Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der leidende Christus - XV. Der Gang zum Oelberg.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der leidende Christus - XV. Der Gang zum Oelberg.

In weiten Kreisen hat die seltsame Vorstellung Raum gefunden, als ob der Glaube der Kirche höchstens an der Lehre der Apostel, keinesweges aber an derjenigen des Herrn Jesu selber seine Stütze habe. Ich begreife in der That nicht, wie man zu einer so völlig ungegründeten Ansicht gelangen konnte, da ich in allen apostolischen Sendschreiben nichts gewahre, was nicht wenigstens als treibender Keim auch in irgend einem Ausspruche des großen Meister schon enthalten wäre. Schon im Blick auf die Einheit der Lehre der Apostel mit seiner eigenen hätte der Herr mit voller Wahrheit sprechen dürfen, wie er Luk. 10,16 mit einer andern Beziehung spricht: „Wer euch höret, der höret mich!“ Was die Apostel predigen von des Menschen Fall und Fluch, von der Notwendigkeit einer Erlösung, von der Gottheit des fleischgewordenen Wortes, von der versöhnenden Kraft seines stellvertretenden Leidens und Sterbens, von der Rechtfertigung durch den Glauben allein, von Buße, Wiedergeburt und ewigem Leben, das hat laut den Evangelien er selbst schon Alles zuvor gepredigt. Wir hören aus Seinem Munde schon, daß „was vom Fleisch geboren, Fleisch sei,“ daß „Er und der Vater eins,“ daß „alle Gewalt im Himmel und auf Erden Ihm gegeben,“ daß „Er gekommen sei, sein Leben zu geben zum Lösegeld für Viele,“ daß „Niemand zum Vater komme als durch ihn,“ daß „wer an Ihn nicht glaube, das Leben nicht sehen,“ daß Er einst den letzten Richterspruch über alle Menschen sprechen, und seinen Gläubigen den Himmel öffnen und das Erbtheil der Heiligen im Licht bescheiden, seine Verächter dagegen zum ewigen Feuer verdammen werde. Und was er mit Worten nicht predigte, bezeugte er nachdrücklicher durch die That, indem Er die Rath- und Trostbedürftigen auf Sich vertröstete, die Mühseligen und Beladenen auf Seinen Namen hoffen hieß, den Uebertretern ihre Sünden vergab; - und wie Er sonst thatsächlich von Sich zu zeugen pflegte. Auf Schritt und Tritt beurkundete er unwillkürlich Sein innerstes Bewußtsein wie von der Hoheit Seiner Person, und dem Zwecke Seiner Sendung, so von seiner Mittlerstellung für die sündige Welt und der Heilsbedeutung seiner blutigen Marter; und dies Alles zum schlagenden Beweise, daß, was die Apostel lehrten, nur aus dem Schatze Seiner Lichtgedanken geschöpft war. Von dem Allen uns aufs neue zu überzeugen, gewährt uns der Geschichtsabschnitt willkommene Gelegenheit, der unfrei heutigen Betrachtung vorliegt, und in welchem wir den Heim den ersten Fuß auf seine eigentliche Opferstraße setzen sehen.

Matth. 26, 30 - 32.
Und da sie den Lobgesang gesprochen halten, gingen sie hinaus an den Oelberg. Da sprach Jesus zu ihnen: In dieser Nacht werdet ihr euch Alle ärgern an mir; denn er stehet geschrieben: Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe der Heerde werden sich zerstreuen. Wenn ich aber auferstehe, will ich vor euch hingehn in Galiläa.

Wenige Worte, aber ein reicher Inhalt. Sie erschließen uns die Tiefen des Herzens Jesu, und enthüllen uns das Bewußtsein, mit welchem er seinen Leiden entgegengeht. In dieses Heiligthum eingeführt zu werden, muß uns vom allerhöchsten Gewichte sein. Denn nicht, wie dieser oder jener den Herrn versteht, sondern wie der Herr sich selber weiß, das entscheidet die Frage, für wen wir ihn zu halten, und welche Bedeutung wir seinem Werke beizumessen haben. Es gibt sich aber jenes Sein Selbstbewußtsein in unserm Texte als ein dreifaches kund, und zwar zuerst als ein Bewußtsein von seiner amtlichen Stellung; sodann als ein Bewußtsein von der Bedeutung seiner Leiden; und endlich als ein Bewußtsein von seinem Siege darnach. Gehen wir tiefer in die Sache ein, und kröne der Herr unsre Betrachtung mit seinem Segen!

1.

