Krummacher, Friedrich Wilhelm - XXI. Mephiboseth.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - XXI. Mephiboseth.

David war, wie der menschliche Ahnherr, so auch der Typus, das persönliche Vorbild des zukünftigen Messias. In der Anschauung Israels war er dies nachmals in einem Grade der Klarheit, daß man kein Bedenken trug, den verheißenen Erlöser selbst geradezu mit Davids Namen zu bezeichnen, was der Herr genehmigte und bestätigte. So begegnen wir Jer. 30, 8 und 9 dem Ausspruch: „Es soll geschehn zur selbigen Zeit, spricht der Herr Zebaoth, daß ich das Joch von deinem Halse zerbrechen, und deine Bande zerreißen will, daß du nicht mehr Fremden dienen müssest, sondern dem Herrn, deinem Gott, und euerm Könige David, welchen ich euch erwecken will.“ Das Vorbildliche in David beschränkt sich nicht auf die allgemeinen Umrisse seiner Erscheinung als des theokratischen Königes über Israel und somit des Hauptes der bevorzugtesten aller Nationen der Erde, und des Völkerbesiegers, dem ringsum die Heiden huldigend zu Füßen fallen; sondern es erstreckte sich sogar auf einzelne seiner Handlungen Zustände, Lagen und Erlebnisse. Bewußt und unbewußt schattet David in seinen Triumphen, in seinem Eifer um das Haus des Herrn, in seinen Bemühungen um die Erneuerung der israelitischen Reichsordnung, wie in den Verfolgungen und Unbilden, die er erduldete, und in den Hülfserfahrungen, womit er sein Leben gekrönt sah, in unverkennbaren Zügen die Erscheinung seines zukünftigen großen Sprößlings ab. Ja, nicht wenige seiner Psalmen, es seien nur der 22, 41 und 69te genannt, in denen er unter Nothständen und drohenden Gefahren vor dem Angesichte des Herrn in Klagen sich ergießt, aber zugleich ihn als seinen Tröster, Helfer und Erlöser preiset, gestalten sich unter der geheimen Einwirkung des Heiligen Geistes von Wort zu Wort zu vollständigen Luftspiegelungen der Leidensgeschichte Christi und werden dadurch zu wirklichen messianischen Weissagungen. Die Feinde des Herrn müssen später dieselben wahr machen helfen, indem sie z. B. in der Tränkung des am Kreuz Verschmachtenden mit Essig und Galle, in der Durchgrabung seiner Hände und Füße, in den Spottreden, womit sie ihn überhäufen u. s. w. buchstäblich alles das an ihm vollziehn, was David als ein Selbsterfahrenes schildert. Christus besiegelte den Inhalt seiner Psalmen als einen prophetischen dadurch, daß er leidend und sterbend seine Empfindungen in Worte kleidete, die denselben entnommen waren. Es sei nur erinnert an das Wort: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ und an den Ausruf: „Mich dürstet“, bei welchem der Evangelist bemerkt, der Herr habe desselben sich bedient, „auf daß die Schrift erfüllet werde.“ Ein Gleiches bemerkt er bei der Kleidertheilung unter dem Kreuz, und winkt damit auf Psalm 22, 19 hinüber.

Wir kommen heute zu einem Auftritt in Davids Leben, der an vorbildlichen Zügen ebenfalls reich ist. Nicht behaupten wir, daß jener Auftritt mit der bewußten Absicht, ein prophetisches Vorbild uns darzustellen, erzählt ward. Dennoch sind wir berechtigt, ihn als ein solches anzuschauen und zu deuten, und wir werden von dieser Berechtigung Gebrauch machen.

2. Sam. 9,7. David sprach zu Mephiboseth: Fürchte dich nicht, denn ich will Barmherzigkeit an dir thun um Jonathans, deines Vaters, willen.

Als Bild des Gnade spendenden göttlichen Friedensfürsten tritt David diesmal vor uns auf. Als ein solcher erscheint er in der Berufung Mephiboseths, in der Herablassung, deren er ihn würdigt, und in der Erhöhung, durch die er ihn beglückt.

