Krummacher, Friedrich Wilhelm - Ein Rückfall.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Ein Rückfall.

Matth. 18, 21. 22.
Da trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Ist's genug siebenmal? Jesus spricht zu ihm: Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal.

Schon manche Fährlichkeit haben wir den Pilger Gottes auf seiner Wallfahrt nach der himmlischen Heimath bestehen gesehn. Wir werden ihn heute von einer neuen, und zwar von einer noch bedenklicheren, als die bisherigen, bedroht erblicken. Und denkt nur, ein Apostel ist diesmal nicht der Warnende, sondern in eigener hoher Person das abschreckende Warnungsexempel. Wir werden euch, wie seltsam es klingen mag, zurufen müssen: „Hütet euch vor dem Abwege des heiligen Petrus, und verschließt euch dem Geiste, von welchem ihr ihn, freilich vorübergehend nur, hier beherrscht seht. Petrus ist aus dem richtigen Geleise heraus, und, zwar nicht auf den Weg der Sünde, aber doch auf den der gesetzlichen Sinnesart zurückgerathen. Ist denn dies ein großes Unglück? Ob es ein solches sei, mögt ihr selbst beurtheilen, nachdem wir die beiden Zustände, nemlich den der Gesetzlichkeit, und den des evangelischen Glaubenslebens näher ins Auge gefaßt haben werden. Ein hochwichtiger Gegenstand ist es, dem wir heute unsre Betrachtung zuwenden. Wir werden Gelegenheit haben, zwischen Natur und Gnade, zwischen der Tugend eines außerhalb der Gemeinschaft Christi lebenden sittlichen Menschen, und derjenigen eines gläubigen Christen unterscheiden zu lernen. Segne der Herr unser Wort, und lasse Er uns durch dasselbe einmal ein hell scheinendes Licht über die Grenze zwischen sogenanntem Moralismus und evangelischer Gottseligkeit aufgehn!

l.

Petrus tritt zu seinem Meister, und spricht: „Herr, wie oft muß ich meinem Bruder, der an mir sündiget, vergeben? Ist's genug siebenmal?“ - Wir sind erstaunt, aus eines Petrus Munde eine solche Frage zu vernehmen. Aber halten wir ihm dies Wort zu Gute. Er spricht's, wie er öfter zu thun pflegte, unüberlegt, und ist erst ein angehender Jünger. Das Geheimniß der Erlösung, die zu vermitteln sein Herr erschienen war, ruht für ihn noch unter sieben Siegeln. Ein unbewußtes Verlangen nach derselben durchwogt allerdings auch seine Seele schon; aber die Pfingsttaufe, die zur Wahrheit helfende und Klarheit bringende, harrt seiner noch als ein Zukünftiges. „Was aber“, höre ich fragen, „war Unrechtes an des Jüngers Rede?“ - Wird gefragt: „was Unrechtes?“ so erwiedere ich: „Nichts.“ Fragt man aber: „Was Unchristliches?“ so antworte ich: Alles: das „Soll ich?“ wie das „Wie oft soll ich?“ und ganz besonders das: „Ist siebenmal genug?“ Es tritt uns in, Petrus, in dem Momente wenigstens, da er hier redet, kein evangelischer Christ, sondern ein natürlicher Mensch entgegen, der, freilich aus dem Sündenschlafe erweckt, und zu einem halb klaren Bewußtsein seiner sittlichen Lebensaufgabe gelangt, unter dem Gesetze steht. - „Wie das?“ - Laßt uns hören! -