Ein feierlicher Moment ist's, bei welchem unsre Geschichte anhebt. Der Herr Jesus hat so eben die heilige Stiftung seiner Liebe, das Abendmahl, eingesetzt, und stimmt nun nach Gewohnheit des Passafestes in der Stille der Nacht mit seinen Jungem das „ Hallel“, oder den großen Lobgesang an. Dieser Gesang bestand aus den Psalmen 115 - 118. Zum erstenmale begegnet der Herr uns singend; denn eine andre Deutung läßt das Wort des griechischen Grundtextes nicht zu. Der Heiland ertheilt hiedurch dem gemeinsamen Gesänge in seiner Kirche für immer die Weihe. Ein köstlich Geschenk des Himmels an die Erde, der Gesang, diese Sprache des Gefühls, dieser Odem der erhöhten Stimmung, dieser Flügel des bewegten Gemüths! In dem Dienste des Heiligthums aufgenommen, wie wohlthätig und segenbringend ist seine Macht! Wer erfuhr es nicht schon, wie er dann uns über die graue Sphäre des Alltagslebens hoch hinauszutragen, so wunderthätig bis in die Vorhöfe des Himmels uns zu entrücken, so mächtig das Herz uns zu erweitern und zerschmelzen, und den Gram uns zu verscheuchen und die Fesseln der Sorgen zu zersprengen vermag? Und Größeres vermag er noch, denn dies, wenn der Geist von Oben seinen Hauch mit ihm vermischt. Tausendmal hat er wieder Frieden gestiftet mitten im Hader, und den Satanas gebannt und seine Anschläge zu nichte gemacht. Ja, er ist hingeweht wie Frühlingsthauwind über erstarrte Winterfluren, und hat steinerne Herzen wie Wachs zerrinnen, und für Saaten der Ewigkeit urbar und empfänglich gemacht. - Der Herr der Herrlichkeit singend mit den Seinen! O wäre dem David, als er jene Psalmen einst auf's Pergament warf, eine Ahnung davon gekommen, daß denselben die hohe Ehre widerfahren werde, von den holdseligen Lippen Dessen selber angestimmt zu werden, der seiner Lieder erhabenster Inhalt und seines Lebens ganze Hoffnung war; er hätte wol vor freudiger Bestürzung den Griffel seiner Hand entsinken sehen. - Welch' Siegel aber drückt der Herr auf jene Lieder als auf wirkliche Ergüsse des Heiligen Geistes, indem er selbst, und zwar in der feierlichsten Stunde seines Erdenwallens, dieselben singend sich aneignet. Würde er, zumal in jenem Moment, sie gesungen haben, wenn sie ihm nicht lauteres Gottes Wort enthalten hätten? So erscheint denn auch dieser Gesang des Herrn ein mächtiges Zeugniß für die göttliche Eingebung der heiligen Schrift. Wahrlich, nur in Seine Fußstapfen tretet ihr, wenn ihr mit unbedingtem Vertrauen an dieses Wort euch hingebt. Und sollte nicht dies Bewußtsein schon höchst ermuthigend für euch sein, und jeden neu auftauchenden Zweifel bald wieder niederschlagen können? - O Brüder, wer jenem stillen Nachtgesange hätte lauschen dürfen! Gewiß lagen die heiligen Engel mit horchendem Schweigen in den Wolkenfenstern. Du aber, o Menschheit, vernahmst in diesen Tönen das Wiegen- und Weihelied deiner ewigen Erlösung!

