Krummacher, Friedrich Wilhelm - VI. David zu Rama.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - VI. David zu Rama.

„Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und nach Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachten, so bist Du doch, o Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Theil.“ So im 73. Psalm Assaph, ein Geistesverwandter Davids, nach Aussage des Buches der Chronika selbst ein „Schauer und Prophet“ und nachmals Davids Sangmeister im Heiligthum. Durch die überwältigende Macht seiner Psalmen weckte David der schlummernden Dichtergaben in Israel viele, und ohne daß dadurch der unmittelbaren Einwirkung des Heiligen Geistes etwas vergeben wird, kann von einer Davidischen „Sängerschule“ geredet werden. Ein beneidenswerther Standpunkt ist es, den der heilige Sänger in dem genannten Psalme einnimmt; zu dem er aber nicht auf glattem Wege, sondern erst nach tiefen innern Kämpfen gelangt war. Er gedenkt im ersten Theile des Liedes einer Thorheit, in die er Hineingerathen sei, indem er die Gottlosen in ihrem Uebermuth beneidet habe, da er gesehen, wie es ihnen so wohl gehe, und sie nicht geplagt würden wie andre Menschen. Sie ständen ja fest wie ein Palast, habe er gedacht, und brüsteten sich darum und führen hoch einher. Was sie redeten, müsse vom Himmel geredet sein. Deshalb falle ihnen der Pöbel zu und spreche lästernd: „Wie sollte Gott vom Himmel darein sehn, und um das sich kümmern, was auf Erden geschieht? Die, so von Ihm weichen, sind glückselig in der Welt, während diejenigen, welche in Unschuld wandeln, der Plage nimmer ledig werden.“ Schier, bekennt Assaph, habe auch er solchen Gedanken bei sich Raum gegeben, ja sie bereits verlauten lassen, und damit an allen Kindern Gottes einen Verrath begangen. Lange habe er sich das dunkle Räthsel dieser scheinbar mit einer göttlichen Weltordnung nicht zu vereinenden Thatsache nicht zu lösen gewußt, bis er in das Heiligthum Gottes eingegangen, und ihm daselbst das Ende der Gottlosen gezeigt worden sei. Da habe er gesehn, wie Gott diejenigen, welche ihm den Rücken kehrten, auf's Schlüpfrige setze, daß sie ein Ende nähmen mit Schrecken. Bevor er aber dies erkannt, habe es auch ihn in seine Nieren gestochen und Erbittrung seines Herzens sich bemächtigt. Ein Narr sei er gewesen, und einem rasenden Thiere gleich vor Gott. „Und dennoch,“ schließt er, „blieb ich stets bei dir; denn Du hieltest mich bei meiner rechten Hand, während mir recht geschehen wäre, wenn du die Strafe einer gänzlichen Verstoßung von deinem Angesicht über mich verhängt hättest.“ - Diese Erfahrung von der Treue Jehova's hat den Sänger auf's tiefste gerührt und ihm das Herz in aufrichtiger Buße zerbrochen. Wie gebeugt steht er jetzt vor Gott, der ihm, dem Sinkenden, so treulich unter die Arme griff; aber wie gehoben auch durch Gottes Barmherzigkeit, und wie voll der Zuversicht, daß der Herr ihn nach seinem Rath auch weiter leiten, ja ihn einst zu Ehren bringen werde. Nun gewann der Sänger einen festen Standpunkt im Leben. Was könnte ihn hinfort noch irre machen? „Habe ich nur dich,“ ruft er mit tief bewegter Seele aus, „so frage ich nach nichts mehr. Die von dir weichen, kommen um; aber das ist meine Freude, daß ich mich zu Gott halte, meine Zuversicht setze auf den Herrn, und preisend verkündige alles dein Thun.“

Glücklicher Assaph! Wer deine Herzensstellung theilte! Nun, Einer theilte sie. Lange vor dir schon, und immer entschiedener, hieß die Losung Davids, deines Meisters! „Wenn ich nur dich habe, o Herr, was bedarf ich dann weiter?“ Wir werden denselben heute neuen Anlaß finden sehn, dieser seiner Lebenslosung auch ferner treu zu bleiben.