In einem unwirthbaren Winkel des Ost-Jordanlandes lag ein Städtlein, das seiner wüsten Umgebung den Namen Lodabar, d. i. das Weidenlose, verdankte. Größtentheils war es von Heiden bewohnt; doch hatten sich auch seit den letzten Kriegen in Juda manche israelitische Flüchtlinge, Anhänger Sauls, daselbst angesiedelt. Unter ihnen begegnet uns im Hause des Landmanns Machir ein junger Mann, gebrechlich und auf verlähmten Füßen hinkend, dem Niemand es mehr ansieht, aus wie vornehmen Geblüte er stamme. Als Erstgeborener Jonathans, des ältesten Sohnes des Königes Saul, galt er eine Zeitlang für den muthmaßlichen Thronerben in Israel. Sein Name ist Mephiboseth. Als nach jener verhängnißvollen Schlacht auf dem Gebirge Gilboa, welche dem Saul wie dem Jonathan, das Leben kostete, seine Wärterin mit ihm, dem damals noch nicht fünfjährigen Kinde, in die Gebirge Gileads entfloh, ließ sie den armen Knaben, den sie, weil er ermüdet nicht weiter vorwärts konnte, auf ihre Arme genommen hatte, in der Eile der Flucht fallen, wodurch er unheilbar hinkend wurde. Erkennen wir nun zunächst in Mephiboseth unser eignes Bild. Ging er seines Anrechts an die irdische Krone in Folge der Niederlage seines Volks in der Ebene Jesreel verlustig; so wir des unseren an die Himmelskrone durch den verhängnißvollen Fall im Paradiese. Wankte er hinfort auf verlähmten Füßen einher; wer von uns darf in seinem natürlichen Zustande sich rühmen, feste Schritte zu thun auf dem Wege des Herrn, und wer von denjenigen sich ausschließen wollen, welchen das Wort des Propheten gilt: „Wie könnt ihr Gutes thun, die ihr des Bösen gewohnt seid?“ - In Lodabar wohnte er, in der öden, weidenlosen Wüste; und Lodabar ist, abgesehn von der erschienenen Gnadenhülfe, auch unser gegenwärtiger Wohnplatz. Der Acker ist er, der mit dem Bann geschlagen und vom Fluche gedrückt uns nur Disteln und Dornen tragen soll; ein Thränen- und Todesthal, wo kein Kraut wächst, das uns von unsern tiefen Wunden heilen, und keine Trostesblume, die gründlich Herz und Auge uns erquicken könne. Nach der Ermordung des Isboseth sah auch Mephiboseth im Geiste mit Zittern das Schwert über seinem Haupte hängen. Ueber unserm Haupte schwebte, bevor das geschah, um deswillen überhaupt die Welt noch besteht, das Richtschwert des allmächtigen Gottes, und bebend lasen wir an unsrer Wand das: „Mene Tekel“: „Du bist gewogen und zu leicht befunden!“