Millionen schon hatten in Israel in den tausend Jahren seit David nach dem Passahmahl das große „Hallel“ gesungen. Manche, wie die Propheten und die Erleuchteteren im Volk, gewiß mit tiefer Rührung und feuriger Inbrunst. Aber mit Empfindungen, wie die, womit der Herr Jesus es sang, stimmte noch Niemand dasselbe an: denn die vier Psalmen handelten von Ihm selbst, dem wahren Osterlamm, und von seinem Priester- und Mittlerthume. Seine Erlebnisse und Empfindungen, Seine Marter, Kämpfe und Triumphe gaben jenen Liebem erst die volle Wirklichkeit. Der 115te Psalm rühmt die Segnungen der göttlichen Gnade, denen durch die Vermittlung des Messias das Strombette zur Sünderwelt gegraben werden sollte. Im 116sten Psalm hebt der Mittler selbst die Schleier von den schauerlichen Abgründen blutiger Passion, denen er sich für die Sünder überantworten werde. „Stricke des Todes“, heißt es daselbst, „hatten mich umfangen, und Angst der Hölle hatte mich getroffen.“ Zugleich aber preiset das Lied die herrliche Errettung, die er nach Erduldung jener Marter erfahren sollte: „Du hast meine Seele aus dem Tode gerissen, mein Auge von den Thronen, meinen Fuß vom Gleiten. Ich werde wandeln vor dem Herrn im Lande der Lebendigen.“ Der 117te Psalm enthält eine Aufforderung an die Völker, mit Halleluja die ewige Gnade zu verherrlichen, die ihnen aus des göttlichen Hohenpriesters Werk erwachsen sei. Der 118te Psalm faßt das vorher Bezeugte noch einmal in eine Summe zusammen; und zwar zuerst das Kreuz: „Sie umgeben mich wie Bienen, sie dämpfen wie ein Feuer in Dornen, man stößt mich, daß ich fallen soll;“ dann des Mittlers Vertrauen: „Der Herr ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht; der Herr ist meine Macht und mein Psalm; ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werte verkündigen;“ - dann die Errettung: „In der Angst rief ich den Herrn an, und der Herr erhörte mich und gab mir Raum;“ - hierauf das aus seinem Opfer erwachsene Heil: „Man singet mit Jauchzen vom Heil in den Hütten der Gerechten: die Rechte des Herrn ist erhöht, die Rechte des Herrn behält den Sieg. Thuet mir auf die Thore der Gerechtigkeit, daß ich hineingehe und dein Herrn danke. Dies (nämlich dieser freie Zutritt) ist das Thor des Herrn; auch die Gerechten werden dahinein gehn;“ - und endlich die sieghafte und Alles überwindende Macht seines Gnadenreichs auf Erden: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Das ist vom Herrn geschehn und ist ein Wunder vor unseren Augen.“

Seht, lauter Züge zum Bilde des zukünftigen Messias; lauter Hindeutungen auf Seine Erlebnisse und Sein Werk! Und Der, in welchem dieses Alles seine volle Verwirklichung finden sollte, war nun erschienen, und sein Fuß ruhte bereits im Thal der Erde. Der Herr Jesus erschaute, wie in dem Spiegel des Messianischen Weissagungswortes überhaupt, so auch in dem jener Passahpsalmen sein eigen Bild, und sang die heiligen Strophen mit dem vollen, klaren Bewußtsein seiner Hohenpriester-, Heilands- und Mittlerstellung. Nach dem Gesang „ging er hinaus an den Oelberg.“ Großer, verhängnißvoller, folgenreicher Gang dies! Wir rufen: „Erde, die er dem Fluche entreißen will, küsse Seine Füße! Hölle, wider die er den Harnisch angelegt, erzittere! Himmel, dem er eine neue Bevölkerung zu erwerben auszieht, neige dich nieder, und staune über die Höhe, Breite und Tiefe seines Werkes!“ - Dort geht er hin. O, was Alles lastet auf Ihm in diesem Augenblick? Die Schuld von Jahrtausenden, die Zukunft der Welt, das Heil von Millionen! Er gehet hin, um in seiner eignen Person das mit Blut bethaute und befruchtete Saatkorn eines neuen Himmels und einer neuen Erde zu pflanzen. Wehe, wohin gingen wir, hätte Er nicht diesen Gang für uns gethan! Unser Leben wäre eine Fahrt zum Hochgericht; unsre Zukunft verlöre sich in ein unauslöschliches Feuer. Es war Ihm dies bewußt. Seine Aufgabe stand ihm allaugenblicklich in ihrer ganzen Größe klar vor der Seele. Ebenso klar aber schwebte auch der hochherrliche Erfolg seines Werks ihm vor. Er erfaßte sich selbst auf Schritt und Tritt als den, der vom Vater gesendet sei, die durch die Sünde aufgerissene Kluft zwischen Gott und der Kreatur, dem Himmel und der Erde wieder auszufüllen. War Er, daß ich menschlich rede, Derjenige, als den er sich wußte, dennoch nicht, sondern bildete Er sich nur ein, es zu sein, so würde ihn doch diese großartige Einbildung schon als den Sohn Gottes, wenn auch als den kranken, als den phantasirenden verrathen haben: denn in das Herz eines bloßen Menschen konnte jene erhabene Idee einer Gottversöhnung nimmer kommen. Und daß vollends ein bloßer Mensch im Stande gewesen sein sollte, diese Idee mit so konsequenter Ruhe, wie Jesus es that, ein ganzes Leben hindurch festzuhalten, und all sein Reden, Thun und Lassen zu derselben in Beziehung zu setzen, ist gar erst schlechthin undenkbar. Ich kenne Jemanden, der mit der gewaltsam behaupteten Voraussetzung au die evangelische Geschichte herantrat, der Herr Jesus sei - der Herr vergebe die Wiederholung des Ausdrucks! - nur ein wohlmeinender Schwärmer gewesen. Im Wege unwiderstehlicher Nöthigung gelangte aber der Mann zu der festen, unumstößlichen Ueberzeugung, daß, angenommen selbst, Jesus habe geirrt und geträumt, kein Adamssohn, sondern immer nur ein übermenschlicher, ja allein der Herr vom Himmel so habe träumen und phantasiren können. Und wer wird die Wahrheit in diesem Schluß verkennen?

