Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der leidende Christus - V. Der Einzug in Jerusalem.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der leidende Christus - V. Der Einzug in Jerusalem.

Kaum begegnet uns in der heil. Schrift eine befremdlichere Rede, als diejenige, mit welcher nach Matth. 18, 23 der Herr einst den Simon Petrus abwies, da dieser in ungebührlichem Andringen mit seinem „Herr, schone dein selbst; das widerfahre dir nicht!“ ihn überreden wollte, seinen Vorsatz, nach Jerusalem, dem Sammelplatz seiner Feinde, zu gehen, aufzugeben. „Der Herr,“ meldet das Evangelium, „wandte sich um und sprach zu Petro: “„Hebe dich hinter mich, Satan, du bist mir ärgerlich; denn du meinest nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist!“„ - Eben erst hatte derselbe Jünger auf sein herrliches Bekenntniß: „Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn!“ das ehrenvolle Zeugniß überkommen: „Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut hat dir das nicht geoffenbaret, sondern mein Vater im Himmel!“ - Und nun urplötzlich dieß vernichtende und wie Verwerfungsurtheil klingende „Hinweg von mir, du Satan!“ Wie, daß die Bestürzung ihm nicht das Blut in den Adern stocken machte! - Wer faßt hier den Herrn? Möchte man hier nicht, wenn auch auf Augenblicke nur, an Ihm fast irre werden?! Und doch braucht man der harten Rede nur ein wenig tiefer auf den Grund zu sehen, und sie verliert nicht blos sofort jeden paradoxen Schein, sondern gewinnt sogar namentlich für die Würdigung der Passion des Herrn eine Bedeutung, wie sie kaum einem andern seiner Worte innewohnt. Der Herr erkannte hinter dem abmahnenden Rathschlage seines Simon augenblicklich denjenigen eines Andern. Nicht, als ob er hätte seinen Jünger einen Satan schelten wollen. Nein, sein „Hinweg von mir, Satan!“ galt dem Lügenvater, welcher den, in dem Artikel von des Erlösers Person zwar bereits göttlich erleuchteten Jünger, hinsichtlich des Erlösungswerkes noch in fleischlichem Wahn und arger Finsterniß gefangen hielt. Den Simon Petrus traf das „Du Satan!“ nur insofern, als er hier des Satans Dolmetscher und Organ war. Unbewußt war er's, jedoch nicht unverschuldet: denn warum beugte er sich nicht längst den Eröffnungen des Herrn über die Nothwendigkeit der auf Ihn wartenden Marter, und warum lauschte er nicht schärfer den Stimmen Mosis und der Propheten? - „Du bist mir,“ will der Heiland sagen, „ein Anstoß auf dem Wege, den ich wandeln soll. Du meinest nicht, was göttlich,“ d. i. dem Rathschlusse und den Gedanken Gottes gemäß, „sondern was menschlich,“ d. i. was irdisch und fleischlich ist.

Auf das Unzweideutigste erhellt also aus diesem Worte des Herrn an seinen Jünger zuvörderst, daß, was in Jerusalem seiner wartet, nach dem Rath und ausdrücklichen Willen seines himmlischen Vaters ihn treffen werde. Alsdann erhellt daraus mit gleicher Klarheit, daß es des Satans und seines Reiches Sieg und Triumph sein würde, wenn sich Jesus seinen Leiden entziehen wollte. Endlich, und in Folge dessen, ergibt sich daraus, daß das Erlösungswerk, zu dessen Vollendung Christus erschienen war, Seine Passion zu seiner unerläßlichen Bedingung hatte. Die unbedingte Notwendigkeit seiner Leiden zu unsrer Errettung steht mithin laut seiner eignen Versicherung außer Frage. Dieses Bewußtsein begleite uns heute auf seinem letzten Gange nach Jerusalem!

Matth. 21, 1-9.

Da sie nun nahe gen Jerusalem kamen gen Bethpage an den Oelberg, da sandte Jesus seiner Jünger zween, und sprach zu ihnen: Gehet hin in den Flecken, der vor euch liegt, und bald werdet ihr eine Eselin finden angebunden, und ein Füllen bei ihr, löset sie auf und führet sie zu mir. Und so euch Jemand etwas wird sagen, so sprechet! Der Herr bedarf ihrer, sobald wird er sie euch lassen. Das geschah aber Alles, auf daß erfüllet würde, das gesagt ist durch den Propheten, der da spricht! Saget der Tochter Zion, siehe, dein König kommt zu dir sanftmüthig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen der lastbaren Eselin. Die Jünger gingen bin und thaten, wie ihnen Jesus befohlen hatte. Und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und setzten ihn darauf; aber viel Volks breitete seine Kleider auf den Weg; Andre hieben Zweige von den Bäumen, und streueten sie auf den Weg. Das Volk aber, das vorging, und nachfolgete, schrie und sprach: Hosianna dem Sohn David! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!