Was aber widerfuhr dem Mephiboseth, unserm lebendigen Spiegelbilde, zu Lodabar? Hoffnungslos hinkte er noch in seinem öden Wohnort umher, als David siegreich aus einer neuen Philisterschlacht, in der er den Erbfeind seines Volkes gründlich gedämpft, und ihm seinen „Dienstzaum“ d. i. die Zwingburg Gath, abgenommen hatte, mit zahlreichen Kriegsgefangenen und großer Beute an goldenen Schilden und eroberten Fahnen nach Jerusalem zurückkehrte. So stand der Fürst Israels wieder da als ein lebendiger Typus des göttlichen Helden, der „die Fürstenthümer und Gewaltigen auszog, sie öffentlich zur Schau trug, und einen Triumph aus ihnen machte durch sich selbst.“ Nach jenem Kriegssturme trat wieder eine kurze Waffenruhe für David ein, und gewährte ihm, dem so überschwenglich von Gott Gesegneten, erwünschten Raum, auch seinerseits Wohlthat und Segen um sich her zu verbreiten. Nach Hülfsbedürftigen sich umsehend, deren Noch er lindern könne, richtete er an seine Umgebung zunächst die seinem Herzen Ehre machende und den Fortbestand seiner Liebe zu dem Freunde seiner Jugend beurkundende Frage: „Wer ist vom Hause Saul noch übrig, daß ich Gottes Barmherzigkeit an ihm thue um Jonathans willen?“ Ziba, vormals der Verwalter der Güter Sauls, jetzt der ergebene Diener Davids, erwidert: „Ein Sohn Jonathans, mein Herr König, ist noch vorhanden, gebrechlich und lahm an Füßen.“ - „Wo ist er,“ fällt David ein. Zu Lodabar im Hause Machirs, des Sohnes Ammiels,„ lautete die Antwort. Sofort sendet der König, ihn zu holen. Wem springt nicht alsobald das Vorbildliche auch dieses geschichtlichen Zuges ins Auge? Wie David dort, steht der göttliche Davidssohn auf der Höhe des geistlichen Zions, und ladet Alle, die durch die Sünde von dem Hause ihres himmlischen Vaters entfremdet ihren Jammer beklagen, und „mühselig und beladen“ nach der Rückversetzung in den verlorenen Friedens- und Ehrenstand der Gemeinschaft mit Gott sich sehnen, zu sich ein, auf daß er „Gottes Barmherzigkeit an ihnen thue.“ Und ob sie in Lodabar hausen, oder gar bis gen Zeboim und Adama sich verloren haben, sie mögen nur kommen; denn sein Panier ist die freie Gnade. Selbst um Solche wirbt er mit gleicher Retterabsicht, vor deren Augen es noch verborgen ist, wie tief sie bereits versanken, und die am Rande des Abgrunds, in dem jenes „Feuer“ lodert, das nicht erlischt, noch von Rosentagen träumen können. Außer seinem Worte sendet er den Verirrten bald in Trübsal und Kreuz, bald in Hülfe und Wohlthat verkleidete Boten gleich Fischern und Jägern nach, um sie, und wäre es auch aus Räuberhöhlen und Mördergruben, herauszuholen und ihm zuzuführen. Wird gefragt, woran man erkenne, daß seine Boten zur Stelle seien, so wisse man: wann der falsche Friede, in dem Einer bisher dahin gegangen, ihn zu verlassen beginnt, und er seinen Freunden zu klagen anhebt, daß etwas ihn drücke und beklemme, das er selbst nicht zu nennen wisse; wann er in Kreisen, wo die Spötter sitzen und in denen er bisher sein Element gefunden, nicht mehr dauern kann, aber auch in den Versammlungen der Frommen sich beengt fühlt, als stände er vor unsichtbaren Richterschranken: dann vernimmt er die ersten leisen Fußtritte der Abgeordneten, die der himmlische Zionskönig nach ihm ausgesendet. Wann bald hie bald da gleich einem Pfeil von verschleiertem Bogen ein Wort göttlicher Wahrheit bei ihm einschlägt, und ein geistiges Wetterleuchten über ihn hinzuckt, bei dem ihm die Ahnung aufgeht, daß er nicht auf einem Wege sich befinde, der ein Weg des Lebens heißen dürfe, und wann etwa Angesichts eines an ihm vorübergetragenen Sarges ihn bedünken will, als finstere ein Geist ihm zu: „O Ewigkeit du Donnerwort,“ und es ihm kalt durch die Gebeine rieselt: dann haben die Boten Gottes schon ihren Mund zu ihm geöffnet. Und wird es ihm nun klarer und immer klarer, bei seiner bisherigen Richtung dürfe er nicht länger verharren, und findet er, so oft er einen Versuch macht, zu seinen früheren Gesellen zurückzukehren, den Weg wie mit Dornen vermacht, und muß er sich sagen: auf der Straße, die jener Haufe zieht, grünt dir der Baum des Lebens nicht: siehe, so ist der Augenblick gekommen, da die Boten zu ihm sprechen: „Gehe aus von Lodabar; denn der König David bescheidet dich zu sich!“ Und schon wendet sein Gang sich Jerusalem zu, und der Rückweg in die alten Gleise ist ihm verlegt, indem die Dornen hinter ihm wie zu Pallisaden erstarken, und er unter der Gewalt unwiderstehlicher Züge sich befindet.

