Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der leidende Christus - II. Die eherne Schlange.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der leidende Christus - II. Die eherne Schlange.

„Wozu die Brücke breiter als der Fluß?
Sieh, was dir hilft, ist nah!“

Ein Dichter singt's. Man sollte meinen, es habe das apostolische Wort Römer 10, 6-8 ihm vorgeschwebt: „Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben spricht also: Sprich nicht in deinem Herzen: Wer will hinauf gen Himmel fahren? Das ist so viel, als Christum herabholen. Oder wer will hinab in die Tiefe fahren? Das heißt: Christum von den Todten holen. Aber was sagt sie? Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen. Es ist das Wort vom Glauben, das wir predigen.“ - Des Suchens und Jagens nach durchhaltender innerer Befriedigung ist in der Welt nicht Maaß noch Ziel. Man schöpft alle Brunnen nach ihr aus; man entfaltet nach ihr alle Segel des Gedankens. Hier schwebt man, das ersehnte Kleinod zu entdecken, auf den luftigen Leitersprossen der Philosophie; aber je höher man sich versteigt, desto, mehr tritt das Gesuchte zurück in blaue luftige Fernen. Dort meint man, mit glücklicherm Erfolge den Flügeln der Phantasie sich anvertrauen zu können; aber gemalte Quellen sind nicht geeignet, den Durst zu löschen, und die Dichtung senkt, ihrer Ohnmacht inne werdend, vor dem Ernst des Lebens ihr zauberisches Rosenscepter. Und nicht minder erfolglos wird gestiebt, wo man an Mosis Hand im Wege des Gesetzes das Canaan des Friedens zu erreichen hofft: denn nicht Moses ist's, sondern Josua, der in das gelobte Land geleitet; oder wo man mit Saul die unheimliche Straße gen Endor einschlägt, um den Orakeln und Sibyllensprüchen einer verschleierten Natur das Geheimniß der wahren Herzensbeglückung abzulauschen. Ach, das Geheimniß liegt so nahe und der Weg zum Heile ist so kurz. Wir werden heute das eine wie den anderen sich vor uns entschleiern sehn, und ohne Zweifel reichen Anlaß finden, eine lange an allerlei geistliche Brückenbauten vergeudete Zeit und Mühe als eine verlorne schmerzlich zu beklagen.

Johannes 3, 14. 15. „Und wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöhet hat, also muß des Menschen Sohn erhöhet werden: auf daß Alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“

Der Baum des Lebens, von welchem das Menschenkind sich wahre Befriedigung und Beglückung bricht, grünt nicht da noch dort, sondern einzig auf dem heiligen blutgenetzten Boden, über welchem wie feierlicher Glockenklang das Wort schwebt: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ Möchten wir deß Alle recht lebendig inne werden, und hier die unvergleichliche Kunst erlernen, die nirgends anders zu erlernen ist: Ruhe zu haben inmitten der Unruhe, und Lieder des Friedens zu singen inmitten des Kampfes!

In dem verlesenen Textesworte predigt der Herr uns selbst von seiner bevorstehenden Passion, und reicht uns zugleich - Dank, Dank ihm für diesen unschätzbaren Dienst! - den Schlüssel zum innersten Geheimnis, seiner Marter dar. Er befähigt uns mit jenem reichen und tiefen Ausspruch, über ein Doppeltes vollständig in's Klare zu kommen: über die wahre Bedeutung seiner Leiden zuerst, und dann über die Bedingungen, an welche die Theilnahme an den Früchten derselben geknüpft ist. Möge denn Allen, die deß noch bedürftig sind, über diese beiden hochwichtigen Momente in bleibender Weise heute das Licht aufgehn, auf daß sie hinfort nicht denen mehr beigehören, die da „immerdar lernen und nimmer zur Erkenntniß der Wahrheit gelangen;“ sondern denen sich zugesellen, die festen Grund des Glaubens fanden, und befähigt wurden, im Worte wie auf dem Wege Gottes „gewisse und sichere Schritte“ zu thun! -

1.