1 Sam. 19, 18. David aber entfloh und entrann, und kam zu Samuel gen Rama und sagte ihm an Alles, was Saul gethan hatte. Und er ging hin mit Samuel und sie blieben zu Najoth.

Wünschen wir unserm Flüchtling Glück! Nach dem Sturm in Gibea erquickt ihn wieder ein stilles sanftes Friedenssausen. Er kommt nach Rama, athmet zu Najoth die Luft der Gemeinschaft der Heiligen, und sieht dort einen neuen wider ihn geschmiedeten Mordplan wunderbar vereitelt. Dies die geschichtlichen Momente, welche heute unsre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen.

l.

Wir suchen zunächst den Sohn Isais dort wieder auf, wo wir ihn zuletzt verließen: in der stürmischen Nacht seiner Flucht, unter Gottes freiem Himmel. Da zieht er hin durch Berg und Thal, einsam, ein Gebannter, der nirgends sich sicher glauben darf. Rauscht's wo im Gebüsch, so kommt ihm der Gedanke an einen Hinterhalt. Schimmert aus der Ferne ein Licht zu ihm herüber, so ist's vielleicht der Wiederschein der Fackeln, womit gedungene Meuterer auf ihn fahnden. Wie leicht könnte es geschehen, daß er die Richtung verfehlte, und bei dem nächtlichen Dunkel in Sümpfe oder jähe Abgründe hineingeriethe. Eine höchst mißliche Lage, und ein Liebling Jehova's, ja ein zu großen Dingen von Gott Ersehener ist es, dem wir in ihr begegnen. Nein, auf ein Wohlergehn nach dem Fleische mache Niemand sich Rechnung, der dem Fürsten dieser Welt entsagt, und sich Gott dem Herrn zu Dienst ergibt. Wen nach irdischem Behagen gelüstet, der verbleibe bei dem Haufen derer, die uns Assaph zeichnete. Was die „Kinder des Reichs“ bei Leibes Leben sich zu versehen haben, das rückt uns der Verfasser des Hebräerbriefs im elften Kapitel desselben vor Augen. An zeitlichen Gütern ist ihnen mit Bestimmtheit kaum etwas Weiteres zugesagt, als Nahrung und Kleidung; und auch um dieses Nothdürftigste haben sie nicht selten erst bettelnd an die Himmelspforte anzuklopfen. Das Ganze ihrer Führung hienieden zielt auf Kreuzigung ihres Fleisches sammt dessen Lüsten und Begierden, und Paulus sagt mit Recht in aller Gotteskinder Namen: „Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christum, so sind wir die elendesten unter allen Kreaturen.“ Ob aber auch Keinem, der durch die enge Pforte zum Reiche Christi einging, die Erfahrung erspart wird, daß der Weg zum Leben ein schmaler und dornenvoller sei, so hat ein solcher doch vor den Weltkindern auf Erden schon das voraus, daß er Gottes, und nicht mehr sein eigen ist, daß darum alle Dinge ihm zum Besten dienen müssen, daß sich der Gott, der „in die Hölle führt,“ auch als denjenigen von ihm erfinden läßt, der „wieder herausführt,“ und daß zuletzt Alles für ihn sich herrlich wenden und glorreich enden muß. Man wisse nur die Hülle der Knechtsgestalt zu durchdringen, in der die Auserwählten Gottes hienieden noch einhergehn, und die man beklagen zu müssen geglaubt, wird man selig preisen. Sehet David. Wohl zieht er dort als ein schwer bedrohter Exulant durch die finstre Nacht dahin; aber über seinem Haupte ist Gottes Schild. In göttlichen Gängelbanden schreitet er vorwärts, von unsichtbaren Gefährten, ihm zu Schirm und Dienst bestellt, begleitet, und hoch über ihm am Firmamente grüßen ihn die Sterne als traute Lampenschimmer aus einer seligen Heimath, wo die Stätte ihm schon bereitet ist, und eine Sabbathruhe seiner wartet, die ihn der Aengste und Mühen seiner kurzen Erdenwallfahrt kaum mehr wird gedenken lassen. Was will er mehr und was könnte ihn hindern, das Bekenntniß des Apostels zu dem seinigen zu machen: „Ich habe Alles, und habe überflüssig!“

Auf's treuste behütet langte David vor den Thoren des Städtleins an, das ihm schon bei seinem Abzuge von Gibea als das erwünschte Ziel seiner Nachtwanderung vorschweben mochte. Rama ist's, der auf dem Gebirge Ephraim in der Umfriedigung eines immer grünenden Tamariskenhains gelegene Geburts- und Wohnort Samuels. Nach diesem Mann verlangte sein Herz; bei ihm rechnete er in dem Wirrsal seiner Führung auf ermuthigenden Aufschluß, auf Nach und Weisung. Und seine Hoffnung hat ihn nicht betrogen.