Da tönt es uns denn wieder an mit seinen hellen, festlichen Klängen, das Evangelium, das vor Kurzem erst den lieblichen Advent uns eingeläutet, und jetzt auch an der Schwelle der ernstem Passionszeit uns in Empfang nimmt, um in das blutgenetzte Heiligthum, wo Gott die ewigen Gründe unsrer Erlösung legt, uns das Geleit zu geben. Auch an dieser Stelle heißen wir es herzlich willkommen. Freilich von einer alten, längst vergangenen Begebenheit gibt's uns Kunde; aber von keiner abgeschlossenen, keiner todten, sondern von einer fortgehenden und ewig lebendigen; und von einer solchen, die, wenn je, dann sicher in diesen unsern Tagen zur guten Stunde in unsern Gesichtskreis tritt. Denn Trostesglocken schlagen in ihr zusammen. Ermuthigung und Glaubensstärkung reicht sie dar. Der Ermuthigung aber werden wir, wofern uns die göttlichen Reichsangelegenheiten nur einigermaßen am Herzen liegen, in dieser bedenklichen und sturmbewegten Zeit unfehlbar sehr bedürftig sein. Wohlan denn, geben wir dem köstlichen Evangelium Raum, das an uns auszurichten, wozu es uns überliefert worden ist. Es stärke uns in dem zwiefachen Glauben zuerst an die göttliche Messiaswürde unseres Herrn; und dann an die siegreiche Zukunft seines Reichs.

Wir bitten den Geist der Wahrheit um sein Geleite!

1.

„Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir eines Andern warten?“ Ihr kennt diese Frage. Fragen, wie diese, liegen in unsern Tagen gar Manchem, der es übrigens treu und redlich meint, schwer auf dem Herzen. „Ist er der Herr? - ist er der König Israels?“ - „Nein!“ schreit eine von ihm abgefallene Welt; und ach, der im Ganzen höchst klägliche Zustand seiner Kirche auf Erden scheint nur das Siegel auf dieses „Nein“ zu drücken. Denn nimmt Er den Thron der Macht und Ehre ein, warum lasset er die Völker toben? Sitzt Er im Regimente, warum erficht der Satan Sieg um Sieg? Reicht Sein Arm vom Himmel auf die Erde, warum verschließt er den Lästererhaufen nicht das Maul? Führt er den Hammer und das Schwerdt der Allmacht, warum streckt er nicht in den Staub, die ihm trotzen, und seinen Weinberg verwüsten? Stehen ihm alle Kräfte zu Gebote, warum erzwingt er sich nicht durch Wunder und Zeichen die Ehre, die ihm gebührt; und braucht er seinen Odem nur auszulassen, um das Todte zu beleben, und die Wüsten zu bauen; warum grünen nicht längst die Steppen der Heidenwelt, und stehen die Einöden nicht fröhlich, wie die Lilien?! - O, wie oft drängen sich in dieser Zeit selbst Gläubigen solche und ähnliche Fragen auf, und wie nahe legt sich auch ihnen der Zweifel, ob Er der auch sei, wofür Er in ihrem Kreise gehalten werde? Der Zweifel aber ist des Friedens ärgster Feind, und darum den Wohlmeinenden nichts willkommener, als was ihn entkräftet und vernichtet. Ueberaus willkommen darum auch eine Geschichte, die, wie unsre heutige, jede Wolke der Ungewißheit wieder zerstreuend, gleich einer göttlich besiegelten Urkunde über das Messiasthum und die ewige Königswürde Christi sich vor uns aufthut, und uns die gebundene Zunge wieder löst zum freudigsten und entschiedensten Bekenntniß: „Ja, Christe, du bist's! Gelobet seist du, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“