In dem bekannten Gespräche des Herrn mit Nikodemus begegnet uns das heutige Textwort. Ihr kennt den heilsbegierigen Schriftgelehrten, der zwar, aus Furcht vor den Juden, mit seinem Bekenntniß zu Jesu das Tageslicht noch scheute, aber darum doch von dem, in welchem er Größeres, als einen „Rabbi von Nazareth“ ahnete, nicht ferne bleiben konnte, und die schweigende Nacht zu seinen heimlichen Besuchen wählte. Nikodemus, ein redlicher nach Wahrheit und Frieden dürstender Mann, hatte die erstere nur gefunden als eine Fackel, die seine Sünde und das drohende Gericht ihm beleuchtete; den Frieden aber, je eifriger er auf dem Wege der Gesetzeswerke ihm nachgejagt, nur um so ferner vor sich entweichen sehn, und statt seiner nur die Unruhe erhascht, in der hienieden schon der „Wurm“ sich bei uns meldet, der „nicht sterben“ wird. Jetzt hofft er bei Jesu die unfehlbare Weisung und den erwünschten Roth zu finden. Aber welche seltsamen Dinge dringen hier zu seinem Ohr! In dem Wege, hört er, den die Vernunft empfehle, gelange der Mensch, der nun einmal fleischlich sei, nimmermehr zum Ziel. Der Grundsatz: „Halte Gottes Gebote, so wirst du selig!“ helfe ihm eben so wenig von der Stelle, Des Menschen Erlösung sei durch lauter Wunder bedingt. Er bedürfe einer Wiedergeburt durch Gottes Geist, und diese habe wieder etwas ebenso Wunderbares und Geheimnißvolles zu ihrem Grunde. Worin dies Letztere bestehe, besagt der Herr in unserm Texte. Er führt den Schriftgelehrten in's Alte Testament zurück. Er redet dem Gesetzeskundigen von Mose. Er weiset dem Meister in Israel zu seiner Beschämung nach, wie er den Weg zur Wiedervereinigung mit Gott schon aus den Andeutungen kennen gelernt haben sollte, die in der Thora, in den mosaischen Büchern reichlich zu finden seien, und hebt dann eine dieser Andeutungen ausdrücklich und zugleich mit der liebevollen Absicht hervor, dem Nikodemus schon jetzt wider die ihm möglicher Weise aus des Herrn bevorstehender Marter erwachsende Versuchung zum Irrewerden an Seiner Person und Sache die Rüstung anzulegen.

