermeßlichen Abstand zwischen der Wirklichkeit, auch ihrer eignen, und dem sittlichen Ideal. Wohl Manche seufzen stille vor sich hin: „Ja, so und so sollte es wohl mit mir stehen; indeß wie steht es wirklich? Sie aber wehmütheln so ohnmächtig fort, und bleiben in einer elegisch resignirenden Gefühligkeit haften, und keine gesunde Frucht durchgreifenden Umschwungs und lebenskräftiger Erhebung kommt heraus. Sie sind dem Reiche Gottes nahe, sehr nahe; aber es kann möglich sein, daß sie unmittelbar vor seinen Thoren, und gleichsam auf der Rhede des Hafens noch, verloren gehen.

Euch erschreckt, was ich da sage. Nun, es mag Grund dazu vorhanden sein. Ihr sprecht beängstigt: „Mein Gott, was gilt es denn, was thut denn noth?“ – Ich will es euch im Namen Gottes und aus der Tiefe seiner Wahrheit heraus eröffnen. Es gilt, den Stachel eures erwachenden Gewissens noch tiefer in euern Busen senken. Es gilt, euern Abstand von dem sittlichen ideal und eure Gottentfremdung als Sünde und Verschuldung fühlen. Es gilt, Recht geben von Grund der Seele dem göttlichen Gesetze, das den Fluch über euch ausspricht. Aufrichtig anerkennen gilt’s, daß die Heiligkeit Gottes mit Sündern, wie ihr seid, sich ohne Weiteres unmöglich befassen könne. Es gilt in einem entschlossenen Selbstgericht euch selbst verdammen, und einer durchgreifenden und gründlichen Buße Raum geben in eurer Brust. Und was es dann weiter gilt, braucht nicht erst gesagt zu werden, indem es sich von selber einstellen und ergeben wird. Von selbst fragt ihr nun nach einem Mittler und Erlöser. Von selbst entdeckt ihr diesen Mittler binnen Kurzem in Dem, „der todt war, und siehe, er lebet und träget die Schlüssel der Hölle und des Todes.“ Von selbst ringt sich bald der Bartimäusschrei aus euerm Innern los: „Herr Jesu, du Sohn Davids, erbarm dich meiner, der Verkommenen, der Verlorenen.“ – Von selbst fallt ihr bald in seine Arme, und ruft: „Du bist’s, und es ist außer dir kein Heiland!“ Und alsdann ist auch Er zur Stelle mit seinem „Siehe, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!“ Er antwortet dem Schrei des Bedürfnisses mit seinem Erlöserrufe: „Gehe hin mit Frieden, deine Sünden sind dir vergeben!“ Und so gingt ihr denn wirklich zu seinem Reiche ein. Es ward nun die unsichtbare Welt entdeckt, vor deren Schleiern eure Sehnsucht weinte. Es fand die verwaiste Liebe ihre Heimath wieder, und in derselben die ihr vorangeeilten Theuern. Ihr seid jetzt zu dem schönen Garten wirklich eingelassen, dessen Gitter ihr ahnungsvoll umschlicht, und dessen Himmelsdüfte ihr von fern zu athmen glaubtet. Ihr habt nun in der That den Gott als euern Freund zu eurer Seite, ohne den ihr euch die Welt nicht denken mochtet. Es beginnt nun das schöne Ideal sittlicher Menschenbestimmung, das euch den Busen schwellte, in euch selber sich zu verwirklichen; und die Trauer über den, freilich auch dann noch in euch wahrgenommenen, Abstand zwischen diesem Ideal und seiner vollendeten Verkörperung schlägt nun in die selige Hoffnungsfreude darüber um, daß einstmals ganz gewiß das Bild des Schönsten der Menschenkinder in euch Gestalt gewinnen werde.

O herein denn, vollends herein, die ihr nicht ferne seid von seinem Reiche. Ihr seid zum Theil demselben nahe genug gekommen, um mit einem Schritte dahin zu gelangen, wo ihr der Welt nicht mehr bedürft, um mit Friede und Freude euern Weg zu ziehn. Aber ihr seid auch von jenem Reiche noch immer fern genug, um, falls ihr auf euerm Standpunkt verharrt, eures zeitlichen und ewigen Heils verlustig zu gehen. Nehme denn der Herr des Reiches euch selber bei der Hand, und führe euch festen Gangs durch die enge Pforte ein, und geleite gnädiglich auch euch zu dem seligen Stande, aus welchem heraus der apostolische Jubelruf uns antönt: “Wir sind nun Gottes Kinder; aber es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wann Er erscheinen wird, so werden wir Ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“ Amen.

Quelle: Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Sabbathglocke

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