Mephiboseth langt in der Königsstadt an. Vor David geführt, fällt er zitternd auf sein Angesicht, und „betet an“ d. h. bezeugt dem Könige huldigend seine Unterwerfung. Anschauliches Bild der ersten Begegnung eines aus seinem Todesschlafe aufgeweckten Sünders mit dem Herrn aller Herrn, den er bis dahin nur als ein Gedankending von Hörensagen kannte, dessen er sich aber jetzt unmittelbar und wesentlich als des wirklich lebenden Regenten der Welt, als des Heiligen in Israel, und auch als seines Gebieters und Richters bewußt wird. Von der Katechismus-Bekanntschaft mit ihm, bei der der Herr aller Herrn nur Phantasiebild, nur Dogma bleibt, bis zur wirklichen persönlichen Anschauung und Erfahrung seiner ist ein weiter Schritt. Der erste Eindruck thatsächlichen Zusammentreffens mit ihm wird in der Regel, weil von dem Bewußtsein einer gänzlichen Entfremdung von ihm begleitet, ein beängstigender sein, und eher, als in dem Rufe des urplötzlich aus dem Weltgetriebe im Geiste vor das Angesicht des himmlischen Ehrenköniges versetzten Kirchenvaters: „Ich habe dich zu spät geliebt, o Liebe!“ in den Worten des Propheten Daniels seinen Ausdruck finden: „Wie soll ich mit diesem meinem Herrn reden, weil ja von nun an keine Kraft mehr in mir ist, und habe auch keinen Odem mehr.“ Bald aber gestaltet sich das Verhältniß anders, und dem tiefgebeugten erschrockenen Uebertreter widerfährt Aehnliches, wie damals dem genannten Propheten geschah, da „Einer gleich eines Menschen Sohne ihn anrührte“, hiedurch ihn stärkte und zu ihm sprach: „Fürchte dich nicht, du liebwerther Mann; Friede sei mit dir und sei getrost, sei getrost!“

Als Mephiboseth noch stumm zu Davids Füßen liegt, öffnet dieser den Mund und spricht: „Mephiboseth!“ Da der Gebeugte sich beim Namen gerufen hört, wagt er auch seine Lippen aufzuthun, und erwidert: „Hier bin ich, dein Knecht!“ - „Der König“ denkt er freudig überrascht, „will sich ja herablassend mit dir zu schaffen machen.“ Aehnlichen Gang nimmt meist die Bekehrung eines Sünders. Wohl steht er anfänglich mit beklommener Seele dem Majestätischen auf dem Weltenthrone gegenüber. Es ist ein Wechselverhältniß zwischen ihm und dem Erhabenen noch nicht angeknüpft. Ihn deucht, der himmlische Richter sehe über ihn, den Wurm im Staube, hinweg, ohne ihn einer Betrachtung zu würdigen. Dann aber geschieht auch ihm, als höre er sich unzweideutig von dem Herrn beim Namen gerufen. Wann dies? Dann, wenn sein Gesetz, als wäre es vor allen andern dir gegeben, auf Schritt und Tritt verdammend dich verfolgt, und du, wo du in den Strudel weltlicher Zerstreuungen ihm zu entrinnen hoffst, seine Drohungen und Flüche wider dich nur verdoppelt; wenn du die Sorge um die Zukunft deines Lebens dir aus dem Sinne zu schlagen dich bemühst, aber jetzt nur um so lauter das „Wach auf, o Mensch, vom Sündenschlaf!“ durch deine Seele donnert; wenn du nicht Ruhe zu finden weißt, bis du dem Richter der Lebendigen und der Todten deine ganze Schuld zu bekennen, und, was du am liebsten ihm verhehlen, oder doch vor ihm beschönigen möchtest, am ersten in das Licht seiner Augen zu stellen dich genöthigt findest; ja, wenn, was den Sündern insgemein gilt, zu dir dem Einzelnen in die besonderste und unabweisbarste Beziehung tritt, und das an die Sterblichen als eine Gesammtheit gerichtete „Ihr“ aus des Herrn Munde für deine Seele in ein Mark und Bein durchschütterndes „Du“ sich verwandelt: siehe, dann hörtest du dich persönlich vor dem Herrn aus der Menge heraus gefordert, und auch zu dir hieß es: „Mephiboseth, Mephiboseth!“ Der Herr rief dich bei deinem Namen; und während das Verhältniß, in welchem du bisher zu ihm und er zu dir gestanden, ein Verhältniß der Entfremdung war, hat sich jetzt zwischen ihm und dir ein verhängnißvoller Rechtsstreit angesponnen. Vor seinen Schranken stehst du. Was willst du erwählen? An ein Ausweichen ist nicht mehr zu denken; vielmehr bleibt dir nun nichts mehr übrig, als hinzusinken zu seinen Füßen wie Mephiboseth, und gleich diesem mit einem demüthigen „Hier bin ich, dein Knecht!“ dich auf Gnade und Ungnade ihm zu übergeben.