Der Jünger beginnt: „Wie oft soll, oder muß ich?“ - „Muß“, „soll!“ - Es entgeht euch nicht, daß sich Petrus hier seinem Gott nur als einem gebietenden Gesetzgeber gegenüber fühlt, und mit seiner Tugendübung unter dem Joche des heischenden Gebots, unter dem „Stecken des Treibers“ steht. Petrus ist Knecht. Das „Soll“ bestimmt sein Thun; die Nöthigung ist das Motiv seines Strebens. „Wie oft soll ich?“ fährt er zu fragen fort. Er rechnet, er zählt. Ihr merkt, nur zur Noth will er seine Schuldigkeit thun, und setzt den Gehorsam, den Gott ihm auferlege, in eine gewisse Zahl und Serie äußerlicher guter Werke. Er fragt endlich, ob „siebenmal vergeben genug sei.“ Hier tritt sein Knechtsverhältniß vollends aufs grellste zu Tage. Welch' eine sauere Arbeit muß ihm das Vergeben sein, da er nach siebenmaliger Erfüllung dieser Pflicht von derselben dispensirt zu werden hofft! Am liebsten entschlüge er sich ihrer ganz, könnte er's ohne der dräuenden Majestät des göttlichen Gesetzes, und dem unerbittlichen Richter in seiner Brust, seinem Gewissen, damit ins Angesicht zu schlagen. So will er denn schon zufrieden sein, wenn er die beschwerliche Forderung jener Tugend des Verzeihens nur auf das bescheidene Maaß einer siebenmaligen Uebung beschränkt sieht, und frei aufathmen wieder, wie ein überbürdeter Arbeitsmann beim Stundenschlag des anbrechenden Feierabends, wenn er aus dem Munde des Herrn die Antwort vernimmt: „Ja, siebenmal ist genug! Ein Mehreres wird dir nicht zugemuthet!“ Ahnet ihr jetzt, was unter Gesetzlichkeit oder gesetzlicher Sinnesart zu verstehen sei? Sie ist das entschiedene Gefühl unbedingter Gebundenheit an ein göttliches Gesetz, und die gehorchende Unterwerfung unter letzteres, begleitet jedoch von einer unüberwindlichen geheimen Unlust, von einem verborgenen tiefinneren Widerstreben.

Nun aber, Freunde, verrechnet euch nicht, als gedächte ich über diese Gesetzlichkeit ohne Weiteres den Stab zu brechen. Ich bin davon so weit entfernt, daß ich sie vielmehr der Gesetzlosigkeit gegenüber mit aller Entschiedenheit in Schutz nehme. Ein Mann, den ein reges Pflichtgefühl beseelt, ist ein Ehrenmann. Ein Schurke dagegen, wer gewissenlos, und nur seinen Lüsten fröhnend, die Bahn der Willkühr wandelt, oder, wie die Schrift sagt, „Zucht hasset, und Gottes Gebote hinter sich wirft.“ - Achtung für den berufstreuen Beamten, für den prompten Soldaten, für den redlichen Handelsherrn, für den ergebenen und zuverlässigen Knecht! Achtung für Jeden, der in seinen häuslichen, bürgerlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen seiner Obliegenheiten sich bewußt ist, und denselben um Gottes und seines Gewissens willen treulichst, nachzukommen trachtet! Auch kommt mir's nicht in den Sinn, ein Verwerfungsurtheil darüber auszusprechen, daß man dem Pflichtgebot auch dann den schuldigen Tribut entrichtet, wenn man wenig Neigung dazu verspürt, oder sich am liebsten ganz davon entbunden sähe. Ja, auch für ein: „Ich soll, ich muß der und der Arbeit mich unterziehen, den und den Gang thun, diese und jene Beleidigung verzeihen; und darum thue ichs“, trete ich vertheidigend in die Schranken. „Was würde aus der Welt“, spreche ich mit einem andern Ausleger unsrer Textesstelle, „wenn Jeder nur dann seine Pflicht erfüllen wollte, wenn er sich dazu geneigt und aufgelegt fühlte?“ Menschen, die solcher Freiheit, oder vielmehr solcher Willkühr das Wort zu reden sich erdreisteten, sollte man in Kerker und Bande legen, da sie ja, wenn auch unbewußt, nichts Geringeres, als die Zerstörung der ganzen menschlichen Gesellschaft im Schilde führen. Es ist ganz wohlgethan, daß wir uns nach Gewissen und Gottes Wort ein bestimmtes sittliches und berufliches Lebensregulativ entwerfen, und dasselbe auch da eine unumschränkte Machtherrschaft über uns üben lassen, wo wir, wie man zu sagen pflegt, „in einen sauern Apfel beißen“, d. h. unsre tiefgewurzeltsten Neigungen verleugnen und kreuzigen müssen. Es frommt dies nicht allein der bestehenden Weltordnung; es gereicht uns auch persönlich zum Heil, indem es uns in Zucht hält, vor vielen Thorheiten und Müßiggängersünden uns bewahrt, und das Maaß unsrer sittlichen Kraft uns zum Bewußtsein bringt. Gewiß ist's wahr, was Jemand ausruft: „Tausendmal besser eine Welt voll keuchender, aber gehorchender Frohnknechte, als voll zuchtloser, emanzipirter Burschen und Lotterbuben!“ Wir sagen dies unzweifelhaft auch im Sinne Gottes, der ja auch einst seinem erwählten Volke, dem halsstarrigen Israel, um es wenigstens vor der Ansteckung heidnischer Entsittlichung zu sichern, das schwere Joch jener zahllosen Gesetze und Gesetzlein auf den Nacken legte, und es am Kappzaum der Strenge führte, so lange es von der freien That der Liebe noch keine Ahnung hatte. -