Der Herr erinnert den Nikodemus an das eherne Schlangenbild in der Wüste. Ihr wißt, welche Bewandtniß es mit diesem Bilde hatte. Die vierzig Jahre der Wandlung neigten sich zum Ende. Israel stand an der Grenze des gelobten Landes. Da vertritt ihm der Cananiter Fürst Arad mit einem schlagfertigen Heer den Weg. Es kommt zum Kampf. Die Israeliten werden bedrängt, und verlieren mehrere Gefangene. Jetzt, wie in ähnlichen Fällen immer, denkt das Volk an Zufluchtnahme zu Gott. Thränen der Buße fließen; fromme Gelübde und ängstliche Hülferufe werden laut. Jehovah hört, und Arad wird überwunden. Wie es nun aber nicht alsobald in das Land, wo Milch und Honig fleußt, hineingeht, sinkt das Volk in seine alte Verdrossenheit zurück, und die schon tausendmal gehörte Stimme des Unmuths und des Murrens wider Moses und Gott den Herr selbst verlautet aufs Neue. Da kann es nicht anders sein, der Herr muß abermals das Zeughaus seines Zornes aufthun; denn nimmer durfte das Volt vergessen, daß Jehovah ein heiliger Gott sei, der sich nicht spotten lasse, und vor welchem, wer böse sei, „nicht bleibe.“ An Ruthen seiner strafenden Gerechtigkeit gebricht's ihm nicht. Diesmal sind es „feurige“ oder Seraphschlangen, eine Natternart mit brennendem, Tod bringendem Biß, der nicht selten in jener Wüste vorkam, aber diesmal, durch einen Wink des Allmächtigen aus allen ihren Schlupfwinkeln heraufbeschworen, plötzlich in so nie gesehener Menge das Lager Israels angriff. Grauenhaftes Gericht! Entsetzliche Verwirrung an allen Orten und Enden! Gellendes Nothgeschrei ertönt von Zelt zu Zelt. Verzweifelnde Männer, händeringende Weiber, wimmernde Kinder stürzen hervor aus ihren Hütten. Unzähligen hängt die giftige Brut schon an den blutenden Gliedern. Andern zuckt sie blitzschnell und unentfliehbar auf der Ferse nach. Da nun wieder allgemeines lautes Schuldbekenntniß, Angstruf um Barmherzigkeit und Gnade, Zufluchtnahme zu Moses, und flehentliches Geschrei: „Bitte du den Herrn für uns, daß er die Schlangen von uns nehme, und uns errette!“ - Und Moses, wie immer, tritt vermittelnd ein, erscheint betend vor dem Angesichte Jehovas, schreit: „Herr, schone, schone!“ und empfängt von dem Gotte der Erbarmung, der abermals Gnade vor Recht ergehen läßt, die bekannte, zwar seltsame, aber überaus bedeutungsvolle Weisung. Er soll aus Erz das Bild einer Seraphschlange fertigen, dasselbe an die Stange eines Feldpaniers befestigen, diese im Lager aufrichten, und dann dem Volke in Jehovas Namen kund thun, daß, wer gebissen sei, und dieses Bild ansehe, nicht sterben, sondern genesen und leben solle. Und Moses thut, wie ihm der Herr geboten. Da hängt denn das kupferne Schlangengebilde inmitten des Lagers. An einem Kreuze schwebt's; denn dies war die Gestalt der Panierstange, von der, einem Querstabe angeheftet, die Flagge senkrecht herabhing. Und die Verwundeten strömen herzu, ein Jeglicher mit seinen Lieben; die Väter mit ihren Knaben und Mägdlein an der Hand, die Mütter ihre zuckenden Säuglinge auf den Armen. Und wer da glaubt, und in diesem Glauben zu dem Bilde aufschaut, der ist genesen; und die Kindlein werden heil durch den Glauben ihrer Eltern. Wer aber etwa zweifelnd dem Gedanken bei sich Raum gibt: „Wie doch solch kupfern Bildniß Hülfe und Heilung schaffen möge?“ der fällt als Opfer seiner Verstandeskritik, und gelangt in's gelobte Land nicht mit hinein.