David richtet den vor ihm zum Staube Hingesunkenen freundlich auf, und spricht zu ihm: „Fürchte dich nicht, denn ich will Barmherzigkeit an dir thun um Jonathans, deines Vaters, willen; und will dir allen Acker deines Vaters Saul wiedergeben; und du sollst täglich an meinem Tische das Brod essen.“ O, der hochherzigen Herablassung und Güte! Wer theilt nicht die Freude mit dem gebrechlichen und geängstigten Manne ob diesen unerwarteten glücklichen Ausgang seines Handels. Laut aufgejauchzt, möchte man denken, werde seine Seele bei jenen königlichen Worten haben. Aber nein; das Gewicht der ihm widerfahrenen Gnade zermalmt ihn völlig. Die Geschichte meldet: „Er betete an und sprach: Wer bin ich, dein Knecht, daß du dich wendest zu einem todten Hunde, wie ich bin?“ Auch in diesem Zuge wird mancher Sünder, der Gnade fand, ein Spiegelbild seiner eigenen Erfahrung erblicken. Ihm wird bewußt sein, daß die Gnade Gottes tiefer noch darniederbeugt, als sein Zorn. Daß so Großes ihm zu Theil wird, vermag er nicht zu fassen. Und ob er zuvor an dem: „Du Sohn Davids, erbarme Dich meiner!“ schier sich heiser schrie, möchte er doch jetzt, da durch den Geist das im Staube erflehte Erbarmen ihm innerlich versiegelt wird, mit Petrus rufen: „Herr, gehe hinaus vor mir, denn ich bin ein sündiger Mensch!“ Wie strömen jetzt erst seine Thränen so reichlich zu den Füßen Immanuels nieder! Wie tief drückt er nun erst sein Angesicht in den Staub! „Wer bin ich, dein Knecht,“ heißt es auch in ihm, „daß du dich wendest zu einem todten Hunde?“ Nachdem das Panier der freien Gnade über dem bußfertigen Sünder sich entfaltete, gewinnt er erst Muth, mit dem ganzen Verdammungsurtheil über den eigenen Zustand herauszurücken, während ihn bisher die Angst noch Bedenken tragen ließ, sich völlig vor dem Herrn bloszugeben. Gerne setzt er sich jetzt zu unterst in der Reihe der Mitbegnadigten, und es geht in Erfüllung, was der Herr beim Propheten Hesekiel Kap. 16 sagt: „Ich will meinen Bund mit dir aufrichten, auf daß du erfahren sollst, daß ich der Herr bin, damit du daran gedenkest, und dich schämest, und vor Schande nicht deinen Mund mehr aufthun dürfest, indem ich dir Alles vergebe, was du gethan hast, spricht der Herr Herr.“