Daß Er es sei, und wir mit allem Grunde auf Ihn hoffen, bekräftigt uns zuerst sein eignes Selbstbewußtsein, wie er es in unsrer Geschichte kund werden lässet. Von Jericho kommt er, begriffen aus seinem letzten, seinem eigentlichen Hohenpriesterzuge gen Jerusalem. Auf dem Oelberge angelangt, spricht er heischend und befehlend zu zween seiner Jünger: „Geht in den Flecken, der vor euch liegt, und bald werdet ihr finden eine Eselin angebunden, und ein Füllen neben ihr. Löset sie auf und führet sie zu mir!“ - Merket zuvörderst: in einer Ferne, in die ein menschliches Auge nicht hinüberreicht, sieht er die begehrten Lastthiere stehen. Schon in diesem Umstände sehen wir das Höhere in Jesu, wie die Sonne das Gewölk, die Hülle seiner Knechtsgestalt durchbrechen. Dann verfügt er über die genannten Thiere mit einer Bestimmtheit, in der nichts Geringeres, als der Gebieter über Alles sich uns verräth. Hierauf fährt er fort: „So Jemand euch etwas sagen wird, so sprechet: Der Herr bedarf ihrer! Alsobald wird er sie euch lassen.“ - Habt ihr aufgehorcht, lieben Brüder? „Der Herr,“ sagt er, und nicht der „Meister“ nur, oder „Jesus von Nazareth“. Nein, „der Herr!“ Dies ist ein Majestätstitel, ein Ehrenname, mit dem er sich selbst hoch über alle Kreatur hinaufsetzt, ja für Jehovas andres Ich erklärt. „Der Herr bedarf ihrer.“ Nimmer hätte er als bloßer Menschensohn so von sich sprechen dürfen, ohne einer Lästerung sich schuldig zu machen. Aber er weiß, wer er ist, und wie er sich nennen und bezeichnen darf. Und sehr fest spricht er sein „Der Herr;“ sehr bestimmt und klar und ruhig spricht er's. Aber wird auch schon auf das bloße Wort der Jünger hin: „Der Herr bedarf ihrer“ der Besitzer sich bewogen finden, seine Thiere ihnen zu überlassen? Ja, er wird es. Der Herr zweifelt daran nicht, sondern spricht vielmehr die entschiedenste Zuversicht aus, daß es für Ihn, den Mann von Nazareth und vom Himmel, ein fremdes Eigenthum nicht gebe; sondern daß er Macht habe über alles, und der ewige Vater dem Klange „der Herr“ einen solchen Nachdruck im Herzen des Eigenthümers der begehrten Thiere verleihen werde, daß derselbe sie, wie er ausdrücklich sagt: „alsobald“ verabfolgen lassen werde. O, erholen wir uns von unsrer Glaubensschwäche an dem Selbstbewußtsein unsers Herrn, wie es hier sich offenbart, und für seine übermenschliche Herrlichkeit schon unendlich mehr beweist, als alle Einwände der Widerchristen gegen sie.