2.

Zurück zum Texte. Das Bewußtsein unsres Herrn will sich noch weiter vor uns erschließen. Dort wandelt er im Geleite seiner Jünger durch die stille Nacht dahin; sie alle von den feierlichen Vorgängen, die sie eben in jenem Saale zu Jerusalem erlebten, noch tief bewegt, und hoch erhoben durch die wie aus dem Himmel hernieder tönenden Worte, welche sie aus seinem holdseligen Munde dort vernahmen. Da bricht der Herr das gedankenvolle Schweigen, und spricht zu nicht geringer Bestürzung seiner Lieben: „In dieser Nacht werdet ihr euch alle an mir ärgern; denn es stehet geschrieben: Ich werde den Hirten schlagen und die Schafe der Heerde werden sich zerstreuen.“ - Schwer wiegende, gehaltvolle Worte! Der Herr bezeichnet in ihnen den Gesichtspunkt, aus welchem Er selbst die ihm bevorstehende Marter ansieht. Er weiß genau um die Leiden, die ihm nahen. „In dieser Nacht,“ spricht er. O heilige Nacht, aus deren Schooße uns, wenn auch mit blutigem Lichte, die hellsten Hoffnungs- und Trostessterne aufgegangen! Der Herr erkennt seine Passion als eine unbedingte Notwendigkeit. Wenn Er sie dafür nicht angesehen hätte, wie leicht wäre es Ihm gewesen, sich derselben unter dem Schleier der einsamen Nacht zu entziehen! Aber frei gibt er sich ihr hin; denn während er spricht: „In dieser Nacht“, schreitet er schon mit festem Gange seiner ersten Marterstätte, dem Garten Gethsemane, entgegen. Mit klarem Blick erkennt er seiner Leiden Bedeutung und Zweck; denn „Es steht geschrieben:“ spricht er, „Ich werde den Hirten schlagen und die Schafe der Heerde werden sich zerstreuen.“ Aus Sacharja 13, 7 sind diese Worte entlehnt. Hier lesen wir: „Schwert, mache dich auf über meinen Hirten und über den Mann, der mir der Nächste ist, spricht der Herr Zebaoth. Schlage den Hirten, so wird die Heerde sich zerstreuen, so will ich meine Hand kehren zu den Kleinen.“ - Diese Stelle deutet uns der Herr in seinem Ausspruch. Der Kern ihres Inhalts ist dieser: „Ich, der Herr Zebaoth, werde schlagen mit dem Schwerte der Gerechtigkeit meinen Hirten, den Mann, der mir der Nächste ist, (d. i. den Messias,) und die Schafe der Heerde (seine Jünger, Freunde und Veittauten,) werden sich zerstreuen.“ „So steht's geschrieben,“ sagt der Heiland, „und wie's geschrieben steht, wird's nun kommen.“ Was Jesus in Mose und den Propheten lieset, gilt Ihm, ihr seht es hier aufs neue, unbesehn bis zu den unscheinbarsten Bestandtheilen hin, als vom heiligen Geiste eingegebenes untrügliches Gotteswort. Ihm ist dieses Wort unbedingt entscheidend; Ihm macht es in allen Fällen dem Hader ein Ende. Diejenigen, die in unsern Tagen nur von einem Worte Gottes in der Bibel, statt von der Bibel als dem Worte Gottes wissen mögen, setzen sich vermessen und keck über den König der Wahrheit hinaus. Wir wollen nicht sagen, daß sie nicht dennoch Kinder Gottes seien, und des ewigen Lebens theilhaftig werden könnten; denn zu ihren Gunsten sagt die Schrift, daß schon „selig werden solle, wer nur den Namen des Herrn anruft“. Aber nicht minder heißt es auch zu ihrer Warnung, und leuchtet wie eine bedenkliche Flammenschrift an ihrer Wand: „So Jemand davon thut von den Worten dieses Buches der Weissagung, dem wird Gott abthun sein Theil vom Holze des Lebens, und von der heiligen Stadt, und von dem, das in diesem Buche geschrieben steht.“

