Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der leidende Christus - XIV. Der Weheruf

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der leidende Christus - XIV. Der Weheruf

Bevor Israel, an den Grenzen des gelobten Landes angelangt, die letzteren wirklich überschreiten durfte, hatte es noch schwere Kämpfe zu bestehn, aber auch in Jehova's Namen furchtbare Gerichte über seine und des Herrn Feinde zu vollziehn.

So geschah es unter Anderm, daß jenes Volk sich ihm entgegenstemmte, von welchem der Herr einst zu Abraham sagte: „Die Missethat der Amoriter ist noch nicht alle.“ Jetzt war das Maaß ihrer Sünden voll. Wie lange hatte der Herr diese blinden Heiden mit unermüdlicher Geduld getragen! Wie wiederholt und ernstlich sie gewarnt! Wie reiche Gelegenheit, Ihn, den allein wahren Gott, zu erkennen, ihnen dargeboten! Aber sie hatten ihr Herz verhärtet. Nun war die göttliche Langmuth über ihnen erschöpft, und die Stunde der Vergeltung für sie herbeigekommen. Der Herr gab sie in Israels Hand, und Israel schlug sie mit des Schwertes Schärfe, daß von dem vermessenen Heere nicht Einer übrig blieb.

Ein Gleiches widerfuhr nach 4 Mos. 21, 1-3 dem Könige Arad und seinen Kananiterhaufen, die sich ebenfalls wie ein starrender Lanzenwald dem heranziehenden Wanderzuge Israels in die Straße schoben, und ihm den Eingang in das Land der Verheißung abzuschneiden drohten. Israel schrie zum Herrn, und Gott erhörte die Stimme seines Volks. Die Feinde wurden niedergeworfen, die Gefangenen gebannt, d. i. dem Tode geweiht, und ihre Städte zerstört und dem Erdboden gleich gemacht. Und der Ort, wo Israel den Sieg erfocht, hieß fortan zu ewiger Erinnerung, daß Gott sich nicht spotten lasse, „Harma“, d. i. Bann- und Fluchstatt.

Solcher Harma's, solcher Denkmale Seines richterlichen Ernstes, hat Gott gar manche aufgerichtet in der Welt. Wir kommen auch heute zu einem solchen. Lasse uns die Gnade von einem Dornbusch eine Segenstraube brechen! -

Matth. 26, 24.
Des Menschen Sohn gehet zwar dahin, wie von ihm geschrieben stehet doch wehe dem Menschen, durch welchen des Menschen Sohn verrathen wird. Es wäre ihm besser, daß derselbige Mensch nie geboren wäre.

Dies die Grabschrift, welche der Herr selbst seinem unglückseligen Jünger Judas setzte. Die Worte haben schauerlichen Klang. Wie Geschmetter der Gerichtsposaune hallen sie durch unsre Mitte. Weichen wir ihnen nicht aus, sondern nehmen wir sie treu und tief zu Herzen; denn sie enthalten einen Gnadenruf, und verkehren sich für uns in ein donnerlautes „Eile aus Sodom, und errette deine Seele!“

Den Weheruf Jesu über seinen Verräther machen wir zum Gegenstand unsrer Betrachtung, und nachdem wir zuerst die Schauer dieses Rufes angeschaut, verständigen wir uns zum Andern über die Grenzen seiner Anwendbarkeit auf uns und unsre Zeitgenossen.

Was geschrieben steht, ward uns „zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit“ geschrieben. Möge dies heute in jedes Einzelnen Erfahrung sich bewahrheiten! Gott walte es in Gnaden!

1.

