Krause, Cäsar Wilhelm Alexander - Fange bei dir selber an!

Krause, Cäsar Wilhelm Alexander - Fange bei dir selber an!

Predigt am vierten Sonntage nach Trinitatis.

Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz; prüfe mich, und erfahre, wie ich es meine. Und siehe, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege! Amen.

Geliebte Gemeinde! Die sogenannten Sprichwörter, welche im Munde des Volkes leben, enthalten sehr oft viel Wahres, und sprechen nicht selten mit einfachen Worten eine tiefe Weisheit aus. Daher kommt es auch, dass sie sich so lange im Gebrauch erhalten haben, denn viele von ihnen treffen wir als Weisheitssprüche schon in den betreffenden Büchern des alten Testamentes an, aus welchen sie in die Sprachen fast aller gebildeten Völker der Erde übergegangen sind. Es wäre nur zu wünschen, dass sie nicht bloß in dem Mund, sondern auch allgemein in den Herzen lebten, damit ihre Weisheit sich in dem Tun und Treiben der Menschen wiedererkennen ließe. Aber daran fehlt es leider oft; des Menschen sündigem Sinn fehlt es dagegen nicht an Ausflüchten, durch welche sie dieselben als auf sich, in ihrer Lage und zu ihrer Zeit nicht anwendbar darstellen wollen, und wenn dies nicht ein so trauriges Zeichen menschlicher Trägheit im Guten wäre, so möchte es fast ergötzlich sein, allen den falschen Deutungen nachzuspüren, welche die Menschen zu finden wissen, um sich selbst von der Pflicht loszusprechen, den Sprüchen der Weisheit nachzuleben, die sie dennoch oft genug im Mund führen. -

Dagegen gibt es auch wieder andere Redensarten und Sprichwörter, die recht eigentlich dazu erfunden zu sein scheinen, um dem sündigen und selbstsüchtigen Sinn der Menschen als Deckmantel zu dienen, und als solche werden sie denn auch gehörig benutzt, und von Geschlecht zu Geschlecht festgehalten, wie sehr sie auch dem Sinn widersprechen mögen, den die Religion Jesu allein billigt. - Zu diesen Sprichwörtern, die dem Geist des Christentums schnurstracks widersprechen, und ein wahrer Verderb für die Sittlichkeit der Menschen sind, indem sie nur dazu dienen, dem Richterspruch des Gewissens wie ein Schild entgegengehalten zu werden, rechne ich vor Allen das: Jeder ist sich selbst der Nächste! Das ist der ausgeprägteste Ausdruck der Selbstsucht, der freilich sehr viele Menschen huldigen, welche aber vor dem Richterstuhl des Evangeliums durchaus keine Gnade finden kann. Es enthält eine entschiedene Unwahrheit, denn nach der Lehre Jesu sind wir uns nicht selbst die Nächsten; er nennt uns nirgends so, sondern er beantwortet die ausdrücklich an ihn gerichtete Frage: Wer ist denn mein Nächster? in dem unübertrefflichen Gleichnis vom barmherzigen Samariter dahin: Jeder ist es, an dem du Barmherzigkeit tun kannst. Nach diesem Ausspruch handelte er selbst, denn er suchte nie das Seine, sondern das Heil seiner Brüder, und gab für sie sich selbst in den Tod dahin; ihm folgten auch seine Jünger in Wort und Tat; mit dem Ausspruch: unser Nächster, bezeichnen sie fortwährend unseren Nebenmenschen, und Jesu Gebot: Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst, zeigt uns ja die Grenze an, welche er unserer Selbstliebe setzt, dass sie nämlich nur so lange eine rechte und christliche sei, als sie durch ihre Bestrebungen unsere Mitmenschen in keiner Art verletze. Das Christentum will, dass wir mit gleich aufmerksamer Sorge das Wohl der Brüder fördern sollen, als das unsere, und wenn unser Verlangen mit ihrem Wohl im Widerspruch steht, da fordert es oft Entsagung, ja Aufopferung. Aber es ist nur selten der Fall, dass das wahre Wohl des Menschen mit einander im Widerspruch stände; es ist nur ihre Ungerechtigkeit, die des Nächsten Recht nicht achtet, es sind nur ihre Leidenschaften, die des Nächsten Frieden nicht schonen, die aber, wenn das Gewissen sie bedroht, ob des Unrechts, das sie ihren Brüdern taten, sich vor sich selbst rechtfertigen wollen mit dem Sprichwort: Jeder ist sich selbst der Nächste. So angewandt kann dies lediglich dazu dienen, sie in ihrer Sünde noch sicherer zu machen, das heißt: sie sicher dereinst dem göttlichen Strafgericht zu überliefern. - Und doch, wie falsch und unheilvoll dies Wort auch gewöhnlich von den Menschen angewandt wird, es liegt, recht betrachtet, auch in ihm eine Wahrheit. Denn allerdings muss es des Menschen höchstes Bestreben sein, sein wahres Wohl, seinen Frieden in der Ewigkeit zu sichern, und alle seine Bestrebungen müssen in der gewissenhaften Sorge zusammentreffen, dass er die Bedingungen in sich herstelle, welche ihn würdig machen, einst die ewige Seligkeit zu ererben: den wahren christlichen Glauben, und daraus hervorgehend die wahrhaft christliche Frömmigkeit und Tugend. In dieser gewissenhaften Sorge bist du dir allerdings selbst der Nächste, und ausgerüstet mit dem Licht des Lebens, damit das Evangelium dir leuchtet, sollst dir allerdings erst für dich den Weg der Wahrheit suchen, bevor du es unternimmst, auch andere auf demselben führen zu wollen; sollst du zuerst deine eigenen Schwächen, Leidenschaften und Sünden besiegen, bevor du sie an Anderen aufzusuchen und zu tadeln befugt bist. Der Heiland ruft zuerst: Tue Buße! nickt aber: Lehre Andere Buße tun! So lange du noch selbst mit Sünden überreichlich behaftet bist, kannst du auf dem Bußweg, den du selbst schon betreten hast, Andere wohl ermahnen, deine Genossen zu werden. Aber von einer eingebildeten sittlichen Höhe herab, der eigenen Mängel uneingedenk, sie beurteilen, sie richten zu wollen, ohne selbst besser zu sein, das würde dich der gerechten Entgegnung aussetzen: Fange bei dir selber an!