Doch halt, der Unglaube findet auch hier noch eine Hinterpforte, durch welche er entschlüpfen zu können meint. „Der Besitzer der beiden Lastthiere,“ sagt er, „konnte ja ein Freund des Propheten aus Nazareth sein, und, dies vorausgesetzt, hätte der Umstand, daß er die Eselin willig abtrat, alle seine Bedeutung verloren.“ - Nun, das all sehende Auge Jesu schlösse sich doch darum noch nicht, und das majestätische „der Herr“ bliebe gleichfalls in voller Kraft an seiner Stelle. Aber der Unglaube spitze die Ohren weiter. Es stellen sich noch stärkere und unzweideutigere Zeugnisse und Beläge ein. Das Füllen der Eselin ist samt dieser herbeigeführt. Die Jünger legen als Decke ihre Mäntel drauf, und der Herr besteigt das Thier, um auf demselben in Jerusalem einzureiten. Ein unscheinbarer Zug dies, an und für sich kaum der Beachtung werth. Aber man blicke nur tiefer, und seine Bedeutung wird sich steigern. Ja, es bezeugt der Herr durch diesen Akt unendlich Größeres noch von sich, als er bezeugt haben würde, wenn er sich etwa plötzlich auf einen Fürstenthron hinaufgeschwungen, oder unter einem goldnen Baldachin und in einem Königspurpur seinen Einzug in die heilige Stadt gehalten hätte. Es liegt am Tage, und die Geschichte meldet's ja ausdrücklich, daß dem Herrn in diesem Augenblicke ein alter göttlicher Prophetenspruch vor Augen schwebte. Ihr lest denselben bei Sacharin 9, 8. 9. Dort spricht Jehova verheißend für die Zukunft: „Ich will selbst um mein Haus das Lager sein, daß es nicht bedürfe Stehens und Hinundwiedergehens (der Hüter und Wachen nemlich), daß nicht mehr über sie fahre der Treiber (Gesetz, Satan und Tod); denn ich habe ihr Elend angesehn mit meinen Augen.“ - Nach dieser allgemeineren Hindeutung auf die zukünftige Erlösung heißt es dann weiter: „Du Tochter Zion, freue dich sehr, und du Tochter Jerusalem jauchze: denn siehe, dein König kommt zu dir sanftmüthig, ein Gerechter und ein Helfer, und reitet auf einem Esel, und einem jungen Füllen einer Eselin.“ - Liebliche Gottesverheißung dies, über welche die ganze Sünderwelt laut hätte jauchzen sollen! Holder Hoffnungsstern am Himmel des alten Bundes, Jahrhunderte hindurch von den Heiligen Gottes gegrüßt mit Sehnsuchtsthränen! - Und was begibt sich nun? Mehr als vierhundert Jahre sind verflossen, seitdem jenes Wort erklungen war, da erscheint auf der Höhe des Oelbergs der Mann aus Nazareth, und gedenkt an diesen Prophetenausspruch; und im Begriffe, der Tochter Jerusalem sich zu nähern, heißt er eine Eselin bringen samt ihrem Füllen, besteigt dieser Thiele eins, und zieht auf demselben öffentlich vor allem Volke in Jerusalem ein. Was aber bezeugt er durch diese stumme und doch so beredte und inhaltsreiche Handlung? Was Anderes, als: „Jenes Weissagungswort ist nun, und zwar in meiner Person erfüllt;“ was Anderes, als: „Ich bin der verheißene Ehrenkönig, der als der Gerechte und der Helfer den Frieden bringen soll den Völkern; was Anderes, als: Ich bin es, dessen Herrschaft sich von einem Meere zum andern, vom Wasserstrom bis an der Welt Ende erstrecken wird; Ich bin es; darum freue dich jetzt sehr, du Tochter Zion, und du Tochter Jerusalem jauchze?!“ Ja, dies ist's, was Er nun donnerlaut bezeugt. Ein andrer Sinn kann jener Scene nicht zum Grunde liegen. Wäre Jesus dennoch der verheißene Friedenskönig vom Himmel nicht, mit welchem Namen sähe man sich dann genöthigt, jene seine That zu bezeichnen! Aber er wußte, was er vornahm, und kannte das Maß seiner Berechtigung: und so haben wir an jenem seinem wohlbedachten und höchst bedeutungsvollen Einzuge in Jerusalem einen neuen, gewaltigen Sach- und Thatbeweis, daß Christus der von den Propheten verkündete wahrhaftige Messias, und somit der eingeborene Sohn vom Vater und unser ewiger Mittler und Hoherpriester sei.