Endlich will ich sogar auch denjenigen noch nicht unbedingt verdammen, der einmal zu der Frage sich veranlaßt sieht, ob es „genug“ sei, siebenmal vergeben, oder helfen, oder was irgend sonst für Gutes thun. Spricht sich in solcher Frage doch wenigstens der ehrenwerthe Wunsch aus, seiner Pflicht vollkommen nachzuleben. Ein solcher Mensch steht sittlich ungleich höher, als tausend Andere, denen jeder Scrupel darüber, ob sie auch ihre Schuldigkeit thun, etwas durchaus Fremdes ist, weil sie von einer sittlichen Richtschnur ihres Lebens und Wandels überhaupt nichts wissen, sondern nur dem Strome ihrer Neigungen und Gelüste folgen.

So ist denn zur Ehre der Gesetzlichkeit das Mögliche gesagt. Jetzt aber nähern wir uns ihr mit einer andern Fackel. Vor Gott besteht sie nicht. In Gottes Augen hat sie keinen, oder nur einen sehr bedingten Werth. Sie führt darum auch nicht zum Leben, sondern gebiert den Tod, wie sie ja auch mir lauter innern Tod zu ihrem Quell- und Ausgangspunkte hat. - Urtheilt selbst! Wenn Petrus fragt: „Wie oft soll ich vergeben? Ist siebenmal genug?“ so tritt uns in dieser Frage zunächst die grundfalsche Vorstellung entgegen, als bestehe der Gehorsam, der vor Gott dem Herrn gelte, in einer gewissen Summe äußerlich gethaner guter Werke und Tugendübungen. Gott aber verhandelt mit den Seinen nicht, wie Jemand richtig bemerkt, „auf dem Wege des Soll und Haben“; sondern sieht vor allem Andern das Herz an, und fordert das Herz, das ganze Herz. - Aus der Petrusfrage erhellt zum Andern, daß er das Gute, was er übt, nicht aus freiem, innern Drang, sondern im Gegentheil mit einer entschiedenen innern Abneigung vollbringt. Er schmeichelt sich mit der süßen Hoffnung, siebenmal vergeben werde ja genügen. Zur Freude kann ihm mithin das Vergeben so wenig gereichen, daß es ihm vielmehr ein saures Stück Arbeit dünken muß. - Es geht ferner aus Petri Frage hervor, daß er sich auf sein siebenmaliges Vergeben doch etwas zu Gute thut. Er scheint dafür zu halten, daß er damit dem Gebot vollkommen Genüge geleistet habe; und was ist das Anderes, als ein leiser Ansatz von grobem Pharisäismus? - Endlich verräth uns Petrus durch seine Frage, daß er trotz seiner selbstgerechten Einbildung doch seiner Sache nicht recht traut. Nein, innern Frieden hat er nicht. Denn wenn er sicher wäre, seine Pflicht erfüllt zu haben, wie würde er dann noch fragen, ob, was er gethan, genug sei? In der That, es hätte der Stand der Leute, die wir mit dem Namen der „Gesetzlichen“ bezeichnen, uns nicht treffender und vollständiger vor Augen gemalt werden können, als ihn uns hier das Verhalten Petri zur Anschauung bringt. Jene Menschen haben ein lebendiges Pflichtbewußtsein; aber sie meinen, durch äußerliche löbliche Handlungen sich mit demselben abzufinden. Sie üben mancherlei Tugenden; aber knechtisch und mit Beschwer, und sähen den Kreis ihrer Pflichten viel lieber verengert, als erweitert. Sie vergeben; aber nur unter innerem Widerstreit reichen sie dem Beleidiger die Hand. Sie gratuliren dem Bevorzugten, ja; aber ihr Herz nimmt an dieser Beglückwünschung keinen Theil. Sie beten. Aber was ist ihr Gebet? Nicht quillt es frei aus innerster Herzenstiefe, sondern ist erzwungen und gemacht. Sie verrichten Hunderterlei, was Gewissen und Beruf von ihnen fordern; aber, falls nicht etwa die Hoffnung irgend eines zeitlichen Gewinns sie anspornt, leisten sie es nur, weil es ihnen befohlen ist, und leisteten es viel lieber nicht. Sie fragen: „Ist's nun genug?“ Was würde ein menschlicher Vater zu seinem Sohne sagen, wenn dieser zu ihm spräche: „Liebe ich dich nun genug? Befolgte ich jetzt oft genug deine Winke? Habe ich jetzt dir Freude genug bereitet?“ Der Vater würde erwiedern: „Gehe hin; du bist nicht mein Sohn, sondern ein Tagelöhner bist du!“ Und Gott, der Heilige, sollte Gefallen an der Gerechtigkeit eines Menschen haben, der ihm vorrechnete, was Alles er nun schon Seinen Forderungen gemäß verrichtet habe, und dann die Frage folgen ließe, ob es nicht jetzt genug sei? Nimmermehr! Und doch bilden sich die gesetzlich Gesinnten ein, sie thäten genug, und gerathen so unvermerkt in's Fahrwasser der Pharisäer. Trotz ihres Gerechtigkeitsdünkels aber haben sie nicht Frieden, sondern leiden unter einem fortwährenden Innern Druck und Unbehagen. Das macht der ewige Conflict und Widerstreit, in dem das Pflichtgebot ihres Gewissens und die Neigung ihrer Natur mit einander stehen. Sie können nicht, wie einst ihr Meister, sagen: „Deinen Willen mein Gott thue ich gern, und dein Gesetz habe ich in meinem Herzen!“ Und eine Pflichterfüllung, wie die ihrige, sollte vor Gott bestehen? Einer Blasphemie machte der sich schuldig, der dies behaupten wollte.