Ihr merkt, Geliebte, daß wir uns hier im Bereiche göttlicher Vorbilder und Typen befinden, und daß hier geschieht, was Spr. Salomo 8 die ewige Weisheit von sich aussagt: „Ich spielete auf dem Erdboden, und meine Lust ist bei den Menschenkindern!“ Ihr merkt, daß, wenn irgendwo ein Geheimniß verborgen liege, es hier sein müsse; und auf was für ein Geheimniß das ganze Bildwerk hinüberdeute, nicht wahr, auch ohne das enträthselnde Schlüsselwort des Herrn in unserm Texte würdet ihr auch dies geahnet haben? Dieses Wort aber zerstreut auch das letzte Dunkel, das etwa noch darüber schweben könnte. Ob das damalige Israel schon das Bild in seiner ganzen weissagenden Tiefe zu erfassen fähig war, steht freilich dahin. Die Erleuchteteren des Volkes konnten allerdings von dieser Tiefe etwas ahnen, da sie in ihren Opfergebräuchen, in denen ja auch ein sinnbildlich mit den Sünden des Volkes beladenes und so zur Sünde gemachtes Thier als Rettungsmittel auftrat, eine Ueberleitung zum Verständniß jenes Bildes fanden. Wir fassen des Bildes Sinn, und stutzen nicht mehr, wie Nikodemus gestutzt haben mag, wenn wir den Herrn sagen hören: „Gleich wie Moses in der Wüste die Schlange,“ (die, nicht eine) „erhöhte, also muß des Menschen Sohn erhöhet werden, auf daß Alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Als Vergleichungspunkte ergeben sich, wie handgreiflich zu Tage liegt, folgende: Die Israeliten in der von Nattern durchzischten und mit Angst und Jammer erfüllten Wüste repräsentiren das Menschengeschlecht in dieser Welt. Canaan, an dessen Grenzen sie lagern, bildet die Heimath der Seligen jenseits des Todesthales ab. Der Schlangenbiß, der die Wüstenwanderer in Gefahr bringt, diesseits des gelobten Landes zu sterben, und des letztern für immer verlustig zu gehen, bedeutet den Sündenfluch, der uns den Frieden raubt und den Himmel uns verschließt. Die Erhöhung der ehernen Schlange zielt, wie der Herr selbst bezeugt, auf die Erhöhung Christi. Trat jene in Folge eines göttlichen Rathes ein, so diese ebenfalls. War jene ein Aufgehenktwerden an ein Kreuz, so diese nicht minder. War die erstere zugleich eine Erhöhung im Sinne der Verherrlichung: denn das eherne Bild wurde das Heil- und Rettungsmittel des Volkes; so gilt das auch von dieser: denn Christus vollendete sich erst am Kreuze zum Heiland der Welt. „Aber“, sagt ihr, „die Schlange selbst konnte doch nicht ein Bild des Herrn Christi sein?!“ - Sie war es ebensowol, wie das Hinaufsehen zu derselben ein Bild des Glaubens an Diesen, wie die durch den Anblick der Schlange bewirkte Heilung ein Bild der durch den Glauben an Ihn zu erlangenden Gnade, und endlich wie der durch das Schlangenbild für Israel wieder ermöglichte Einzug ins gelobte Land, ein Bild der durch Christum für uns Sünder wieder möglich gewordenen Aufnahme in das Land der Herrlichkeit ist. „Aber Christus und ein Schlangenbild! - Wo ist hier Aehnlichkeit? Wo hier Beziehung? - Gibt es Paradoxeres und Ungereimteres, als diese Zusammenstellung?!“ - Dem Anscheine nach allerdings nicht. Aber dieser Schein hat nur darin seinen Grund, daß es auch ein größeres Geheimniß nicht gibt, als das hier angedeutete. - „Aber Christus“, wendet ihr ein, „ist ja der Heilige, und die Schlange mit ihrem Gift ein Bild der Sünde?!