Wenn Jemand mich fragen wollte, welchen Ausspruch ich für den erschütterndsten und schreckenvollsten des ganzen Bibelbuchs erachtete, so würde ich mich auf die Antwort nicht lange zu besinnen brauchen. Ich wiese weder hin auf das Wort 5 Mose 27, 26: „Verflucht sei Jedermann, der nicht hält Alles, was geschrieben stehet im Buche des Gesetzes;“ noch auf das Zeugniß Joh. 3, 36: „Wer an den Sohn Gottes nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehn, sondern der Zorn Gottes bleibet über ihm.“ Nicht einmal erinnerte ich an das niederschmetternde Wort des Apostels Paulus zu Bar-Jehu: „O du Kind des Teufels, voll aller List und Schalkheit“, noch an die Weherufe des Heim selbst über die Pharisäer und Schriftgelehrten Matth. 23. Ich führete vielmehr den Fragenden geradesweges zu unsrer heutigen Textesstelle, und wäre seines Zugeständnisses gewiß, daß hier der furchtbarste aller Donnerrolle, die hin und wieder auch die Friedensharmonie des Evangeliums unterbrechen. Wie Manchem, der unversehrt am Sinai vorbeigekommen, ist hier das Herz zersprungen und der Schrei nach Gnade abgenöthigt worden!

Hört, hört! „Wehe dem Menschen, durch welchen des Menschen Sohn verrathen wird. Es wäre demselbigen Menschen besser, daß er nie geboren wäre!“ Mein Gott, welche Rede! Von wannen tönen diese Verzweiflung gebärenden Worte zu uns herüber? - Wohl, dies erwägt zuerst, und die Worte werden beginnen, ihre Schauer vor euch zu entfalten. O, daß ein Andrer sie spräche, als der, auf dessen Lippen wir sie wirklich finden! Daß sie aus unsres Gleichen Eines, aus eines Sterblichen, aus eines menschlichen Propheten, aus eines armen Sünders Munde kämen! Dann bliebe noch einiger Raum für allerlei Betrachtungen, welche den schreckensvollen Ausspruch in etwa zu mildern vermöchten, und wir dürften uns berechtigt glauben, von dem Grausenhaften seines Inhalts wenigstens etwas abzuziehn, und es auf Rechnung der flammenden Entrüstung des Sprechenden, oder seiner wohlmeinenden Absicht zu übertragen, durch den erschütternden Ernst seiner Worte den Sünder möglicherweise von seinem frevelnden Vorhaben noch zurückzudonnern. Aber nun ist es Jesus, aus dessen Munde der Weheruf erschallt; der König der Wahrheit ist's, der barmherzige Sünderfreund; und nicht aussprechen läßt es sich, welch' ein ungeheures Gewicht, und welchen fürchterlichen Nachdruck dieser Umstand jenem Worte leiht. Denn nun vernehmen wir indem „Es wäre diesem Menschen besser“ ja nicht die Stimme der Leidenschaft, sondern die Stimme Dessen, der mit vollem Rechte von sich sagen konnte: „Ich bin sanftmüthig und von Herzen demüthig.“ Nun schilt und tobt hier nicht ein blinder Zorn, der sich selber nicht bewußt ist, was er ausstößt; sondern es verlautet hier nun das besonnene Zeugniß eines Mannes, dem das eigne Herz aus tausend Wunden darüber blutet, daß er solch Urtheil über seiner Vertrauten einen fällen muß. Nun richtet hier nicht ein Mensch, der gewohnt ist, mit Übertreibungen zu verkehren; sondern der richtet hier, welcher sich die „Wahrheit“ selber nannte, und an Keuschheit und Zucht der Rede nicht seines Gleichen fand auf Erden. Und nicht ists ein Kurzsichtiger nun, noch ein dem Irrthum Unterworfener, gleich uns, den wir hier sprechen hören; sondern es geht das entsetzliche Wort aus dem Munde des Unfehlbaren, von welchem geschrieben steht: „Er bedurfte nicht, daß Jemand Zeugniß gebe von einem Menschen; denn er wußte wol, was im Menschen war.“ Ja, das fürchterliche Anathema spricht der Mann, dessen Gesichtskreis Zeit und Ewigkeit umschrieb, dessen Geistesblick Himmel und Hölle durchreichte, und dem, als dem zukünftigen Richter der Lebendigen und der Todten, jedes Einzelnen Leben und Geschick bis über Tod und Grab hinaus bloß und entdeckt vor Augen lag. Dieser, und kein Andrer, ist's, der von Judas Ischarioth bezeuget: „Es wäre demselbigen Menschen besser, daß er nie geboren wäre.“ Großer Gott, nun muß es ja auch so sein, und jener grauenhafte Spruch kann nun nicht eine einzige Sylbe mehr zu viel enthalten. O Schauer und Schlecken ohne Gleichen! Wer erbebt hier nicht, als ob er die Hölle schon vor sich offen sähe?! -