Unmöglich ist's, daß ein mit dem Geiste Gottes getaufter Mensch das neue Wesen, dessen er theilhaftig ward, je ganz verleugne. Wohl kann es geschehn, daß er einmal durch unerwartete und scheinbar allen Verheißungen seines Gottes zuwiderlaufende Schickungen in seinem Glauben tief erschüttert, ja gleichsam aus Angeln und Fugen herausgehoben wird. Immer doch wird von dem „Bilde und der Ueberschrift“, womit sein himmlischer König ihn gezeichnet hat, und wäre es auch nur ein Sehnsuchtsblick nach Oben, oder die abgedrungene Frage: „Herr, warum dies und wie lange?“ oder der Seufzer: „Erbarme dich meiner“, oder ein Verlangen nach gleichgesinnte r Brüdergemeinschaft an ihm wahrzunehmen sein. Vorzugsweise wird sich Letzteres gerade in Noth und Trübsalsstunden in ihm geltend machen. Wie beengt es ihn, alsdann nur von Kindern der Welt sich umgeben zu sehen, die ihn nicht verstehn, und mit ihrem leidigen Troste die Qual seiner Seele nur vermehren. Wie thut's dagegen seinem Gemüthe so wohl, irgend einem erfahrenen und bewährten Mitpilger nach dem Jerusalem da droben zu begegnen, ihm sein Herz ausschütten zu können, und aus seinem Munde Zusprüche zu vernehmen, wie etwa diese: „Zage nicht, mein Bruder, als widerführe dir etwas Seltsames. Wie manchmal traf ein Gleiches auch mich; aber wie beugt die Erinnerung an meine damaligen Klagen mich jetzt darnieder! Der Herr meinte es so treu mit mir, und als seine Stunde gekommen war, wie herrlich half er da mir aus! Harre und wisse: „Wenn das Gold im Tiegel ist, so ist der Schmelzer nah!“ Solche und ähnliche aus eigener Erfahrung und darum mit der Betonung vollkommener Wahrheit und herzlicher Theilnahme gesprochene Bruderworte, wie klingen sie in der Seele des Leidtragenden wieder, und wie beginnt derselbe auf's neue freier aufzuathmen und heiterer dreinzusehn! Welche Fülle der Ermuthigungen und Erquickungen der Gott aller Gnaden in die Gemeinschaft der Heiligen gelegt hat, ist mit Worten nicht auszusprechen. Wenn irgendwo hienieden schon von der Luft der zukünftigen Heimath etwas geathmet wird, dann hier. David wird uns dies mit Freuden bestätigen. Wie herzlich gönnen wir ihm, was ihm bereitet ist.