“ - Wohl wahr, Geliebte; aber bedenkt zuvörderst, daß Christus hier nicht einer natürlichen Schlange, sondern nur einem ehernen Abbilde derselben, welches das Gift der wirklichen nicht theilt, verglichen wird. - „Aber auch ein Schlangenbild“, entgegnet ihr, „bleibt ein Symbol der Sünde.“ - Ganz wahr, Geliebte; aber habt ihr nie gelesen: „Gott hat den, der von keiner Sünde wußte für uns zur Sünde gemacht?“ Nie gelesen: „Gott warf alle unsre Sünden auf ihn“? Nie gelesen: „Christus hat unsre Sünde an seinem Leibe hinaufgetragen auf das Holz;“ und wiederum: „Er hat uns erlöset vom Fluche des Gesetzes, da er ward ein Fluch für uns; denn es steht geschrieben: Verflucht ist, wer am Holze hängt?“ - Gedenkt doch nur an diese Sprüche, und an so manche andere diesen ähnliche, und ihr werdet jene Vergleichung so ungereimt schon nicht mehr finden. „Aber immer ist doch Christus nicht die Sünde! -“ Freunde, wenn Er zurechnungsweise unsre Sünde trug; wenn sich auf Ihn der Fluch zusammenhäufte, der der Sünde zukam; wenn Er sich stellvertretend um unsrer Sünde willen dem Richtschwerte des Gesetzes unterwarf, auf daß bei unserer Begnadigung die Majestät des Gesetzes unverletzt und unverdunkelt bliebe; wenn die Sünde nach apostolischem Ausdruck „an seinem Fleisch“ verdammet ward, damit sie ihrer verdammenden und verderbenden Kraft für uns beraubet würde;- wenn, sage ich, dieses Alles, sollte er dann nicht trotz aller seiner persönlichen Heiligkeit in einem tiefen Sinne mit gutem Grunde die Sünde heißen, und überaus passend und bedeutsam jenem ehernen Schlangenbilde verglichen werden können? Und alles das, was ich eben nannte, ist ja wirklich nach der Schrift geschehen, und die Passionsgeschichte ist dessen Erfüllung. Und geschehen mußte, mußte es. „Es muß“, hören wir Ihn selbst in unserm Texte sagen, „also“ (d. i. in gleicher Weise) auch des Menschen Sohn erhöhet werden. Ja, ein Muß war's, dessen Tiefen wir freilich hienieden nicht zu ergründen vermögen. Der ganze Erlösungsplan ging allerdings von der Liebe und Erbarmung Gottes aus. „Also hat Gott die Welt geliebt“, beginnt das unserm Texte folgende große Wort, „daß er seinen eingebornen Sohn dahin gab.“ Aber es ziemete Gott, jenen Plan in dem blutigen Vermittlungswege zu vollführen, den Christus wandelte. Es war dies ein Muß, welches theils in unsrer gänzlichen Unvermögenheit, uns selbst aus unsrer sittlichen Verkommenheit wieder heraus zu helfen, theils in dem hochheiligen Wesen und der unwandelbaren Hausordnung unsres Gottes seinen Grund hatte. Die Nothwendigkeit erheischte es so, sagt uns die ganze heilige Schrift; und können wir das Warum nicht durchschauen, sondern höchstens nur von ferne ahnen, so wissen wir, daß überhaupt noch viel daran fehlt, daß wir die Tiefen der Gottheit sollten erforschen können. Wer hier den etwaigen Einwänden und Bedenken seiner natürlichen Vernunft vor dem Worte des lebendigen Gottes den Vorzug geben will, der thue es auf seine Gefahr hin; erwäge jedoch, wie es den vernünftelnden Kopfschüttlern Angesichts der ehernen Schlange in der Wüste ergangen ist, die es einzig ihrem Hochmuthe zuzuschreiben hatten, daß sie an ihren Wunden starben und verdarben, indem nun einmal wider den Schlangenbiß außer dem einen Mittel, das ihnen Gott selbst verordnet hatte, in weiter Welt ein andres nicht aufzutreiben war.