Der Pfad der Gesetzesmenschen, wie sein er gleiße, führt nicht zum Himmel, sondern läuft ohnfehlbar in eine andere Sphäre aus. Wie ähnlich er in mancher Beziehung dem schmalen Wege sieht, so ist er doch der breite, der in der Verdammniß endet.

2.

Was ist denn im Gegensatze zu dem gesetzlichen Stande der evangelische? Es ist der Stand der Freiwilligkeit und Freiheit. Hört den Herrn! Auf das: „Ist's genug, siebenmal?“ erwiedert Er seinem Jünger mit großem, feierlichem Nachdruck: „Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal!“ Wie, auch der Meister zählt und rechnet? - Ich denke, ihr werdet Ihn ja schon verstehen. O bewunderungs- ja anbetungswürdige Weisheit und Tiefe in jedem Worte, das aus Seinem Munde geht! Der Herr nennt hier eine bestimmte Zahl, aber in der Bedeutung einer unbestimmten, und will sagen: „Hier ist das Zählen nicht an seinem Orte. Du vergibst erst dann genug, wann dir gar nicht mehr einfällt, zu fragen: „wie oft“ du vergeben müssest, oder ob's nun „genug“ sei, weil du dich immer zum Vergeben geneigt fühlst, es nicht für eine Last, sondern für eine Lust erachtest, und dir niemals darin genug thust.“ - Aber, was ist hiezu von Nöthen? Nichts, als das Eine, daß dein Herz zu einem Tempel der Liebe, der Demuth, Geduld und der Sanftmuth werde. Diese sind die Wurzeln derjenigen Gerechtigkeit, die allein in Gottes Augen Geltung hat. Wer aber pflanzt mir diese Himmelspflanzen in meinen Garten? - Keines Sterblichen Hand, sondern allein der Herr, der der Geist ist. - Und wie geschieht dies? Wann keimen und knospen diese Himmelsblumen? - Antwort: Erst dann, wenn dir selbst vergeben wurde! Hier liegt der Schlüssel zu dem Geheimniß, wie allein zu aller Gott wohlgefälligen Tugend zu gelangen sei. Der Herr reicht diesen Schlüssel seinem Jünger in dem Gleichniß dar, das er unmittelbar dem ihm auf seine Frage ertheilten Bescheide folgen läßt. Es ist das Gleichniß von den beiden Schuldnern, deren einer seinem Herrn zur Zahlung von zehntausend Pfund verpflichtet, aber insolvent, zahlungsunfähig ist. Der Herr bedroht ihn mit dem Verkaufe nicht allein seiner Güter, sondern auch seiner Person, und der Personen seiner Gattin und seiner Kinder. Da fällt der Knecht zu seinen Füßen nieder, und spricht: „Habe Geduld mit mir, ich will dir's Alles bezahlen.“ Den Herrn jammert des flehenden Knechtes, und er erläßt ihm großmüthigst seine ganze Schuld. Nun aber hat der also Beglückte einen Mitknecht, der ihm eine viel geringere Summe, nemlich nur hundert Groschen, oder Denarien, schuldet, und jetzt ihn fußfällig bittet: „Habe Geduld mit mir; ich will dir's Alles bezahlen!“ Aber dieser findet bei seinem hartherzigen Gläubiger die Gnade nicht, deren letzterer Seitens seines Herrn sich zu erfreuen hatte. Vielmehr läßt sein Gläubiger ihn greifen, und in's Gefängniß werfen, von wo er nicht entlassen werden soll, bis er seine ganze Schuld entrichtet habe. Dies der Kern der Parabel. Petrus, der um die Deutung derselben keinen Augenblick verlegen sein konnte, soll nun sagen, ob er es für möglich halte, daß ein Mensch, dem der Herr aller Herren seine ganze Sündenschuld erlassen, mit seinen Beleidigern verfahre, wie jener begnadigte Knecht mit seinem Mitknecht. Und Petrus hat es tief gefühlt, dies sei unmöglich, und hat also unversehens die Lösung des Geheimnisses gefunden, wie man tüchtig werde, gern, willig, und immer auf's neue zu vergeben.