„Aber,“ höre ich fragen, „warum wurde er geboren, wenn er besser ungeboren geblieben wäre?“ - O Freunde, fragt lieber nicht also. Mit solchen Fragen werdet ihr das Beängstigende jenes Wortes nur noch steigern. - „Es mag sein,“ fahrt ihr fort; „aber wir können nicht anders, sondern müssen aufs Neue fragen: Warum ließ ihn Gott geboren werden?“ Was erwiedere ich? - Hört den Herrn: „Des Menschen Sohn gehet zwar dahin, wie von ihm geschrieben steht,“ (er erfüllt sein Schicksal nach seines himmlischen Vaters Räch und Vorsah,) .aber wehe dem Menschen, durch welchen er verräth en wird!„ - Merkt ihr des Herrn Absicht bei diesen Worten? Offenbar geht sie dahin, die ganze Schuld des Verraths als eine frei gehäufte lediglich auf Judas fallen zu lassen; Gott den Allmächtigen dagegen als schlechthin schuldfrei an dem Handel und in keinerlei Beziehung mitwirkend an demselben zu rechtfertigen. - „Freilich,“ werft ihr ein, „sind auch wir gar weit davon entfernt, bestreiten zu wollen, daß dem entarteten Jünger alle Gnade und Kraft zu Gebote gestanden habe, dem Satan Widerstand zu leisten, und sich zum Herrn zu belehren; aber der allwissende Gott sah doch voraus, daß er der Versuchung nicht widerstehn, sondern in die Schlinge des Teufels eingehn, und somit der ewigen Verdammniß verfallen werde?“ Ich antworte: „Allerdings sah er dies voraus, und ließ es sogar in Prophetensprüchen vorherverkündigen“ „Wohlan denn,“ ruft ihr, „da es dem Ewigen bewußt war, daß es jenem Menschen besser wäre, er würde nicht geboren, warum verhinderte er nicht seine Geburt? Warum wehrte er dem Schlüsse des Ehebundes nicht, dem er entsproß? Warum schlug er nicht des Judas Mutter, wie er einst die Michal schlug? Oder warum nahm er den kaum Geborenen nicht aus der Wiege wieder zu sich? Warum gönnte er ihm Raum und Zeit, bis zu solcher Verderbensreife sich zu entwickeln? Warum, warum that dies Gott, da er ja allmächtig, und da er die Liebe ist?“ O Brüder, thut euern Fragen Einhalt. Bescheidet euch!

Die Tiefen der göttlichen Weltregierung ergründet kein menschlicher Geist. Ein versiegeltes Geheimniß bleibt es uns, wie der allliebende Gott auch Menschen könne geboren werden lassen, deren Lebensstraßen Er kraft seiner Allwissenheit in die Abgründe einer ewigen Verdammniß sich verlieren sieht. Wir nehmen daraus nur ab, daß Gott, der Unerforschliche, anders lieben müsse, als ein Mensch liebt, dieser elende Wurm, der von einer heiligen Liebe nicht weiß, von einer Liebe, die mit der Gerechtigkeit Hand in Hand geht, keine Ahnung hat. Ueberdies bedenkt: Wo bliebe das Reich der Freiheit, wenn Gott zwingend verhindern wollte, daß Jemand sich selbst verderbe, und also verloren gehe? Was würde aus dem Glänze Seines Thrones, wenn Er, um nur nicht strafen zu müssen, die Objekte seiner vergeltenden Gerechtigkeit beseitigte, oder ihre freithätige Entwicklung gewaltsam hemmte? Endlich laßt euch darüber keine Sorge kommen, wie der Ewige einst über die einzelnen Akte seines Weltregiments sich werde verantworten können; sondern haltet euch versichert, daß Er an dem großen Offenbarungstage durch Enthüllung Seiner Führungen und Wege, Alles, was Odem hat, nöthigen wird, anbetend in die Worte Mosis einzustimmen: „Der Herr ist ein Fels; seine Werte sind unsträflich; denn alle seine Wege sind Recht. Treu ist Gott, und kein Böses an ihm; gerecht und fromm ist er!“