2.

So wissen wir denn: Das Gegenbild der ehernen Schlange ist der für uns gekreuzigte Christus am Holz. Dieser steht als das einzige Heilspanier im Lager der durch die Sünde verwüsteten und um der Sünde willen dem Fluch verfallenen Menschheit aufgerichtet. Keine Genesung, keine Gewissensstillung, keine Erledigung von Fluch und keine Zulassung in das himmlische Canaan, als durch Ihn. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben,“ bezeugt er selbst, „Niemand kommt zum Vater, denn durch mich!“ Nun aber fragt sich's, wie durch ihn heil zu werden sei, nachdem er in seinem Leiden und Sterben die letzte Obliegenheit erfüllte, durch welche er zum vollendeten Erlöser wurde? Ich antworte: In ähnlicher Weise, wie in dem Vorbilde der Wüste die durch den Schlangenbiß Vergifteten gerettet wurden. Zuerst wie dort: Empfindung unsrer Wunde, klares Bewußtsein um unser Elend, Sündenschmerz und Sündentrauer! So lange uns die Lüge gefangen hält, und der Wahn uns umstrickt, als seien wir vor dem Gesetze nicht verschuldet, nicht fleischlich, nicht verloren mit unserm Ganzen von der Liebe Gottes verlassenen, und vom Egoismus durchgifteten Zustand, und in unsrer Gottentfremdung nicht dem Fluch und Zorn verfallen, so lange sind wir der Rettung noch nicht fähig. Die Rettungsfähigkeit ist erst mit der klarbewußten Rettungsbedürftigkeit vorhanden. Wer in Israel nicht geglaubt hätte, von den Nattern gebissen zu sein, der wäre auf seinem Lager liegen geblieben und gestorben. Brüder, es thut's noch nicht, daß ihr das Wort von dem Gekreuzigten hört, faßt, ja gar seine Wahrheit anerkennt, und selbst es Andern verkünden und erläutern könnt. Nicht für das Wort blos, sondern vor Allem für eure eigene wahre Gestalt und Lage müssen euch die Augen aufgehn. Ihr müßt euch selbst erfassen als nach Sinn und That von dem Leben aus Gott gewichene, in grober oder subtiler Weise unter die Sünde verkaufte und von dem Gesetze Gottes entschieden verurtheilte und verdammte Uebertreter. In dieser Eigenschaft, die wahrhaftig die eure ist, müßt ihr mit durchgreifendem Weh, mit tiefer Herzenskümmerniß, und brennend heißem Durst nach Gnade und Versöhnung euch erfunden haben: dann, aber auch erst dann, setztet ihr den ersten Fuß auf den Weg, der zur ewigen Heilung führt. Ja, die erste Station auf dieser Straße ist naß von Thränen. Vor Allem ein Zöllner erst, der an seine Brust schlägt; ein Simon Petrus mit einem „Gehe hinaus von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch“; ein verlorener Sohn, der mit dem Seufzer wiederkehrt: Vater, ich habe gesündigt im Himmel und vor dir, und bin hinfort nicht mehr werth, daß ich dein Kind heiße, und dann das Weitere! - „Was aber weiter dann?-“ Es wird dir's der Nothstand deines Herzens schon enthüllen. Der dürstende Hirsch findet leicht die Quelle, und die vom Fluge ermüdete Taube entdeckt bald den Oelbaum, auf den sie sich niederlasse. Wohl kann es sein, daß du erst eine Weile noch kreuz und quer umhertreibst, und bald hier, bald dort zu entdecken hoffst, was den Sturm in dir bedräue. Was aber gilt's? nur ausgehauene löcherichte Brunnen findest du, die kein Wasser geben, und kommst zur Ruhe nicht, bis du vor dem blutigen Paniere des geistlichen Israels, dem Gegenbilde der ehernen Schlange, Halt machst. Hier siehe dann auf, d. h. in der Deutung des Bildes: hier glaube. „Auf daß Alle“, spricht der Herr, „die an Ihn glauben, nicht verloren werden“. Merke jedoch wohl, daß es nicht heißt: die Ihm, sondern die an Ihn glauben. Dieser Ausdruck wiegt in der Sprache des Herrn schwer,- und bezeichnet unendlich mehr, als eine bloße Verstandesthätigkeit, mehr, als ein Jasagen zu irgend einem Lehrsatz, mehr, als ein Fürwahrhalten und Beifallgeben des Gedankens. Eine gläubige, vertrauensvolle Hingebung gilt es an den gekreuzigten Christum, als an den letzten und einigen Heiland und Helfer von aller Noth, von allem Verderben. Man steht vor Ihm, man erkennt in Ihm den Mann, der in unergründlicher Liebe sein Alles dahin gab, aber auch dahin geben mußte, um uns Unwürdige zu retten. Eine dankbare Rührung überwältigt das Herz. Man umfaßt Ihn, nicht als den letzten Nothanker nur, noch wie der vom Bluträcher Verfolgte das schützende Altarhorn erfaßt; man umarmt ihn zugleich als unsern allertreusten Freund, und eignet ihn sich an als den süßesten Inhalt unsers Lebens. Man wirft sich gänzlich auf ihn hin. Man kommt in seinem Verdienst zur Ruhe. Man läßt Ihn seine ganze Hoffnung, seine höchste Wonne sein. Und die Liebe zu ihm, die unter Wirkung des Heiligen Geistes in unsern Herzen sich entzündet, wird nun zum neuen Prinzip unsers innersten Lebens, und zur Hüterin unsers ganzen Thuns und Lassens. Nur Ihm will man leben hinfort. Man wandelt vor Seinen Augen auf Schritt und Tritt. Man berechnet zart, was Ihm mißfallen könnte und meidet es. Und neue Wunden, - denn ach, die Sünde ist nun so wenig schon völlig todt in uns, als wir lesen, daß in dem geschichtlichen Vorbilde der Wüste die Schlangen sofort hinweggenommen worden seien, - treiben immer auf's Neue zu ihm hin. Aufs Neue hängt die Throne am Wimper, aber auf's Neue entnimmt man auch den Trost der Vergebung von seiner gnadenreichen Lippe.