Uebrigens vermessen sich in unsern Tagen auch in einem andern und sogar wesentlichern Punkte noch selbst Gläubige, namentlich der vorgeblich gebildeteren Kreise, an evangelischer Einsicht Jesum selbst überbieten zu wollen. Sie behaupten, die hergebrachte kirchliche Lehre von der blutigen Stellvertretung des Mittlers, sofern darunter ein Schuld- und Strafetragen, ja ein Erdulden des Zornes Gottes verstanden werde, sei als ungegründet aufzugeben. Die herkömmliche juridische oder Prozeß- und gerichtsmäßige Anschauung sei als zu sinnlich und der Vernunft widerstrebend von der Betrachtung seiner Passion zu entfernen. Passionspredigten, in denen noch nach alter Weise der leidende Christus als für unsre Sünden haftend, ja als an unsrer Stelle Fluch erduldend, Strafe abtragend, und damit der göttlichen Strafgerechtigkeit für die Sünder genugthuend dargestellt werde, stünden mit den Ergebnissen einer fortgeschrittenen Schriftforschung nicht mehr in Einklang. So sagen sie, und doch geht diese sogenannte „juridische“ oder „richterliche“ Anschauung von der Marter Jesu unverkennbar durch die ganze heilige Schrift hindurch, und begegnet uns nicht allein schon in den Weissagungen und dem ganzen vorbildlichen Opferwesen des Alten Testaments, sondern ist auch die Anschauung sämmtlicher Apostel, die bald uns zurufen: „Gott rechnete den Sündern ihre Sünde nicht zu, sondern er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht“; bald bezeugen: „Christus hat uns erlöset vom Fluche des Gesetzes, da er ward ein Fluch für uns; denn es steht geschrieben: „Verflucht ist, der am Holze hängt“. - Und was schwerer wiegt als dieses Alles, - obwol auch die Apostel nicht aus sich, sondern aus dem Geiste Gottes reden, - ist der Umstand, daß auch der Herr Jesus selbst keine andre Anschauung von seinem Leiden hatte, als eben diese. Beweis hiefür haben wir, vieler andern Aussprüche nicht zu gedenken, an dem Worte in unserm Text. Jesus bezieht hier unzweideutig und entschieden einen Prophetenspruch auf sich, in welchem der allmächtige Gott als Richter auftritt, und in der Rüstung nicht seiner Liebe, sondern seiner Gerechtigkeit erscheint. Der Hocherhabene gebietet dem Schwerte, daß es der Scheide entfahre. Er ist es, der das Schwert zuckt, und nicht etwa Kaiphas, Pilatus, die Juden oder die heidnischen Söldner. Nein, Er, der Herr Zebaoth selbst. Und wen schlägt er mit dem Schwerte? „Ich will den Hirten schlagen,“ spricht er, „den Mann, der mir der Nächste ist,“ d. h. meinen Gesalbten. Von diesem prophetischen Bilde sagt nun Jesus ganz ausdrücklich, daß es in Ihm seine Erfüllung finden werde. Sich stellt er also dar als den von dem richterlichen Gott Geschlagenen. Aus welchem Grunde er von Gott geschlagen wurde, erhellt genugsam aus andern Stellen. Er trat, die Sünde büßend und sühnend für uns ein. Er ließ das unwiederrufliche „Verflucht sei Jedermann, der nicht bleibet in alle dem, das geschrieben steht im Buche des Gesetzes, daß er es thue,“ im Wege der Stellvertretung zur Ehre Gottes, zur Wiederherstellung der Majestät des Gesetzes, und zu unsrer Freisprechung und Erlösung an Sich eine Wahrheit werden. So, und nicht anders, muß die Sache aufzufassen sein, oder die ganze Passionsgeschichte