Wie pflegt es aber zuzugehen, daß ein Mensch aus dem Stande der Dienstbarkeit in den der göttlichen Freiheit hinübergeleitet wird? Vernehmt es! Der Mensch wird zuerst in seinem innersten Bewußtsein und Gefühl zum Schuldner vor Gott. Der gesetzliche Zustand, in dem er sich befindet, wird ihm immer unerträglicher. Das dumpfe Unbehagen seiner Seele, von dem seine nur durch ein Soll und Muß hervorgerufene Tugendübung stets begleitet ist, steigert sich zur brennenden Pein und Qual, und das um so mehr, da er mit wachsender Klarheit sich bewußt wird, daß seine ganze bisherige Pflichterfüllung, genau besehen, nur ein äußerliches, todtes Werk, ja nichts Anderes war, als eine Scheingerechtigkeit, und er moralisch nackt, blos und durchaus verwerflich vor dem Angesichte Gottes stehe. Aber welch' eine erschütternde Entdeckung dies! Er schmeckt in seinem Innern nichts, als Schauer des Gerichts und des Verdammungsurtheils. Er fühlt sich der Verzweiflung nahe. Aber nun nahete auch der Augenblick, da ihm ein Licht um das andre über den Rathschluß der göttlichen Erlösung aufgeht. Er lernt in Jesu den Mittler Gottes kennen; er erfaßt die sühnende Bedeutung seines Gehorchens und seines Leidens; und wie er nun um Gnade und Erbarmen flehend zu Jesu Füßen niedersinkt, vernimmt er in seinem Innern durch Vermittelung des Heiligen Geistes die beglückende Botschaft, daß ihm um Christi, seines Bürgen, willen, Alles für immer vergeben, und er zu einem Kinde und Hausgenossen Gottes auf- und angenommen sei. Nun aber gestaltet für ihn sich Alles anders. Wie weitet sich sein Herz! Wie freundlich milde und wohlwollend gesinnt steht er seinen Brüdern gegenüber! Wie leicht, ja, welche Wonne ist's ihm jetzt, denjenigen zu verzeihen, die an ihm sündigten! Was er hinfort thut, sei's, daß er verzeihe, oder helfe, oder seine Berufspflicht erfülle, oder welchem Gebote sonst Genüge leiste: von Herzen thut er's, mit innerster Willigkeit, mit Lust, mit Freude: denn er weiß, daß er's Dem thue, der ihn so überschwenglich begnadigt hat, und den er mit jedem Athemzug, mit jedem Pulsschlag seines Lebens verherrlichen möchte. Wie frei und quellfrisch strömt jetzt das Gebet aus seinem Innern, zu dem er sonst wie zu einem mühseligen Werkdienst sich treiben mußte! Mit welchem innern Vergnügen ergeht er sich jetzt auf der grünen Aue des göttlichen Wortes, mit dem er sich auch früher wohl einmal beschäftigte, aber wie ein unwilliger Schüler mit seinem Pensum, das erst hinter ihm liegen muß, wenn er wieder heiter blicken soll. Und nie fragt er jetzt bei seiner Pflichterfüllung mehr: „Wie oft?“ oder gar: „Ist's jetzt genug?“ - Je öfter ihm Gelegenheit wird, Dem seine Gegenliebe zu betätigen, der ihn, ach! so über alle Maaßen hoch zuerst geliebt, um so glücklicher fühlt er sich. So' ist der Bann von seiner Seele weggenommen, das Harte, Sprocke, Spröde in seinem Innern in Fluß gebracht, die Zwangskette, die er trug, gesprengt, und er frei durch den Geist und in der Liebe Dessen, von dem geschrieben steht: „So euch der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei.“ Und in voller Wahrheit bezeuget er mit dem Apostel: „Ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen!“