In das Bergstädtlein Nama eingetreten, klopft er an Samuels Pforte, und wie fröhlich schlägt ihm das Herz, als ihm der greise Gottesknecht mit herzlichem Friedensgruße entgegentritt. Wahrscheinlich war es das erste Mal nach Davids Heldenthat, daß Samuel den ruhmgekrönten Sieger wiedersah. Wir lesen jedoch nicht, daß des Sieges über Goliath zwischen ihnen Erwähnung geschehn sei. Wußten doch beide, wem allein die Ehre desselben gebühre. Die Geschichte meldet nur, daß David seinem väterlichen Freunde Alles, was Saul ihm Leides gethan, in den Busen geschüttet habe, und ich meine es zuhören, wie Samuel ihn tröstet, wie er ihn ermahnt, unter allen Umständen an den Verheißungen seines Gottes, der nicht lüge, festzuhalten, wie er dann zu Davids Ermuthigung die reiche Fülle der eigenen vieljährigen Lebenserfahrungen auf dem Wege des Herrn ihm offenlegt, und ihm an seinem Exempel zeigt, daß des Herrn Zebaoth Rath zwar wunderbar sei, er's aber allezeit herrlich hinauszuführen wisse. Und ich sehe es im Geiste, wie die Stirn des lieben Flüchtlings mehr und mehr sich zu entwölken, und sein Auge sich zu klären anhebt. Geschieht ihm doch, als durchströme ihn eine neue Gotteskraft, und als werde hinfort nichts seinen Glaubensmuth mehr erschüttern können. Glückliche Gemeine, die zu ihren Gliedern Gottespilger zählt, welche ergraut im Dienste des Herrn/ und als treue Knechte ihres Gottes bewährt, gleich einem Samuel vermöge des Reichthums ihrer Heilserfahrungen die Befähigung besitzen, Solche, die noch Neulinge im Glaubensleben sind, in die Nachstellungen einzuweihen, die sie Seitens der Mächte der Finsterniß auf dem schmalen Wege zu gewärtigen haben, dann die erprobten geistlichen Rüstungsstücke ihnen zu bezeichnen, in welchen der Sieg über den Bösewicht ihnen gewiß sei, zugleich zu den Räthseln der göttlichen Führung ihnen schon im Voraus den Schlüssel darzureichen, und ihnen da, wo sie nicht aus noch ein mehr wissen, mit dem Rathe der Altersweisheit zur Hand zu gehen. Veteranen des Reiches Gottes dieser Art, deren Alter durch Wunderwirkung des Heiligen Geistes „wie ihre Jugend“ ist, sind nicht hoch genug in Ehren zu halten. Möchten sie öfter nur, als es der Fall ist, in den Gemeinden uns begegnen, sie, welche der 92. Psalm als solche schildert, die, „ob sie gleich alt sind, dennoch grünen wie ein Palmbaum, und blühen, fruchtbar und frisch sind.“ Von dem hundertzwanzigjährigen Moses heißt es: „Seine Augen waren nicht dunkel geworden und seine Kraft war nicht verfallen.“ Ein Gleiches galt, und vielleicht noch in höherem Grade, von dem alten Samuel. Ich möchte glauben, daß dieser es war, der dem David zu dem schönen Bilde gesessen habe, welches er uns in den Worten des ersten Psalms entworfen hat.

Nachdem die beiden dort unter dem Friedensdache zu Rama im vertraulichsten Seelenaustausch eine Weile zugebracht, fordert Samuel seinen geliebten Gast auf, ihn nach Najoth (d. i. den Wohnungen oder Hütten,) zu begleiten. Najoth war eine jener gesegneten Ansiedlungen, welche der Weisheit Samuels ihren Ursprung verdankten, und die uns unter dem nicht völlig zutreffenden Namen der „Prophetenschulen“ schon bekannt sind. Najoth, ohnfern des Städtleins Rama in ländlicher Stille gelegen, war die erste jener Colonien, und wurde die Mutter aller späteren. Wir haben uns diese herrlichen Stiftungen als freie Vereinigungen frommer und geistig strebsamer israelitischer Jünglinge zu denken, welche unter der Leitung eines oder mehrerer Propheten der Vertiefung in das Wort Gottes sich widmeten; außerdem aber auch dem Studium mancher andern, nur in eine höhere Geistessphäre hinaufgehobenen Wissenschaften, namentlich der geschichtlichen oblagen, und zugleich in ihrer Gemeinschaft die heilige Tonkunst und sonderlich den geistlichen Chorgesang pflegten. Obwohl sie, denen schon damals bewußt war, daß „gottselig sein und sich genügen lassen ein großer Gewinn sei“, ihr tägliches Brod mit ihrer Hände Arbeit in Garten und Feld, oder in der Werkstatt sich zu beschaffen hatten, verstanden sie es doch, auch für die geistigen Beschäftigungen die Zeit auf's trefflichste auszukaufen. So saßen sie denn bald mit offnem Ohre horchend zu den Füßen erleuchteter und gesalbter Lehrer, bald fand man sie forschend in die Geheimnisse der heiligen Schrift vertieft, bald wieder vereinigt zu gemeinsamem Gebet und Psalmgesang oder in andern immer nur auf wechselseitige Stärkung zum göttlichen Wandel abzielenden Bestrebungen und Thätigkeiten begriffen. Köstliche Vereinigungen waren es, zu denen sich die Mehrzahl der später auftauchenden Klosterbrüderschaften nur wie Zerrbilder zum reinen Urbilde verhielten; blühende Gottesgärten in der öden Steppe, wie sie damals Israel darbot; geistliche Salz- und Befruchtungsquellen für das ganze Volk, ja Pflanz- und Pflegestätten des Reiches Gottes, in denen die Buchstaben göttlichen Wortes in urkräftiges Leben umgesetzt erschienen, und wo Jedem der tatsächliche und unbestrittene Beweis entgegentrat, daß, wenn der Geist, der diese jungen Männer beseelte, allewege zur Herrschaft gelangte, binnen Kurzem die ganze Welt Gestalt und Wesen wandeln und zu einem Vorhofe des Paradieses, wo Gerechtigkeit und Friede sich küßten, sich verklären würde. Ohne Zweifel waren es jene gleich geistlichen Oasen in der israelitischen Volkswüste erblühten friedlichen Asyle, aus denen manche der hin und wieder in der heiligen Schrift namhaft gemachten, aber nicht auf uns gekommenen heiligen Schriften hervorgegangen sind. So u. A. das Buch „des Schauers Gad“, das „Gesicht Jeddi's“, die „Worte des Sehers Iddo“, und andere. Auch mag der Herr sich aus den Männerchören jener Schulen manche seiner trefflichsten Werkzeuge berufen und sie mit Lehr- oder Richterämtern in Israel bekleidet haben, ob er sich auch sonst bei der Wahl seiner Propheten jederzeit freie Hand behielt, wie er denn z. B. den gewaltigen Propheten Amos unmittelbar vom Felde und der Rinderheerde her zu seinem Seher berief.