Gehen wir nun in den Richterausspruch Jesu über seinen Verräther näher ein, und lassen wir denselben alle seine Schrecken vor uns entfalten. Ein „Wehe“! schickt ihm der Herr voran; und wo Christus „Wehe“! ruft, spricht im Himmel und auf Erden Niemand mehr mit Erfolg ein „Friede mit dir!“ oder „Heil!“ - „Es wäre demselbigen Menschen besser,“ beginnt der Herr. Dem „Menschen“! - Ungewohnter Ausdruck im Munde des guten Hirten! So nennt er sonst die armen Sünder nicht. Jene Bezeichnung hat etwas Wegwerfendes, und Abschiedslaut tönt durch sie hindurch. Judas geht den Heiland nichts mehr an. Jesus entläßt ihn aus dem Kreise der Seinen, und betrachtet ihn fortan als einen Fremdling. O wie schauerlich dies und wie zermalmend! Wo will er nun hin, der Unglückselige, nachdem der Einzige, der ihn noch retten könnte, sich von ihm losgesagt? Helfe Gott, daß der Friedefürst für uns einen süßeren Titel habe, als jenes fremde und eisige: „derselbige Mensch!“ Entsetzlicheres vermag ich mir nicht zu denken, als aus Seinem Munde hören müssen: „Ich kenne dich nicht! - Ich weiß nicht, wo du her bist! - Ich habe dich nie erkannt! Weiche von mir!“

„Es wäre jenem Menschen besser, daß er nie geboren wäre.“ Nein, in erschütternderer Weise hätte sich der Herr über die unheilvolle Lage des Verräthers nicht vernehmen lassen können, als er es in diesen Worten thut. Ein bloßes „Wehe“! hätte uns für den tief Gesunkenen immer noch einige Hoffnung gelassen, und wenigstens nicht so schauerliche Vorstellungen von dem Jammer, dem er entgegengehe, in uns erweckt, als jene Erklärung sie uns gewaltsam aufdrängt, durch die auch die allerletzte Aussicht auf eine noch mögliche Rettung des Jüngers vernichtet wird. O, des herzzerreißenden Blicks, den jene Bezeugung in die Abgründe der Verdammniß uns eröffnet! Wie grauenvoll muß das Schicksal der Verstoßenen sein, wenn der Herr selbst versichert, Judas habe Grund, den Tag seiner Geburt zu verfluchen! O, wenn das Loos der Verworfenen nur Halbwege noch erträglich wäre, der König der Wahrheit hätte nimmer so geredet. Indem aber Er uns aufs unzweideutigste zu verstehn gibt, daß dem verlorenen Kinde etwas Besseres nicht zu wünschen wäre, als eine Wiederkehr in's Nichts, so malt er damit ein Bild der Hölle uns vor Augen, das uns alle Gebeine erzittern machen sollte. Und was dünkt euch, Freunde, wenn es wirklich aus der Hölle noch einen Ausweg gäbe, und auch durch ihre wüsten Gründe noch der Engel der Hoffnung schritte; ja, wenn den Verdammten noch Buße gepredigt und Gnade angeboten würde, oder gar die „Wiederbringung aller Dinge“ eine Wahrheit wäre: hätte dann der Herr wol eine Rede sich gestattet, wie wir sie Ihn hier im Blick auf Judas führen hören? Nimmer, nimmer! Wir begegneten milderen Worten dann auf seiner Lippe. Denn, gälte es auch, Jahrtausende hindurch das Allerbitterste zu erdulden; es erzeigete sich aber unter dieser Marter noch die göttliche Liebe an uns, und es ginge tröstend noch die Hoffnung zu unserer Seite, und endlich, endlich gelangte man doch noch dazu, Gott von Angesicht zu schauen, wie Er ist, und in den Palmenhainen des himmlischen Friedens mit allen vollendeten Gerechten Ihm und dem Lamme das ewige Halleluja anzustimmen; sagt, würde es dann in der That nicht doch noch „besser“ sein, daß man geboren ward, als wenn man im Reiche des Nichts geblieben wäre? O, gewiß hätte man in diesem Falle alle Ursache, immer noch seine Geburtsstunde mit Dank zu Gott zu segnen, und keine, sie zu verwünschen, oder gar zu verfluchen. Nun aber bezeuget Jesus selbst, daß es dem Judas besser wäre, nicht geboren zu sein, und so wissen wir genug, um der letzten Hoffnung auf eine Wiederbringung der Verdammten Lebewohl zu sagen. Entsetzlich ist's, hiezu sich genöthiget zu sehn; aber dem Worte des Herrn nach ist dem nicht auszuweichen. Die Ewigkeit der Höllenstrafen steht somit fest. Der Wurm stirbt, das Feuer erlischt nicht mehr in jenen Jammerklausen. -