Was widerfuhr nun dem Mephiboseth weiter? Ueber alle Erwartung Herrliches und Großes. Der Augenblick seiner tiefsten Zerknirschung ward auch zu dem seiner höchsten Erhöhung. David, der einst selbst vor Saul, wie Mephiboseth jetzt vor ihm gelegen, und sich ebenfalls einen „todten Hund“ genannt hatte, - (und wer gedenkt hier nicht des göttlichen Davidsohnes, der uns auch einmal in einer Lage begegnete, in der die Klage des von ihm, dem Lamme Gottes, weissagenden 22. Psalms: „Ich bin ein Wurm und kein Mensch mehr?“ wirklich seinen heiligen Lippen nicht ferne lag,) - David bescheidet den Ziba zu sich, und spricht zu ihm: „Alles, was Sauls gewesen ist und seines ganzen Hauses (als Familienbesitz,) habe ich dem Sohne deines Herrn gegeben.“ Fürwahr, eine königliche That! Wie hoch war Mephiboseth hier urplötzlich aus dem Staube tiefster Erniedrigung wieder emporgehoben! Nun sah er, der zu den Geringsten in Israel herabgesunken war, sich wieder fürstlich ausgestattet. Spiegelt sich aber nicht in seiner Erhöhung, ob auch in leisen und dämmernden Zügen nur, diejenige, die allen denen in Aussicht steht, die dem himmlischen Davidssohne huldigend zu Fuße fallen? Auch zu ihnen heißt es: „Alles, was Adams, eures Vaters, und seines Hauses war, soll wieder euer sein;“ und in gesteigerter Herrlichkeit erhalten sie zurück, was ihr Ahnherr für sie, seinen Samen, einstmals eingebüßt. Denn selbst Adams Heiligkeit, wird sie nicht fast verdunkelt von der Gerechtigkeit Christi, mit welcher wir bekleidet werden? Was war Adams Verkehr mit Gott gegen das Kindschaftsverhältniß, in dem wir unser „Abba, lieber Vater!“ rufen, und den Sohn Gottes unsern Bruder nennen? Was Adams paradiesischer Lebensbaum gegen den geistlichen, unter dessen Schatten wir trauen; und in tiefster Befriedigung mit der Braut im Hohenliede sprechen: „Seine Frucht ist meinem Gaumen süße?“ Was Adams Sicherheit im Vergleich mit derjenigen, der wir uns zu getrösten berechtigt sind, wir, die „aus Gottes Macht bewahret werden zur Seligkeit; und was endlich das irdische Eden, in welchem Adam wandelte, gegen dasjenige, in welchem unser die Hütten einer ewigen Sabbathruhe warten? O, unvergleichliche Erstattung alles dessen, wessen wir durch den verhängnißvollen Fall unsres Urahns verlustig wurden! Wohl hat der Apostel Recht, wenn er, wie er im 5. Capitel des Briefes an die Römer thut, die Gnade, deren wir in Christo theilhaftig geworden, als eine solche darstellt, welche die Einbuße, die wir durch Adams Fall erlitten, unendlich überwiege. -

Doch hören wir, was dem Ziba ferner aufgetragen wird. „Bearbeite ihm hinfort,“ spricht David, „seinen Acker, du, sammt deinen Kindern und deinen Knechten, und bringe ein, was wächst, daß es des Sohnes deines Herrn Brod sei, womit er sich nähre; aber Mephiboseth, deines Herrn Sohn, soll auch täglich das Brod an meinem Tische essen.“ Mit diesen Worten war also Ziba zum Verwalter der dem Sohne Jonathans zurückgegebenen Güter eingesetzt. Sprach aber nicht ein Gleiches, wie damals David zu Ziba, dessen Name verdolmetscht ein „Pflanzer“ heißt, der göttliche Sprößling Davids zu Gunsten seiner Auserwählten zum heiligen Geist? Uebertrug er nicht mit derselben fürsorglichen Rücksichtnahme auf die angestammte Gebrechlichkeit und Ohnmacht seiner Jünger dem Tröster aus der Höhe die Bestellung und Pflege ihres Herzens- und Lebensackers, und ist er es nicht wirklich, der diesen Acker pflügt und baut, in seine aufgerissene Furchen den edlen Samen streut und ihn behütet, daß nicht die Vögel ihn verzehren, und der auch dafür sorgt, daß zur rechten Zeit Thau, Regen und Sonnenschein das geistliche Ackerfeld befruchten? Dieses heilbringende Werk verrichtet er theils unmittelbar in allerlei verborgenen Wegen, theils und sonderlich durch das Wort und Sakrament. Zu gleichem Zwecke müssen aber auch die bereits Erlöseten ihm zur Hand gehn: unsre Mitpilger nach dem Jerusalem da droben, die in ihren Erfahrungen und Erlebnissen uns Wegesäulen aufrichten und Brunnen graben in der Wüste, und als Hirten und Prediger auf den grünen Auen des Evangeliums uns weiden. - David hat jedoch zu Ziba noch nicht ausgeredet. „Du sollst,“ fährt er fort, „dem Mephiboseth einbringen, was du säest, daß es sein Brod sei, damit er sich nähre.“ In weiterer Ausdeutung des geschichtlichen Bildes besagt dieser Zug: „Was der Pflanzer Gottes, der Heilige Geist, auf unsern Acker säet, und was er Edles demselben einpflanzt, ist eigentlich sein, des Geistes, eigen. Dennoch soll es aus Gnaden uns zugerechnet werden, als wäre es der Ertrag unserer eignen Arbeit, und unsrer Saat entsprossen. Unsre Werke, ob sie gleich die seinen sind, „folgen uns in die Ewigkeit und vor den Richterthron Gottes nach,“ so daß wir nach dem Ausdruck des Propheten Jesaias „die Frucht derselben essen.“ Der himmlische David hat es so gewollt, ermöglicht und in's Werk gesetzt. Wer ergründet den Reichthum der Barmherzigkeit, den uns Gott in Christo zugedacht hat?