Ihr fühlt ja Alle das überaus Schlagende, das in jenem Zuge liegt; und in der That ist unser Evangelium aus diesem Gesichtspunkte noch nicht genugsam gewürdigt worden. Auch den Jüngern des Herrn, und selbst einem großen Theil des Volkes, stand es nach diesem Vorgange außer Frage, daß Er kein Anderer sei, als der angekündigte große Friedefürst. Seht, welch' Geleite sie Ihm geben. Ein mehr als königlicher Einzug wird ihm bereitet. Sie breiten Ihm ihre Kleider über den Weg, bestreuen die Straße Ihm mit Maien, schreiten, Palmzweige in den Händen, wie in einem Triumphzuge vor Ihm her, und des frohlockenden Lobgetönes: „Hosianna, d. h. Heil, Heil dem Sohne Davids! Gelobet sei der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“ ist kein Ende. Denkt, solche Huldigungen dem schlichten, von allen königlichen Insignien entblößten Manne! Doch es erklärt sich. Auch jene Huldigenden sahen, theilweise wenigstens, im Geiste den alten Prophetenchor wie mit hellen Fackeln um den Reiter auf dem armen Lastthier hergeschaart; ja, nicht fehlen konnte es, daß namentlich der Seher Sacharja, dessen prophetisches Gesicht von dem nahenden Ehrenkönige hier bis in die kleinsten Züge hinein in Fleisch und Blut gekleidet den Plan der Wirklichkeit beschritt, das letzte Dunkel, das noch über der Person des Einziehenden schwebte, völlig vor ihnen zerstreute. Was ihre Ahnungen aber zur vollendeten Gewißheit steigerte, waren ihre jüngsten Erlebnisse in Bethanien, von wannen sie eben wiederkehrten. Hier schauten sie des Meisters Herrlichkeit ohne Decke, eine „Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit.“ Zuerst zwar dunkelte ihren Augen eine offne Todtengruft entgegen, und sie athmeten Verwesungsduft, und vernahmen Martha's armes, hoffnungsloses Klagewort. Dann aber schlug an ihr Ohr das erhabene: „Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast!“ und ihm folgte hinunterdröhnend ins Grab Sein schöpferisch heischendes „Lazare, komm herauf!“ Und welch' Schauspiel nun sich ihnen darbot, wißt ihr. Wie hätten sie nach solcher Begebenheit schweigen, ja, wie nur wieder aufhören können, zu jauchzen: „Hosianna, dem Sohne Davids!“ - Die Pharisäer hören den Jubel mit verbißnem Grimm, und rufen dem Gefeierten verdrossen zu: „Meister, strafe die Schreier, und heiße sie verstummen!“ Aber warum übernahmen sie wider die frohlockende Menge nicht selbst das Strafamt? Warum klagten sie dieselben nicht des Irrwahns an? Warum führten sie ihnen nicht den Beweis, es sei ein Mährlein nur, daß Lazarus durch ihren Rabbi vom Tode auferweckt, daß ein Blindgeborner durch ihn geheilt sei u. s. w.? O, hätten sie dies vermocht, sie würden es, fürwahr nicht unterlassen haben. Aber sie vermochten's eben nicht. Die Thatsachen waren zu allgemein bekannt und anerkannt. Da gehen sie denn in ihrer Verzweiflung den ihnen übrigens so verhaßten Meister mit der Bitte an: „Strafe sie.“ O, der glaubensstärkenden Bedeutung auch dieses Zuges! - Wie aber verhält sich nun der Meister? Thut er ihnen den Willen, und straft die Begeisterten? Im Gegentheil! Dort reitet er von dem tausendstimmigen Hosianna umklungen hin, und läßt das alte messianische Bild sich so recht nach allen Seiten hin in seinem Aufzug entfalten, und nimmt die Huldigungen als Ihm gebührend gelassen an, und bemerkt den Pharisäern: „Ich sage euch, wo diese schweigen, so werden die Steine schreien!“ Freunde, was wollt ihr mehr? Nichts unter dem Himmel ist erwiesener, als daß hier der Herr Jesus sich selbst als den seit Jahrtausenden verheißenen und erwarteten Gottmenschen wußte. Dies sein eignes zweifelloses und entschiedenes Selbstbewußtsein aber ist uns schon Waffe genug, um damit alle Widersprüche, die sich gegen unsern Glauben an Ihn erheben wollen, siegreich abzuschlagen und in den Staub zu strecken.

2.

„Aber ist er wirklich der König aus der Höhe, warum erweist er sich als solchen nicht mächtiger und augenfälliger auf Erden, und hilft seinem Reiche nicht rascher zum Triumphe?“ Fragen, wie diese, können uns allerdings das kaum gehobene Haupt oft plötzlich wieder sinken machen, und das ermuthigte Herz mit neuen schweren Zweifeln erfüllen. Aber auch auf sie gibt unser Evangelium uns tröstlichen Bescheid, und zwar in zwiefacher Weise: uns beruhigend hinsichtlich des gegenwärtigen Ganges und Standes der Reichsangelegenheiten unsres Friedensfürsten; und dann unsre Hoffnung für die Zukunft stärkend, und entzückende Fernsicht durch die Wolken der Gegenwart uns eröffnend. Die ganze Scene des Einzugs Jesu in Jerusalem hat auch ihre vorbildliche und prophetische Seite. Das unscheinbare Einherziehen des Herrn nicht im Purpurmantel, noch auf geschmücktem Schlachtroß, noch im Geleite bebänderter Magnaten und Würdenträger, sondern im schlichtesten Gewande auf dem Füllen einer Eselin und in der Umgebung armer Fischer und andrer Handwerksleutlein, soll einen Wink uns geben, in welcher Art und Weise der Ehrenkönig Christus viele Jahrhunderte hindurch bis zu seiner zweiten Zukunft auf Erden sich werde erblicken lassen; und das ausdrücklich angeführte und hier erfüllte Weissagungswort des Sehers Sacharja bestätigt und besiegelt dies, indem es sagt: „Siehe, dein König kommt zu dir sanftmüthig.“ Das Wörtlein „sanftmüthig“ schließt zugleich den Begriff des Niedrigen, Unscheinbaren, Pomp- und Geräuschlosen in sich; und dies sind ja die Attribute, die Seinem Wirken und Walten bis zu dieser Stunde eignen. Kein Getümmel auf den Gassen, kein rauschendes Gepränge, wo Er kommt! Dennoch kommt Er, das steht außer Zweifel. Kein Herzustrom der Großen und Notabeln unter den Völkern zu Adoration und Glückwunsch. Noth immer durchreitet Er gleichsam auf dem Füllen einer Eselin die Welt. Aber Er durchzieht sie wirklich; und wenn nichts Anderes dies bezeugte, so doch schon das Gebell der Hunde hinter Ihm her auf seinem Wege. „Aber wo ist Er denn?“ - O, steigt hinab in die verborgenen Erdgeschosse der menschlichen Gesellschaft; laßt euch einweihen in die innersten Erfahrungsgeheimnisse dieser, jener Hütten; lauschet den Erzählungen der Süllen im Lande da und dort; leset die verachteten Blättlein, die gleich Noah's Tauben mit dem grünen Oellaub erquicklicher Botschaften aus den Bereichen der äußern und innern Mission dahergeflogen kommen; laßt euch berichten von den vielen Tausenden, die jährlich an allen Enden in stiller Verborgenheit zu Jesu Füßen von ihrem Herzensharm genesen, und heilsbegierig, oder schon getröstet in seinem Namen zum ewigen Leben hinüberschlummern; - thut dies, und ihr werdet nicht mehr fragen: „Wo ist der König Christus?“ Fürwahr, er ist noch mitten unter euch; er ist's mit derselben Gewalt, mit derselben Liebe, mit denselben Gnadenwundern, daran man ihn einst erkannte. Das „Hosianna dem Sohne Davids!“ ist noch nicht verstummt auf Erden; und verstummen wird es nimmer, nimmer!