Urtheilt nun selbst, ob dem Judas eine grauenvollere Schrift auf seinen Grabstein hätte geschrieben werden können, als diejenige, die wir heute vernahmen. Jetzt erprobt er ihre Wahrheit. Jetzt umlodern ihn die Gluten einer unendlichen Verzweiflung. Und wimmert er jetzt, wie einst Jeremias: „Wehe mir, meine Mutter, daß du mich geboren hast;“ oder wie weiland Hiob: „Der Tag müsse verloren sein, da man zu meinem Vater sagte: Dir ist ein Sohn geboren,“ so drückt er damit nur das bestätigende Siegel auf seines Meisters Wort und Weheruf: „Es wäre demselbigen Menschen besser, daß er nie geboren wäre!“

2.

Nachdem wir den schauerlichen Inhalt jenes Schreckenswortes betrachtet haben, fragen wir nach dessen Anwendbarkeit und ihren Grenzen. Ihr bedauert den unglückseligen Apostel. Wer sollte ihn nicht aufs tiefste mit euch beklagen? Verhüte nur Gott in Gnaden, daß der Schauerspruch, welcher über ihn erging, einmal euch selber treffe! - Ihr seht mich befremdet darob an, daß ich also rede. Ja, Freunde, möglich ist es, daß es auch dem Einen oder Andern in dieser unsrer Versammlung aus gleichem Grunde, wie dem Judas, besser wäre, er wäre nie geboren worden. Es klingt entsetzlich, was ich sage, und mir ist's, als hörte ich euch Alle wie mit einer Stimme schreien: „Ferne, ferne sei, was du besorgest!“ Aber hört, und laßt mich weiter reden. Mit Bestimmtheit das Individuum zu bezeichnen, dem jenes Wort des Herrn gelte, steht natürlich nicht in meiner Macht. Mein Auge ergründet keines Menschen Zukunft; und selbst zu dem versunkensten Bösewicht vermäße ich mich nicht, zu sprechen: „Dir wäre besser, daß du nicht geboren wärest.“ Könnte doch, ehe ich mich's versähe, die freie Gnade, welche die Person nicht ansteht, sich an ihm verherrlichen, und mich in tiefbeschämender Weise Lügen strafen. Wozu ich aber tüchtig bin, ist dies: ich kann sagen: Wer so und so sich findet, hat Grund, um seine Seele besorgt zu sein. Wer diese und jene Merkmale mit Judas theilt, theilt auch mit ihm die Fluchsentenz des Herrn. Ihr fragt mit banger Spannung, welche diese Signaturen seien? Wohlan, ich führe sie flüchtig an euch vorüber. Bespiegelt euch in ihnen!