wird zum düstern Labyrinthe. Es muß sich so verhalten, oder hunderte von Schriftsprüchen stehn als unauflösliche Räthselworte vor uns. Es muß, oder das schauerliche Geschick des Heiligen in Israel hallt wie ein gellender Mißlaut durch die Menschengeschichte, und stellt das Vorhandensein einer göttlichen Vorsehung und Weltregierung durchaus in Frage. Ja, es muß, es muß, oder der Herr vom Himmel hat statt Wahrheit Saat des Irrwahns gesäet: denn Er sprach: „Es erfüllt sich jetzt an mir, was geschrieben steht: Ich, spricht der Herr Zebaoth, werde den Hirten schlagen.“ - „Aber die Vernunft?“ - O, der Herr wußte wol, was die Vernunft dazu sagen werde; darum sprach er: „In dieser Nacht werdet ihr euch Alle an mir ärgern.“ Die Vernunft irrt, und vernimmt von den göttlichen Dingen nichts, so lange das Herz nicht zur Einsicht, zur lebendigen Einsicht seiner wahren Bedürfnisse gelangte. Werde du nur erst zum heilsbegierigen Zöllner oder Schächer, mit wie so ganz anderm Klange wird dir dann das „Ich werde den Hirten schlagen“ entgegen tönen! Dann weißt du: schlagen muß der Allmächtige. Es sagt dirs der Richter in deiner Brust, es bezeugt dir's dein vom Todesschlaf erwachtes Gewissen. Was man dir vorreden mag von Gottes allgemeiner Freundlichkeit, Barmherzigkeit und Liebe, du bleibst dabei: „Schlagen muß er.“ So tief und feurig ist dir dies hinfort in dein Bewußtsein geschrieben, daß auch ein Engel vom Himmel dich daran nicht mehr irre machen wird. Gott ist heilig, gerecht und wahr, und du ein Rebell wider ihn und ein Frevler vor seinem Angesicht. Bei diesem Satze verbleibst du, und hörst schon die Donner seines Zornes rollen über deinem Haupt; und nichts in der Welt bringt dich von dem Gedanken wieder ab, daß es einer Genugthuung bedürfe, wenn du Sünder selig werden sollest. Tönt unter diesen Erwägungen und Empfindungen dann das Wort dich an: „Ich werde den Hirten schlagen!“ o welch' süßer Friedensglockenklang wird's für dich sein! Selige Wendung, die jetzt in deiner Lage eintritt! Du suchst den Hirten auf, der an deiner Statt geschlagen ward, und findest ihn in dem blutigen Bürgen in Gethsemane, auf Gabbatha, am Kreuze. Du umklammerst ihn mit allen Ranken deines innigsten Vertrauens, und bezeugst es Jedem, der es hören will, daß du keinen Trost im Leben und im Sterben haben würdest, wäre der Sohn Gottes nicht im wirklich gerichtlichen Sinne stellvertretend für dich eingetreten. - Täglich bewahrheitet sich's aufs neue, daß das Evangelium dem bedürfnißlosen Menschen eine Thorheit dünkt; an dem Bedürftigen aber als eine Kraft Gottes sich erweist, und mithin die Erkenntniß auf diesem Gebiete nicht vom Verstände, sondern lediglich vom Herzen, und zwar von dem durch den heiligen Geist erleuchteten und im Schuldgefühl zerbrochenen Herzen ausgeht. Der natürliche Mensch vernimmt nun einmal, wie die Schrift sagt, von den göttlichen Dingen nichts; es ist ihm eine Thorheit und er kann es nicht erkennen: denn es muß geistlich gerichtet sein. Wer an der Lehre von dem fluchttagenden Gotteslamme Anstoß nimmt, beurkundet damit nur, daß er, wie gläubig er im Nebligen auch sei, vom Wesen und der Verdammlichkeit der Sünde wenigstens noch sehr seichte und oberflächliche Begriffe hege.