Sage mir, wie steht es um dich selbst? Mich dünkt, du athmest schwerer und bedrückter seit Kurzem, denn vormals, und siehst so traurig, bekümmert und verlegen. Nicht wahr, dir ist nicht mehr, wie einst? Deine Blumen welkten dir dahin, und deine Freudenquellen geben kein Wasser mehr? Du selber weißt nicht, wie dir ist; doch Eines weißt du: du hast nicht Frieden. Wisse, in solcher Gemüthsverfassung schlagen oft die ersten Glocken an, die den Anzug des Friedensfürsten signalisiren. O sicher, du wirst schon weiter kommen! Es wird sich klären über der Tiefe deines stillen Grams. Du wirst inne werden, in deiner Gottentfremdung liege der Grund der geheimnißvollen Trauer, die über dich gekommen. Wirst du deß inne, so wird das Maß deines innern Leidmuths freilich voll, und wir betreffen dich vielleicht bald in Thränen schwimmend und um Gnade schreiend in deinem Kämmerlein; aber dann wissen wir auch, wer schon zu deiner Hütte und deinem Herzen auf dem Wege ist; ja, wer schon hold, gnädig- und wunderwirkend bei dir einzog. Und wie lange wird es währen) so weißt du es auch: denn er enthüllt sich dir; er ruft dir sein „Komm her, Mühseliger und Beladener, ich erquicke dich;“ er legt die durchgrabene Hand dir segnend auf dein Haupt; er versichert dich durch seinen heiligen Geist, daß er auch für dich sein Lösegeld gegeben; er macht dich gewiß, daß um seines Blutes willen auch an dir nichts Verdammliches mehr sei, und eignet die Gerechtigkeit dir zu, die vor Gott gilt. Nun aber erhebst du dich vom Staube, und bist ein neugeborener Mensch, und schmeckst einen Frieden, wie du ihn nie zuvor geahnt, und bist dein selbst nicht mehr, sondern fühlst dich einem Andern angehölig, lebst Gott in Christo, hörest auf, vor Tod und Hölle zu erschrecken, breitest Ihm, der dich erlöste, deine Kleider auf den Weg, streust Ihm Palmen der Liebe und der Huldigung, und jubelst in deinem Innern dein Hosianna und Halleluja. Und siehe, da hat, ohne daß vielleicht außer dir irgend Jemand etwas davon erfuhr, unser Evangelium dem Wesen nach wahrhaftig in deinem eignen Leben sich erneuert. In solcher Weise aber erneuert und wiederholt sich's ohne Unterlaß. Ununterbrochen zieht so der Himmelskönig bald hier bald dort in Hütten und Herzen ein. So baut und erweitert er täglich in der Stille sein selig Gnadenreich, und thut große Wunder der Erbarmung fort und fort, wer nur ein Auge für dieselben hat und ihrer achtet. In diesen Tagen starb in unsrer Nachbarschaft ein Prediger. Er wurde, nachdem ihm bis vor Kurzem noch ein schwerer Weg durch's Leben beschieden war, gerade in dem Momente abgerufen, da er allein Anscheine nach nun in die schönere, freundlichere Hälfte seines Lebens eintreten sollte. Unter dem Kreuze aber, das ihn körperlich freilich knickte, war in der Stille der gute Hirte zu ihm gekommen und hatte sich tief inniglich mit ihm verbunden. Vier Monden sind es hin, als unser Freund in die Gemeine einzog, in der er starb, und welche, ohne zu wissen was sie that, sich lange gegen ihn und seine Berufung sträubte. Bei dem Einholungsmahle jedoch wurden ihm Freundlichkeit und Ehrerbietung nicht versagt, und unter Anderm auch durch ein Glied des Gemeindevorstandes der gebräuchliche Fest- und Willkommgruß gebracht. Es erhob auch er sich, und erwiederte den Gruß mit diesen Worten: „Es gibt Bäume, die, obwohl halb abgestorben, doch noch nicht umgehauen werden, weil sie in einem oder zweien Aesten noch Leben bergen, und an denselben noch einige Frucht versprechen. Man läßt sie stehn, bis sie, wie man sagt, „sich todt getragen“ haben. Als einen solchen armen Baum pflanzt der liebe Gott mich heute in euren Kirchengarten, und es ist mein herzliches und aufrichtiges Begehren, mich auch, wo anders Gottes Gnade mich noch einige Flüchtlein treiben lassen will, im Dienst der Liebe für die Gemeine todt zu tragen.“ - Er sprach's, und eine feierliche Stille ging durch die Versammlung, und Aller Augen wurden feucht. Und wo in einem Herzen noch irgend etwas Feindseliges gegen den lieben Mann verborgen stack, war es im Nu getilgt, und es stammte in Allen also bald eine Liebe für ihn auf, die nicht inniger und lauterer sein konnte, und die auch nicht wieder erloschen ist. Denn jenes eine in Einfalt gesprochene Wort öffnete den Leuten einen Blick, ach, in welch ein Herz hinein! In ein Herz, wie eben die Herzen sind, in welche der Geist des Herrn Jesu einzog, und worin er die Ohnmacht zu gewinnen wußte; und das El mit einem Tröpflein Seiner Liebe und Seiner Treue tränkte. Nicht ganz vier Monate hindurch hat der theure Mann wirklich liebliche Früchte in seinem Kirchengarten tragen dürfen, da hat der, dessen Name „Wunderbar“ heißet, ihn in die triumphirende Küche heimbeschieden. Zuvor aber hat er ihn noch eine Predigt halten lassen, die in der Gemeine nicht wieder verhallen wird. Seine schönste, seine gewaltigste Predigt war es. Sie war sein Sterben. Als ein Sieger über Sünde, Tod und Hölle ist er mit aufgerichtetem Haupte in das dunkle Thal hinabgeschritten, und hat's mit seinem Exempel beurkundet und besiegelt, daß der König Christus wol noch in der Welt ist und wol noch Thaten thut und Wunder wirkt. Mit voller Geisteswahrheit sah unser Heimgegangener Freund den Schreckenskönig nahen; aber er begrüßte ihn mit dem Rufe: „Tod, wo ist dein Stachel?! Hölle, wo ist dein Sieg?!“ Und als ihm zuletzt noch das 17. Kap. des Evangeliums Johannes vorgelesen wurde, und eben die Worte erklangen: „Vater, ich will, daß wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, daß sie meine Herrlichkeit sehen,“ da hat er mit seinen letzten Athemzügen gesagt: „Herrlichkeit -, Amen -,“ und ist entschlafen. - Das thut der Friedensfürst, der einherreitet „arm“, und kommt zu dir „sanftmüthig.“ Er thut solche Wunder zu taufenden noch alle Tage und pflanzet und festiget sein Reich „mitten unter seinen Feinden.“ Freilich, meist unter Schleiern thut er's; aber er thut es doch. Gebt darum euren Zweifeln Valet, und glaubet, glaubet! „So wird es denn seinem Reiche noch wohl gerathen in der Welt?“ O, sorget doch um seines Reiches Zukunft nicht! Auch für diese Sorge steht in unserm Evangelium eine mächtige Wetterscheide aufgerichtet. Merkt zuerst auf das Wort, das der Herr seinen Jüngern an den Eigenthümer der beiden Lastthiere aufträgt. „Sagt zu ihm,“ spricht er, „der Herr bedarf ihrer; alsobald wird er sie euch lassen.“ - „Der Herr bedarf ihrer!“ Ja, ein Weiteres ist nicht noth. Bedarf er's, so muß ihm Alles zu Diensten stehn. Er heischt, so geschieht's; er gebeut, so steht's da. - „Der Herr bedarf ihrer!“ Herrliche Schatzanweisung für die Misston! Köstlicher Trostspruch für die Kirche, wenn ihr bange werden will, wo der Herr noch Zeugenkräfte finden werde! Unvergleichliche Versicherung, daß es Ihm zur Verwirklichung seiner Pläne nie an Mitteln werde fehlen können! Bergt dies Sein Wort in euer geistlich Schatzhaus, und erholt euch an ihm, so oft der Muth euch sinken will! -