Vorab laßt euch bedeuten, daß eine äußere Unsträflichkeit euch noch keinen Grund zu dem beruhigenden Gedanken gibt, ihr gehörtet zu denen nicht, welchen es besser wäre, sie wären nie geboren worden. Lasset nicht außer Acht: auch Judas hatte äußerlich die Welt verlassen, war mit der Milch der göttlichen Wahrheit groß gesäugt, lebte nachmals ununterbrochen unter Kindern Gottes, wurde von denselben arglos als ein Bruder anerkannt, betete und fastete mit ihnen, gehörte zum unmittelbaren Gefolge des himmlischen Friedensfürsten, war dessen Apostel und Vertrauter, half sein Wort verkünden, erlitt Schmach um Christi willen, vollbrachte gleich den andern im Namen Jesu Thaten und Wunder, und - trotz alledem wäre es „ihm besser gewesen, er wäre nie geboren worden.“ O beherzigt's, Geliebte, und hütet euch, eure Ehrbarkeit, eure Gottesdienste, eure christliche Erkenntniß, euern guten Namen bei den Gläubigen, und was deß mehr ist, schon für eine zuverlässige Schanze zu erachten, hinter der ihr vor den Höllenflammen gesichert wäret.

Nun aber kehret eure Blicke in euer Inneres, und stehet mir, oder vielmehr Dem, in dessen Namen ich zu euch spreche, Rede und Antwort. Es gibt Menschen in der Welt, die den Mantel des Christenthums äußerlich um sich werfen, um, wie Judas, einen Teufel dahinter zu verbergen. Sie möchten, gesichert vor dem Richterblick der Welt, den Dämonen der Wollust, des Geizes oder der Hoffarth dienen können; und eben darum verhüllen sie sich in die Larve des Christenthums. Ich klopfe bei euch au und frage: Sind der Art Leute auch in unsrer Mitte? - Es gibt Menschen, die, wie oft auch schon gewahrschaut und geweckt, dennoch sich Christo nicht ergeben mochten, weil irgend eine geheime Schooßsünde, die zu verdammen sie nicht Muth zu finden wußten, sie gefangen hielt. Nun stöhnen sie dieser Sünde mit dumpfer Gewohnheitsruhe, und in der Länge der Zeit wuchs ihre Schuld dermaßen an, daß sie jetzt eher zu allem Andern sich verständen, als dazu, mit dieser Schuld frei an's Licht herauszutreten. Sitzen Solche etwa auch in diesen Bänken? - Es gibt Leute, die, genau besehn, nur eine Sorge kennen, die eine, daß man ihnen hinter die Maske schauen, und entdecken möchte, daß sie nie bekehrt gewesen seien, obwol sie dafür seit Jahren schon gehalten wurden. Nun ist ihnen die Heuchelei wie zum Instinkt geworden, und selbst unbewußt sind sie immer beschäftigt, ihre Worte, Blicke, Mienen, wie ihr Thun zu Schleiern zu verweben, mit denen sie ihre wahre Gestalt umziehen. Zählen wir solche Kinder des Scheins auch in unsern Reihen? - Leute gibt's, denen es so oftmals schon gelungen ist, den Donner der Wahrheit, der an ihre Seele schlug, durch Trotz oder absichtliche Zerstreuung und Selbstüberredung zu überwinden, daß sie nun eine Fertigkeit in Entkräftung