3.

Das Wort des Herrn: „Es steht geschrieben: Ich werde den Hirten schlagen“, hat uns also auch das Bewußtsein des Herrn von der wahren Bedeutung seiner Leiden sonnenhell beleuchtet. Es kann uns darum sein Ausruf: „Ich muß mich noch mit einer Taufe taufen lassen, und wie ist mir so bange, bis sie vollzogen werde,“ eben so wenig mehr, wie sein nachmaliges Angstgebet: „Vater, ists möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber“ ein Räthsel sein. Freilich hat die Liebe des Vaters den „eingebornen Sohn“ keinen Augenblick verlassen. Jesus blieb der Gegenstand Seines höchsten Wohlgefallens und Seiner zärtlichsten Zuneigung. Aber die Erfahrung und Empfindung der väterlichen Liebe sollte ihm zeitweilig entzogen werden, und dagegen Empfindungen eines von Gott Verlassenen an deren Stelle treten. In die Hölle sollten hinab, und hinein in alle Anfechtungsgluten des Satans und seiner finsteren Rotten; und eben davor hat Ihn geschaudert und gegraust. Durch das Dunkel dieses beklemmenden Bewußtseins aber ergossen sich zugleich verklärend die morgenröthlichen Strahlen eines andern erheiternderen Wissens, des Wissens um den Triumph, der nach dem Kampfe Seiner harre. Auch dieses Bewußtsein gibt der Herr zu Tage, und zwar in den Worten: „Wenn ich aber auferstehe, so will ich vor euch hingehn in Galiläa.“ Bewundert hier zuvörderst die Treue des guten Hirten. Zuerst sagt er's den Seinen ausdrücklich vorher: „In dieser Nacht werdet ihr euch Alle an mir ärgern.“ Welche zarte Fürsorge für sie beurkundet er hiedurch schon! Es vermochte ja nun das Aergerniß nicht mehr zu weit zu greifen. Wenn die Leiden über den Meister hereinbrachen, mußten sie sich sagen: „Er wußte, daß es dahin mit ihm kommen werde, und dennoch ging Er freiwillig solcher Passion entgegen. Folglich mußte es ja wol unerläßlich zur Vollendung seines Werks gehören, daß er diesen und jenen Martern sich unterzog.“ - Der Herr geht aber weiter noch, und eröffnet ihnen, daß in seinen Leiden nur die Heilige Schrift und somit der Rathschluß Gottes sich erfülle. Welch' einen mächtigen Stab für die Tage der Trauer gab er ihnen auch damit fürsorglich in die Hand: einen Stab, der sie freilich allein nicht völlig aufrecht zu erhalten vermochte, aber doch vor einem gänzlichen Schiffbruch am Glauben sie sicher stellte. Und nun sagt er ihnen endlich, die Schafe der Heerde würden sich zwar zerstreuen, aber darum doch so nach wie vor seine Schafe bleiben, und ihrer Untreue wegen nicht verstoßen werden. Er sagt ihnen dies, indem er ihnen eröffnet, daß er, nachdem er aus allen seinen Martern triumphirend werde hervorgegangen sein, und selbst den Tod überwunden habe, sie wieder in Frieden und Freude um sich sammeln werde. O, welch' ein Trost lag darin für sie, und welch' eine Glaubensstärkung und Ermuthigung namentlich auch für die Stunde, da nach eingetretener Zerstreuung die Kunde sie erreichen sollte, daß der schmählich von ihnen Aufgegebene und Verlassene wirklich wieder da sei, und als Sieger über alle seine Feinde auf dem Plane stehe. Da war es denn nicht noth, daß sie sich entsetzten; sondern sie durften sich mehr unbedenklich der süßen Hoffnung überlassen, er werde ihnen nicht vergelten nach ihren Werken, sondern Alles ihnen verzeihen und sie liebend wieder mit sich vereinige. Seht, so waltet seine mütterliche Sorgfalt nicht in der Gegenwart der Seinen blos, sondern auch schon in der Zukunft ihres Lebens, und bahnt auch da schon Alles an, und bereitet vor, was Unheil verhüten, und Heil und Segen bringen muß. O wie wohl ist man geborgen, wenn man erst unter Seinem Hirtenstabe steht! Geschehen kann es, daß man auch dann noch einmal wieder an Ihm sich ärgere, ja, für eine Weile von Ihm weiche, und sich in das Eigene zurück verliere. Aber Er läßt uns nicht mehr in der Irre, sondern sucht uns wieder auf; denn allen seinen Schafen gilt das Wort: „Sie werden nimmermehr umkommen, und Niemand wird sie aus meiner Hand reißen.“