Merkt weiter, wie der Herr, indem er in der ganzen Art und Weise seines Einzugs in die heilige Stadt die Prophezeiung des Sacharja 9, 9. bis auf das Jota zur Erfüllung bringt, hiedurch zugleich allen alten Prophetensprüchen, die von Ihm handeln, den Stempel der Bewährung aufdrückt. Ihr wißt aber, was diese Sprüche Ihm in Aussicht stellen. Ihnen zufolge werden einst alle seine Feinde zum Schemel seiner Füße liegen; der Welt Ende werden sein Erbtheil, und der Herr nur Einer, und sein Name nur Einer sein. Und Jerusalem wird gerechtfertigt stehn zu Lobe auf Erden. Und es wird ein Hirt und eine Heerde werden; und was noch weiter vom Vater ihm zugeschworen ward, ihr wißt es ja. Ebenso unfehlbar, wie das Eine zur Verwirklichung gedieh, wird auch das Andre nicht blos Bild und Schatten bleiben. Die buchstäbliche Erfüllung des Wortes Sacharjas: „Jauchze, du Tochter Zion, denn siehe dein König kommt zu dir sanftmüthig und reitet auf einem Esel,“ verbürgt auch in tatsächlicher Weise die einstige Verleiblichung des Gesichtes Johannis, des Sehers: „Siehe, Einer auf einem weißen Rosse, der hat einen Namen geschrieben auf sein Gewand und auf seine Hüfte: König aller Könige und Herr aller Herrn;“ und ebenso die Erfüllung jenes andern, in welchem er am Stuhle des Lammes jene Schaar anbetender Seligen erblickte, die Niemand zählen konnte.