Seht, Freunde, das heißt an den gekreuzigten Christus glauben. Wer also an Ihn glaubt, der, - vernehmt es aus Jesu eigenem Munde, - wird nicht verloren geh, sondern hat das ewige Leben. Nichtglauben und Verlorengehn sind also unzertrennliche Momente. Wer wird gegenüber einem so unzweideutigen Zeugniß aus dem Munde des Herrn selber, wie wirs hier vernehmen, noch fernerhin dem flachen, abgetretenen Gemeinplatz huldigen können, daß bei der Frage nach der Seligkeit der ganze Schwerpunkt in das Thuen falle, der Glaube dagegen „indifferent“ sei, d. h. nicht in Anschlag komme, wenigstens nichts entscheide. Freilich kann nur die äußerste Unkenntniß von dem Wesen des Glaubens eine so alberne Vorstellung erzeugen. Man übersieht dabei völlig, daß der Herr nicht sagt, wer glaube, werde das Leben haben, sondern habe das Leben schon. Der Herr faßt den Glauben schon als Leben, ja als den Anfang und Keimansatz des ewigen Lebens, indem er, weit entfernt, denselben nur in eine bejahende Zustimmung des Verstandes zu einer gewissen Summe von Lehrbegriffen zu setzen, denselben vielmehr als eine lebenskräftige Aneignung dieser Lehren, ja als ein unbedingtes Sichselbstaufgeben an den Herrn Christum und an seine Leitung und Bewirtung anschaut. Wer den Glauben in dieser seiner Eigenschaft aus eigenem Innewerden kennen lernte, der kann nur mitleidig über die Afterweisheit lächeln, die ihn vergleichgültigen, und der Sittlichkeit in ähnlicher Art eine Ehre anthun will, wie wenn etwa Jemand dadurch einem Bache eine Ehre zu erweisen gedächte, daß er, um denselben zu einem selbstständigen Dasein zu verhelfen, ihn von seiner Quelle trennte. Keine Sittlichkeit ohne Herzensreinigkeit; und keine Herzensreinigung ohne Glauben. Ohne Glauben keine Liebe zu Gott; und ohne diese Liebe keine Tugend. Der Glaube findet aber die Einigung mit Gott allein in Christo. Nur der Aufblick der Zuversicht zu dem dorngekrönten Gegenbilde der ehernen Schlange heilt den Inbegriff aller unsrer inneren Schäden. Gehet hin, werdet es in eigner Erfahrung selig inne, und lernet einstimmen in des Dichters Worte:

Gekreuzigte, verklärte Liebe,
Du mehr, als jeder Schatz bei Welt!
Ob nichts, was irdisch ist, mir bliebe
Du bists, die mehr, als schadlos hält.
Und wandelt ich auf dunkeln Wegen:
Du bists, auf die mein Herz vertraut!
Du bist des Glaubens Licht und Segen,
Bis dich mein Aug' im Throne schaut. Amen! -

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