der göttlichen Gnaden- und Geisteszüge erlangten, und gegen die erschütterndsten Schrecken der Ewigkeit eben so bombenfest, als gegen die süßesten Lockungen der göttlichen Liebe unempfindlich geworden sind. Finden sich solche verpanzerte Seelen unter uns? - Es gibt Leute, die, wenn sie vielleicht auch selbst mit einem geringen Abfall ihres Mammons an der Arche des Reiches Gottes bauen helfen, es dennoch mit Mißbehagen gewahren, wenn dieses Reich gedeiht und Fortschritte macht, und die bei Zärtlichkeitsbezeugungen für den Herrn, wie die der Maria, mit Judas sprechen möchten: „Dieser Unrath wäre besser gespart, und zu reelleren Zwecken verwendet worden.“ Ja, diese Leute verspüren sogar eine geheime Schadenfreude, wenn etwa das Missionswelk, zu welchem sie möglicher Weise des Anstandes halber selber beigesteuert, in Rückgang zu kommen, und überhaupt der Eifer für die Sache Gottes zu erkalten scheint. Ich frage: Athmen solche falschen Brüder in diesen Mauern? - Es gibt Leute, die in soweit von der Wahrheit des Evangeliums überwunden wurden, als sie sich genöthigt sehen, derselben in ihrem Gewissen Zeugniß zu geben; aber dies wider ihren Willen und zu ihrem Verdruß; weßhalb sie, so oft sie etwas hören oder lesen, was den Gedanken in ihnen nährt, daß man auch ohne Christum, von dessen Heilsordnung sie sich gerne entbunden sähen, den Himmel ererben könne, ein innres Wohlbehagen fühlen. Sind solche Menschen unter euch? - Untersucht die Gründe eures Wesens, und wisset: wer zu der einen oder andern der eben bezeichneten Menschenklassen sich zählen muß, von dem sage ich - nicht, daß es ihm besser wäre, er wäre nie geboren worden; wohl aber, daß es im Reich der Möglichkeiten liege, es wäre ihm Solches wirklich besser. Er hat Grund zu der Besorgniß, daß jene schauerliche Grabschrift von dem Leichenstein des Judas einst auf den seinen übergehen könne. O Freunde, wenn ich mir denke, daß vielleicht auch eure Wiege besser ein Todtensarg gewesen wäre; daß die Hebamme in dir und dir ach! einen Höllenbrand einst in die Arme deiner Mutter legte; daß eure Eltern mehr Ursache gehabt hätten, eure Geburtsstunde mit Weinen als mit Frohlocken zu begrüßen; daß das Wasser der heiligen Taufe an euch vergeudet ward, und gleichsam nur zum Spott über euch dahinfloß; daß, während man freudiger Hoffnungen voll euer erstes Fest beging, euere Namen statt in das Buch des Lebens in dasjenige des Todes eingetragen wurden: - wenn ich mir Solches vorstelle, so will mir vor Entsetzen das Blut in den Adern gefrieren. Nein, nein, ich sage nicht, daß es wirklich also sei; aber möglich ist es, daß es auch euch besser wäre, ihr wäret nie geboren worden. Und daß ihr nur Grund habt, an eine solche Möglichkeit zu glauben, schmettert euch das nicht schon wie ein Donnerschlag darnieder?