Endlich beachtet noch ein Wort Immanuels, welches Lukas nachträgt. Als nämlich ergrimmt über den jubelnden Huldigungslärm der Jünger und des Volkes die Pharisäer dem Herrn Jesu ihr „Meister, strafe sie doch!“ entgegenschrieen, that Dieser den bedeutungsvollen und ewig denkwürdigen Ausspruch: „Ich sage euch, wo diese schweigen, so werden die Steine reden!“ - Hört, hört, dies Wort wiegt unaussprechlich schwer. Zuvörderst hätte der Herr sein innerstes Bewußtsein von dem unendlich hohen Glücke, welches in Ihm und seiner Sendung der Welt zu Theil geworden sei, nicht deutlicher zu Tage geben können, als er es in diesem Ausspruch thut. Denn was besagt derselbe Anderes, als: „Ich nahe euch als ein solcher Heiland, und bringe eine solche Hülfe, und biete eine solche Seligkeit, daß, erhübe darob sich in der Menschenwelt kein Jauchzen und Frohlocken, der allmächtige Gott die leblose Kreatur zur Lobpreisung Seiner Liebe und Erbarmung erwecken würde.“ Sodann aber ertheilt der Herr uns in jenem Worte zugleich die Versicherung, es werde von Ihm und seinem Heile nie ein Schweigen sein auf Erden: denn schwiege Israel, schwiege die Christenheit, so werde er die Söhne der Wildniß, die todte Heidenwelt, beleben, daß sie Ihm das Hosianna sängen.

Und er hat's gethan, und thut's, und wird es ferner thun. Unser Evangelium rückt uns ein prophetisches Gemälde in den Blick. Wie dort das Volk, so breitet einst die ganze Bevölkerung der Erde die Kleider ihm über den Weg und streut ihm Palmen. Wie Taufende dort, so schreien einst Millionen: „Hosianna dem Sohne Davids, gelobet sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höh!“ O, mischen auch wir uns in die Schaar der Huldigenden! Beherzigen wir noch einmal des Herrn Versicherung, daß so unentbehrlich und überschwänglich groß das Heil sei, welches uns Gott in Ihm bereitet habe, daß, wo wir schweigen könnten, die Steine schreien würden; und stimmen wir ein in die betenden Worte des alten Liedes:

Schreibe, Herr, mich auch mit an
Unter deine Unterthanen:
Ich will dir, so gut ich kann,
In mein Herz die Wege bahnen.
Ich geselle mich im Geist,
Herr, zu jenen frohen Reihen,
Die das Hosianna schreien.
Sohn des Höchsten sei gepreist! Amen.

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