Nachdem der König seine Rede an Ziba vollendet hat, erwiedert dieser: „Alles, wie mein Herr, der König, seinem Knechte geboten hat, wird sein Knecht auch thun. So oft Mephiboseth nach Gibea kommt, seine Güter zu besehn, soll er auch an meinem Tische essen als der Könige Kinder eins.“ Und Ziba hat Wort gehalten. Sein ganzer Hausstand, fünfzehn Söhne und zwanzig Knechte, dienten dem Mephiboseth und dessen kleinem Söhnlein Micha. Mephiboseth aber verweilte seitdem mehrentheils in Jerusalem, und aß täglich an der Tafel des Königes, der sich des hinkenden Gastes so wenig schämte, wie sein großes, himmlisches Gegenbild sich schämt, uns, die nicht minder Gebrechlichen, nachdem er hienieden schon um seinen Königstisch uns versammelte, dermaleinst bei seinem großen Hochzeitsmahle droben neben seinen Freunden Abraham, Isaak und Jakob unsre Sitze anzuweisen.

Zu der Zeit, da David an Mephiboseth die „Barmherzigkeit Gottes that,“ mag er für sich und Israel den Psalm gesungen haben, den wir als den 131. in unserm Psalter lesen. Durch alle die Wohlthat, womit der Herr ihn, namentlich in seiner Berufung zum Throne und in den glorreichen Siegen, die er ihm in die Hand gab, überschüttet hatte, fühlte sich David in gleichem Maaße gedemüthigt, wie erhoben und innig beglückt. „Herr,“ singt er, „mein Herz ist nicht hoffärtig und meine Augen sind nicht stolz. Ich ergehe mich nicht in hohen Dingen, die mir zu wunderbar sind“ (d. i. über meine Kraft und mein Erkennen weit hinausreichen.) Freilich weiß David sowohl sich, wie sein Volk Israel zu großen Dingen von Gott berufen. Doch will er nicht mit Ungeduld ihrer harren, noch ungestüm auf eigne Hand sie an sich reißen; sondern anspruchslos und zu den Niedern sich herunterhaltend dem Herrn es anheimstellen, was er weiter über ihn beschließen möge. So hatte er es ja seither gethan; so gedenkt er auch ferner es zu halten. „Fürwahr“ fährt er fort, „ich ebnete meine Seele, (d. i. ich beseitigte in ihr alle Höhen,) „ich beschwichtigte sie,“ (ich dämpfte in ihr die Regungen der Selbstüberhebung und des Hochmuths.) „Gleich einem Entwöhnten bei seiner Mutter,“ (einem sorgenfrei und anspruchlos ganz der Mutter hingegebenen Säuglinge gleich) „ist meine Seele. Harre,“ so schließt er das kurze liebliche Lied, „o Israel, auch du auf den Herrn von nun an bis in Ewigkeit!“ In diesem Liede steht David vor seinem Gott, wie vor ihm, dem Könige Israels, einst Mephiboseth stand. O klänge sein Psalm in jedem Herzen wieder! „Wer seine Zuversicht auf den Herrn setzt, wird nicht von ihm verlassen werden; aber der Herr zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn!“

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