Nun aber sehe er wohl zu, daß er in diesem Stande seliger Freiheit auch beharre! Denn Rückfälle aus demselben sind möglich. Ich bin schon manchen Gottespilgern begegnet, die ihre Christenpflichten wieder wie ein saures Tagewerk verrichteten und zu denen es, wie weiland zu den Galatern, heißen durfte: „Ihr liefet sein, wer hat euch aufgehalten?“ - Wie ging es zu, daß diese „Kinder des Jerusalem da droben, des freien“ wieder zu keuchenden Lastträgern und Frohnknechten wurden, und auf's neue auf den Standpunkt zurücksanken, wo die engbrüstigen Fragen: „Wie oft?“ und „Ist's genug?“ verlauten? Antwort: sie hatten im Fortgange des Lebens vergessen, wie sie in Gottes Augen sittlich gestaltet seien, und darum auch den Maaßstab für die Schätze der Erbarmung verloren, die für die Sünderwelt in Christo Jesu verborgen liegen. Darum, ihr lieben Mitpilger nach der Ewigkeit, versäumen wir es nicht, täglich zu ernstlichster Selbstprüfung vor dem Angesicht des Dreimalheiligen uns einzufinden, täglich vor dem Spiegel seines Gesetzes das Bewußtsein unsres tiefen Elends in uns aufzufrischen; aber eben so auch täglich den ewigen Hohenpriester um erneuerte Zueignung Seines Heiles, in dessen Genusse allein wir frei sind, anzurufen! Alsdann wird uns die eigene Erfahrung lehren, wie wahr der Sänger des 119. Psalms geredet, da er ausrief: „Wenn Du mein Herz tröstest, so laufe ich den Weg deiner Gebote!“

Unter Christi Kreuze fließt
Aller Heil'gung Quelle,
Und was Ihm gefalle, sprießt
Nur an dieser Stelle.
Wenn in Seines Blutes Thau
Dich die Gnade grüßte,
Wird zur Himmelsblumenau
Deines Herzens Wüste.

Bist vom Fluche du befreit,
Bist du's auch vom Zwange:
Denn es wird, was Gott gebeut,
Dir zum innern Drange.
Liebe, die die Furcht vertreibt,
Folgt der Herzensstillung;
Und die Liebe ist und bleibt
Des Gebots Erfüllung.

Drum gib, Jesu, daß nur Dich
Gläubig ich umfange,
Und an Deinem Bilde ich
Unablässig hange.
Wo ich Dich mein eigen weiß,
Treibt in Deinem Lichte
Auch mein armes Lebensreis
Blüthen Dir und Früchte. Amen.

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