„Wenn ich aber auferstehe,“ spricht der Herr; buchstäblich: „Nachdem ich werde auferstanden sein.“ Hier blickt er also über das Angstmeer der ihm bevorstehenden Passion in freudigster Zuversicht bis auf den Triumph darnach hinaus. Daß er das jenseitige Ufer, wo der Oelzweig des Sieges ihm winkt, erreichen werde, ist ihm gewiß. Er sagt nicht: „wenn,“ sondern: „nachdem ich werde auferstanden sein.“ Er gedenkt an den alten, verheißungsvollen Prophetenspruch: „Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben haben wird, wird er in die Länge leben.“ Wer in solchem Erfassen der göttlichen Zusage seinen Fußstapfen zu folgen weiß, hat das Geheimniß gefunden, wie man inmitten der Brandung schon sein „Land! Land!“ frohlocken, und mitten im Kampfe Siegeslieder singen kann. Ja, heraus aus der ängstlichen Stellung, in der man nur ansieht, was vor Augen ist, und wie ein Spielball den Berechnungen der Vernunft sich überläßt! Beide Füße vielmehr auf den hohen und unwandelbaren Felsen des Wortes des allmächtigen Gottes gestellt! Wie sicher und lieblich ist dann wohnen, selbst wenn Nacht uns umgraut, und Sturm und Wetter uns umtoben. Da wird man gewahr, es umhülle die Wolke, die uns ängstigt, nur vorübergehend einen Theil unsres Lebens Himmels; denn der entferntere Horizont ist heiter, und der noch entlegnere verheißt nach allen Nächten einen Tag, an dem die Sonne nicht mehr untergeht. - „Nachdem ich werde auferstanden sein, will ich vor euch hergeht, nach Galiläa.“ Galiläa also der Sammelplatz. Galiläa das Land der Wiedervereinigung und des Wiedersehens. Dort einst angelangt, hat er keine Marterkelche mehr zu leeren, und die Seinen werden nicht mehr an ihm irre werden. Nicht ist er dann mehr der „Mann der Schmerzen“; sondern in Majestät und Siegesherrlichkeit gehüllt, tritt er seinen Lieben entgegen, und grüßt sie mit dem Friedensgruße des neuen Lebens. - .Ich gehe vor euch her nach Galiläa.“ Ja, auch für uns, wenn wir zwischen den Zeilen zu lesen wissen, liegt etwas in diesen Worten. - „Nachdem ich werde auferstanden sein.“ Gewiß, auch die Auferstehung wird nicht verziehen, deren wir harren: die endliche Erhebung Seines Reichs aus tiefer Schmach, der sieggekrönte Hervortritt Christi aus langer Nachtumhüllung. Vielleicht erfolgt sie bald. Wenn er seine Feinde zum Schemel seiner Füße wird gelegt, seine Auserwählten aus den vier Winden herzugerufen und gesammelt, und den Satan gebunden und in den Abgrund verschlossen haben wird, dann ziehen auch wir in das Galiläa des Friedens und der Freude ein, wo wir Ihn, an den wir glaubten, ob wir ihn gleich nicht sahen, von Angesicht zu Angesicht schauen, und mit Jubelpsalmen des Entzückens Ihn begrüßen werden. Erleben wir aber den Anbruch dieser Siegesperiode seines Reichs auf Erden nicht, o so kennen wir ein anderes Galiläa, wohin er uns vorangezogen, und welches uns allerdings wol näher liegen mag, als jenes. Ich meine das Galiläa, wo täglich der müden Pilger so Manche Anker werfen; das Galiläa, wo die Hand sich bewegt, welche von den Augen begnadigter Ankömmlinge die letzte Thräne trocknet; das Galiläa, wo stets aufs neue das Lied beginnet von dem Lamme, das erwürget ward, und dem Blute, in welchem man seine Kleider wusch und helle machte. O du Galiläa da droben, Land der völligen Vereinigung mit dem, der unsre Liebe ist, wie erhebt uns schon die bloße Erinnerung an dich während der Wallfahrt durch dieses Pilgerthal! Du Galiläa jenseits der Wolken, wie selig ist, wem auch zu deinen ewig grünen Auen und sonnigen Hügeln Jesus voranging, um ihm die Stätte zu bereiten! „Wohl selig,“ sagt ihr; „wenn man nur auch wüßte, daß man dort einst wirklich landen werde!“ - Wißt ihr dies noch nicht, geliebte Brüder, o, was säumt ihr dann, von dem Herrn es euch versichern zu lassen? Ueberall und zu allen Stunden neigt er euch sein Ohr; zuverlässig aber da, wo sein heiliges Bundesmahl bereitet steht. Ja, hier ist auch ein Stücklein des Galiläa, wohin er vor euch hergegangen, um daselbst mit euch sich zu vereinigen. O, er wartet eurer schon mit seinem geheimnißvollen Brod und seinem Segenskelche! Er will es euch urkundlich zu wissen thun, daß auch ihr ihn einst von Angesicht schauen werdet. Mit einem Vorschmack dieses Schauens will er euch begnadigen. Kommt denn, schöpfet Gnade um Gnade aus seiner Fülle, werdet seiner Gegenwart selig gewiß, und sprechet, wenn ihr diese Stätte wieder verlasset, mit dem jubelnden Sänger:

O, angenehme Augenblicke,
Drin sich die süße Hoffnung regt,
Daß einst auch uns, zum ew'gen Glücke,
Die benedeite Stunde schlägt,
Da wir zu den vollendten Schaaren,
Wo's „heilig, heilig, heilig!“ tönt,
Erlaubniß kriegen, heimzufahren,
Und den zu sehn, der uns versöhnt! -

O, welche Freud und welche Wonne,
Welch' unaussprechlich Heller Schein
Von aller Himmel Himmel Sonne
Wird über unserm Haupte sein,
Wenn wir das neue Lied mitsingen,
Wo Gott sich sichtbar offenbart,
Und Ruhm und Preis und Ehre bringen
Dem Lamme, das erwürget ward. - Amen.

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