Wie mochte unserm David so wohl zu Muthe werden, als er an Samuels Seite in den friedlichen Brüderkreis eintrat, und sich von Allen, die nicht wenig erfreut waren, den Besieger Goliaths , den Retter des Vaterlandes, persönlich vor sich zu erblicken, auf's herzlichste und ehrerbietigste begrüßt sah. Wie angenehm und reich an Erquickung mögen ihm dort unter trauten Wechselgesprächen über die höchsten und heiligsten Angelegenheiten des Lebens und unter lieblichen Lob- und Preisgesängen zur Ehre Jehova's die Tage und Stunden hingeflossen sein. Bei den Worten seines 23. Psalms: „Du bereitest vor mir einen Tisch Angesichts meiner Feinde, du salbest mein Haupt mit Oel und schenkest mir voll ein“ mögen ihm wohl auch die Erinnerungsbilder aus seinen! Aufenthalt zu Najoth vorgeschwebt haben. Denn was mußte ihm, dem kaum wie aus einer Löwengrube Entronnenen, das damals sein, sich plötzlich wieder unter lauter gleichgestimmten Seelen zu befinden, und die lange entbehrte wohlthuende Luft geheiligter Liebe und himmlischen Friedens zu athmen. Auch in manchen andern Ergüssen des davidischen Psalters vernehmen wir unverkennbare Anklänge an das zu Najoth Erlebte, und glauben uns überhaupt zu der Annahme berechtigt, daß er für sein inneres Leben und geistiges Streben gar Vieles seiner Verbindung mit den Prophetenschulen zu verdanken hatte.

Uebrigens ward für ihn, wie er selbst wohl ahnen mochte, auch Najoth nur ein Rüstplatz zu neuen Kämpfen. Ehe er sich's versah, vernahm er wieder das Signal zum Aufbruch aus diesem lieblichen Elim, und eine Weisung zur Fortsetzung seiner Wandrung durch die Wüste.