Ja, ihr bebt, ihr steht bestürzt. Laßt mich's wenigstens voraussetzen, daß dem also sei. Denn wenn sich's anders verhielte, und ihr gähnen könntet unter solchen Wahrheitsdonnern, oder gar mit satanischem Trotze sie verlachen; wahrlich, so fehlte nicht mehr viel, ich spräche geradezu von euch im Namen Gottes: „Es wäre diesen Menschen besser, daß sie nie geboren wären!“ - Doch verhüte Gott, daß ich die Grenzen meiner Befugniß überschreite! Den Samen Abrahams zu beunruhigen, bin ich nicht ermächtigt, und mit Jerusalem, wie tief es darniederliege, soll ich „nicht anders, denn freundlich“ reden. Ich weiß, es gibt mehr, als eine Seele in unsrer Mitte, die das Schreckwort über Judas nicht angeht, ob sie gleich darum sorget, daß es sie treffen könnte. Laßt mich auch diese Seelen mit flüchtigen Zügen euch kenntlich machen, damit Keiner zage, der zu frohlocken und Gott für seine Gnade zu preisen berechtigt ist.

Von denen unter uns, die mit Paulus jauchzen können: „Ich weiß, an welchen ich glaube,“ rede ich nicht. Diese im Leben der Gnade fest Gewurzelten und durch den heiligen Geist Versiegelten würden lächeln, wenn ich mich bemühen wollte, ihnen erst zu beweisen, daß auf sie jenes Wort keine Anwendung erleide. Was ich ihnen sagen würde, zeugte ihnen längst ein Anderer. An euch aber richte sich meine Rede, Bekümmerte ihr, und von Zweifeln hin und her Geworfene, bei denen die Frage noch schwebt, ob ihr eure Geburtsstunde segnen dürft, oder sie zu verwünschen Ursache habet. Seid stille! Ich weiß um euern Jammer. Nichts entscheidet noch der Umstand, daß ihr weder Glauben, noch Liebe, noch Kraft der Heiligung in euch verspürt, und daß ihr euch täglich noch als Fehlende und Strauchelnde ertappt. Bitter ist es, sich so erfinden müssen; aber nicht wahr, dies eben ist auch euer Schmerz, und euer größter, daß es so traurig um euch stehe? Nicht wahr, Begehrenswertheres schwebt euch vor der Seele nichts, als daß auch ihr in voller Wahrheit mit der Braut im Hohenliede möchtet sagen können: „Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Rosen weidet?“ Nicht wahr, wenn als Bedingung dieses Glücks euch auferlegt würde, das Kreuz in seiner empfindlichsten Gestalt dem Herrn nachzutragen, und vor aller Welt, euerer Schuld geständig, euch selbst an den Pranger zu stellen: ihr wäret unweigerlich dazu entschlossen? Nicht wahr, ihr gäbet euer Liebstes darum hin, daß ihr euch Christi getrosten, und Seiner Gnade euch rühmen könntet? O antwortet „Ja“ auf diese Fragen, und ich erkläre euch im Namen dessen, der „das Verlangen der Elenden erhört“: Euch trifft der Weheruf über Judas nicht, sondern euch gilt die frohe Botschaft, daß ihr die Stunde benedeien dürft, in der ihr einst das Licht der Welt erblicktet.

O, es ist gut, daß ihr geboren wurdet! Zu großen Dingen seid ihr ausersehn. Ihr sollt Gott dem Herrn zu Leuchtern seiner Gnade dienen. Mit euch gedenkt er, als mit Gefäßen der Herrlichkeit, seinen Tempel zu schmücken. Euch begehrt er vor Himmel, Erde und Hölle als Zeugen dessen aufzustellen, was das Kreuzesblut vermag. Zu Sängern hat er euch erkoren, Ihm und dem Lamme das große Halleluja anzustimmen. Als ihr geboren wurdet, standen freundliche Engel an eurer Wiege, lieber eurem Haupte flüsterte eine erhabene Stimme: „Ich habe dich je und je geliebet!“ Eure Eltern drückten in euch einen Himmelseiben an ihre Brust. Eine göttliche Vermächtnißakte fiel euch in den Schooß, als das Wasser der Taufe eure Stirn benetzte. Ihr tratet in dieses Thränenthal nur herein, um mit raschem Schritt dasselbe zu durchmessen, und dann in dem „Jerusalem da droben“ die bleibende Stadt zu finden. Der König aller Könige schrieb den Namen, den man euch gab, in Sein Lebensbuch. Die Gerechtigkeit seines Sohnes war das erste Gewand, das er euch umwarf; und das letzte, mit dem er euch schmücken wird, wird das Lichtkleid der himmlischen Verklärung sein. Wie denn, daß es nicht gut sein sollte, daß ihr geboren wurdet? Wäre es doch schmerzlich zu beklagen, wenn ihr in der Reihe der Wesen fehltet! Denn dann tönte einst eine Stimme weniger in dem großen Jubelchore am Throne Gottes, und eine Perle funkelte weniger in dem Diadem des himmlischen Friedensfürsten. Darum dreimal Heil euch, daß ihr da seid! Trotz allen Elends, in welchem ihr noch schmachtet, preiset den Herrn! Wir preisen ihn mit euch aus froh bewegtem Herzen.

Ihr Andern aber, die ihr noch gleichgültig am Kreuze Immanuels vorüberschreitet, oder gar dem heiligen Geiste widerstrebt, der „um die Sünde“ euch „straft“, und zu Jesu euch weisen will, was sage ich schließlich euch? - Hört, hört! Euch läute ich heim mit den ernsten, herzerschütternden Glockenpulsen des alten Kirchengesanges:

Ach, sichrer Mensch, wach auf, wach auf,
Halt ein in deiner Sünden Lauf,
Auf, wandle um dein Leben!
Wach auf, denn es ist hohe Zeit,
Dich übereilt die Ewigkeit,
Dir deinen Lohn zu geben!
Vielleicht ist heut der letzte lag
Wer weiß doch, wann man sterben mag?! - Amen. –

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