Waffengerassel unterbricht die feierliche und friedliche Stille des ländlichen Brüdersitzes. Reisige des Königes, in diesem Winkel ein ungewohntes Schauspiel, kommen daher geschritten. Saul, den der Schlaf flieht, bis er sein Wild erjagt hat, ordnete dieselben als Späher ab, und beschwor sie bei seinem Zorn, daß sie ihm den verhaßten Flüchtling lebend oder todt zurückbrächten. Der Befehl ihres königlichen Herrn war den Häschern wie der Befehl Gottes. Sie zogen schweigend ab, und wie sind sie froh, sich so bald am Ziele ihrer mühseligen Jagd und in der Lage zu erblicken, den Gegenstand derselben ohne Blutvergießen als Gefangenen dem Könige überliefern zu können. Aber plötzlich wird ihnen wunderbar ihr ganzer Anschlag durchkreuzt. Grade in dem Momente erreichen sie das ihnen als die Zufluchtstätte Davids verrathene Najoth, als die Prophetenkinder in Gegenwart ihrer beiden hochverehrten und mit ihnen einstimmenden Gäste im vollen „Weissagen“ begriffen sind. Unter diesem „Weissagen“ haben wir nicht, wie uns schon bewußt, ein Vorherverkündigen zukünftiger Dinge, sondern ein durch Wirkung des Heiligen Geistes hervorgerufenes Sichergießen in begeisterten Lobpreisungen Gottes und seiner Wunder zu verstehen. Mit gesalbten Lippen und schwunghaften Redeweisen priesen sie die Großthaten, durch welche Jehova sich von Alters her an seinem Volk verherrlichte. Abwechselnd in Chören stimmten sie unter der harmonischen Begleitung von Harfen, Flöten, Cymbeln und Drommeten feierliche Gesänge zu Gottes Ehre an, und riefen in brünstigen Gebeten über sich und alles Volk den Segen des Allmächtigen und die Feuerströme seines Geistes hernieder. Von Zeit zu Zeit gefiel es in den Tagen des alten Bundes dem Herrn, im Gegensatz zu dem vom Geiste verlassenen Geschlechte der flügellahmen Kinder dieser Welt, das gehobene Leben der Kinder Gottes in so unverkennbaren und überwältigenden Erweisungen in die Erscheinung treten zu lassen, damit Angesichts desselben auch die Stumpfsinnigsten im Volke eine Ahnung davon gewännen, wie weit sie, die unbeflügelt an der Scholle Haftenden, von der Höhe ihres ursprünglichen Berufes herabgeglitten seien. Zugleich aber sollte durch jene Begeisterten den Leuten auch ein Licht darüber aufgehn, in welchem Sinne der Herr in der messianischen Zukunft, deren sie ja harrten, ein „Neues im Lande“ schaffen werde, und was es mit dem göttlichen Wiedergeburt- und Weltverklärungsrathschluß auf sich habe, der einst durch den verheißenen Messias zur Vollziehung kommen solle. Unter dem neuen Testamente treten die Wirkungen des Heiligen Geistes in jenen grellen und handgreiflichen Offenbarungsformen nur selten mehr zu Tage. Denselben sich Annäherndes und Verwandtes begegnet uns nur am ersten Pfingsttage, dann in der Beterversammlung, von der wir Apostelgesch. 4,32 lesen, und in dem „Zungenreden“ zu Corinth, dessen 1 Corinth. 14 gedacht wird. Auch heute noch mögen manche jener freilich öfter ins Schwärmerische ausartenden religiösen Bewegungen, wie sie in den bekannten Feld- und Lagerversammlungen jenseits des Oceans zum Vorschein kommen, und keinesweges immer nur einer krankhaften Erregung des Nervensystemes zuzuschreiben sind, dem, was wir in Najoth erleben, wohl verglichen werden dürfen. Die gewohnte Wirkungsweise des Heiligen Geistes ist gegenwärtig aber eine verborgenere und stillere, und zugleich eine gründlichere und nachhaltigere. Des Geistes Werkstatt ist das Kämmerlein des Herzens, und das Ziel seines schöpferischen Waltens die allmälige Verklärung des inwendigen Menschen in das holdselige im milden Glanze der Sanftmuth, der Demuth und der Liebe strahlende Bild des „Schönsten der Menschenkinder.“

Die königlichen Waffenknechte treffen also gerade in dem Augenblicke zu Najoth ein, als daselbst der göttliche Begeisterungsstrom eben in hohen Wogen geht. Waren sie selber fromme Leute, die nur widerwillig dem gottlosen Auftrage ihres rachedürstenden Herrn sich unterzogen hatten, oder gehörten auch sie zu den Tausenden ihres Volkes, welche in ihrer Gottentfremdung von einer Verbindung des Himmels mit der Erde lediglich nur noch aus väterlichen Ueberlieferungen etwas wußten: genug, ehe sie sich's versahen, wurden auch sie in die heilige Gedanken- und Empfindungsbrandung der „Weissagenden“ mit hineingerissen, und mischten unwillkürlich und mächtig bewegt auch ihre Stimmen in deren begeisterte Lobgesänge. Als der König vernimmt, aus welchem auffallenden Grunde die Rückkehr seiner Entsendeten sich verzieht, schickt er denselben einen zweiten, und bald darauf im Sturm seiner Ungeduld einen dritten Schergenhaufen nach. Aber Allen widerfährt wundersamerweise ein Aehnliches, wie den ersten; und doch dürfen wir darüber nicht zu sehr erstaunen. Auch in den rohesten und verwildertsten Gemüthern in Israel war das religiöse Gefühl nur in selteneren Fällen so gänzlich erstorben, daß es nicht, vom rechten Zündfunken berührt, immer wieder, ob auch vorübergehend nur, aus seiner Asche aufgeflackert wäre. Gibt es doch auch heute noch Kirchengebiete in unserm eignen Vaterlande, von deren Angehörigen fast ein Gleiches gesagt werden kann. In Zeiten größerer geistiger Erweckungen, oder auch nur erhebender kirchlicher Festlichkeiten, sieht man da plötzlich im Verein mit den Gläubigen Menschen in Andacht und gottesdienstlichem Eifer erglühen, die man längst ihres geistlichen Stumpfsinnes und ihrer gründlichen Verweltlichung wegen als Untüchtige zum Reiche Gottes aufgeben zu müssen glaubte. Allerdings erweist sich in der Regel der jähe religiöse Aufschwung, zu dem sie mit fortgerissen werden, keineswegs durchhaltig und stetig. Aber eine Weile „weissagen“ auch sie mit der Gemeine der Heiligen, ja überflügeln vielleicht Manche in derselben an Feuer und Schwunghaftigkeit des bekennenden Wortes. Geschieht es doch sogar nicht selten, daß Solche, die nur als Durchreisende vorübergehend die Luft jener Sprengel athmen, ehe sie sich's versehn, sich selbst wie von einem Sprühregen geistlichen und kirchlichen Interesses überrieselt fühlen. Uebrigens mag zu der frommen Gemüthserhebung der königlichen Schergen zu Najoth auch der Anblick des greisen Samuel, dieses im ganzen Lande bekannten und hochgefeierten Gottesmannes das Seine beigetragen haben. Genug, sie hätten zu der Zeit um keinen Preis in die solenne Scene, zu der sie kamen, störend eingreifen mögen, und wie wäre es ihnen vollends möglich gewesen, an den so ungerechter Weise angefeindeten und so augenfällig von Gott beschirmten jungen Helden zur Seite Samuels die Hand zu legen.

Nur Saul, dem das Vorgefallene genau berichtet ward, streubte sich hartnäckig gegen die Einsicht, daß er wider einen Schützling des Allmächtigen schnaube. Vielmehr entschloß er sich jetzt, in eigener Person den Blutbann gegen seinen verhaßten Eidam zu vollstrecken, und machte sich zu dem Ende mit einem bewaffneten Gefolge nach Rama auf den Weg. Im Weichbilde des Städtleins bei dem großen Brunnen Zophim, so genannt zum Andenken an den Gründer des Fleckens Rama, den Ephrater Zuph, angekommen, fragte er die Wasserträger, denen er dort begegnete, nach dem Aufenthalt Samuels und Davids. Das benachbarte Najoth wurde ihm als solcher genannt, und so säumte er nicht, sich dorthin zu begeben. Aber welch Wunder! Schon unterwegs kam es auch über ihn wie ein Schauer Gottes. Er befand sich hier auf wohlbekanntem heimischen Boden. Mit Macht erfaßte und überwältigte ihn die Erinnerung an die Tage seiner Jugend, da, um mit Hiob zu reden, „der Allmächtige noch mit ihm auf dem Wege war, seine Leuchte noch über seinem Haupte schien, und er bei seinem Lichte noch einherging.“ War es doch hier bei Najoth, wo einst Samuel ihm das Geheimniß seines hohen Berufes kundthat, unter feierlichem Zuspruch und den köstlichsten Verheißungen ihn salbte, und mit dem Kuße der Huldigung ihn ehrte. O, wie war damals ihm zu Muthe! Wie zerfloß da seine Seele in frommer Rührung und kindlichem Dankgefühl! Wie selig und voll froher Zuversicht lag er da zu Gottes Füßen! Alles dies tauchte jetzt mit einem Male in hellen Bildern wieder in ihm auf. Der Geist Gottes war es, der noch einmal wieder ihn anhauchte, und was etwa noch Besseres in dem Manne übrig war, aus langer Erstarrung wieder ins Leben zurückrief. Diese Bewegung seines Gemüthes steigerte sich von einem Augenblick zum andern, und wie er den Hütten Najoths näher kommt, und aus dem Kreise der Prophetenkinder die feierlichen Männerchöre harmonisch zu ihm herüberschweben, belebt sich in ihm auch das Angedenken an das hohe Entzücken, welches er zu der Zeit empfand, da er in gleicher Weise, wie jetzt, auf „dem Hügel Gottes bei Kiriath Jearim“ begrüßt ward. Nicht lange währte es, da erneuerte sich auch, und zwar mit verstärktem Ungestüm, die ganze räthselhafte Scene von damals. Vom Rosse abgestiegen vertauscht er die königliche Rüstung mit einem leichten Obergewande, wie es die Prophetenschüler zu tragen pflegten, und tritt unter lebhafter Bewegung seiner Hände und feierlichem Geberdenspiel in schwunghaften Reden zur Ehre Gottes sich ergießend in den Kreis der weissagenden Jünglinge ein. Diese, mehr bestürzt, als erfreut und erbaut, begegnen ihrem Könige mit gebührender Ehrerbietung. Er aber, wie von Krämpfen durchschüttert, verfällt in einen Zustand, der näher an Raserei als an fromme Begeisterung grenzt, und, bald mit lauter Stimme singend, bald deklamirend, bald wie anbetend zum Staube niederfallend, gewährt er den Versammelten ein nicht minder peinliches, als Mitleid erregendes Schauspiel. Der schon früher einmal verlautete und nachmals zum Sprichwort gewordene Ausruf ängstlicher Verwunderung: „Ist Saul auch unter den Propheten?“ ertönt aufs neue. Uebrigens entging es dem Samuel nicht, daß auf diese scheinbar fromme Verzückung des Königs nur zu bald ein neuer Ausbruch seines alten Ingrimms folgen werde. Darum glaubte auch er seinem Schützling David den Rath ertheilen zu müssen, nicht länger in Najoth zu verweilen, sondern unverzüglich zu neuer Flucht sich anzuschicken. Ob ihm Samuel während seines Aufenthalts zu Rama ein Näheres zur Deutung der einst in Bethlehem an ihm vollzogenen Salbung eröffnet habe, sagt die Geschichte nicht, obwohl es zu vermuthen steht. Sicher aber hat Samuel den Saul nicht entlassen, ohne ihm im Namen des Herrn Auge in Auge sein gottvergessenes Verhalten vorzurücken, und ihn auf's dringendste zur Buße und Bekehrung zu ermahnen. David hatte sich indeß für eine geraume Zeitlang wieder auf neue Leiden und Kämpfe gefaßt zu halten. Sicher aber ist er nicht ohne einen wesentlichen Zuwachs an Gottvertrauen und Glaubensmuth von der Prophetenschule geschieden, und wird nachmals wohl oft mit dankbar gerührtem Herzen an die glücklichen Tage, die er zu Najoth und zu Rama mit Samuel verlebte, zurückgedacht haben. Ja möglicherweise war es die erquickliche Erinnerung an das, was dort ihm Köstliches und Unvergeßliches zu Theil geworden, die ihm den Frieden, Freude und Liebe athmenden 133. Psalm eingab. Er lautet: „Siehe, wie sein und lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig bei einander wohnen. Wie der köstliche Balsam ist, der vom Haupte Aarons herabfließt in seinen ganzen Bart, der herabfließt auf sein Kleid, wie der Thau, der vom Hermon herabfällt auf die Berge Zions. Denn daselbst verheißt der Herr Segen und Leben immer und ewiglich.“

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