Ist dies nicht dasselbe, was Jesus heute in unserem Evangelio uns vorhält? Ruft er uns nicht auch zu: Richtet nicht, verdammt nicht? Was siehst du den Splitter in des Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge wirst du nicht gewahr? Du Heuchler, ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann besiehe, wie du den Splitter aus des Bruders Auge ziehst! Da ermuntert uns der Herr also selbst: Fange bei dir selber an: und diese Ermunterung wollen wir uns heute auch zu Herzen nehmen.

(Gesang. Gebet.)

Evang. Lucä 6, V. 36-42.

Weil Gott so barmherzig ist, so seid es auch! Richtet und verdammt nicht, sondern mit Milde und Schonung beurteilt eure Brüder, denn derselbe Maßstab, den ihr an Andere legt, wird einst an euch gelegt werden. Sicher könnt ihr nicht die Führer Anderer werden, so lange ihr selbst den Weg nicht genau kennt, und bevor ihr die kleinen Fehler eurer Nächsten rügen und heilen dürft, sorgt doch zuerst, dass ihr von den großen gereinigt werdet, welche nur eure Eitelkeit euch nicht erkennen lässt. So ermahnt Jesus die Seinen in unserm Evangelio, er ruft Jedem zu: Fange bei dir selber an! - Möge unser Gewissen uns diesen Ruf recht oft wiederholen; wie er uns heilsam werden könne, das wollen wir heute näher erwägen.

Fange bei dir selber an! Das sei zuerst:

l) Eine Ermunterung für jeden Beginnenden.

Schüchtern, zagend und unentschlossen sind wir ja alle, wenn wir, zum Bewusstsein der großen Aufgabe unsers Lebens kommend, dann erkennen, wie weit unser Ziel von uns entfernt liegt, und welche Schwierigkeiten sich auf unserem Weg uns entgegenstellen. Der jugendliche Leichtsinn freilich rückt das Ziel in seinem kühnen Mut sich näher, oder er erkennt das rechte Ziel wohl gar nicht vor allem Schönen, Lieblichen und Begehrenswerten, was sich in nächster Nähe ihm zeigt. Ihm ist es eigen, von seiner Kraft so zu urteilen, dass er an ihrem Sieg über alles sich ihr Entgegenstellende nicht zweifelt. Aber diese gefährliche Täuschung dauert nicht lange, und wenn es ihm dann klar wird, das Ziel sei entfernter und größer, der Weg zu demselben sei dorniger und schwerer, seine Kraft aber geringer und unzuverlässiger, als er vorher es ahnte, dann pflegt jene Niedergeschlagenheit und Unentschlossenheit, von der wir vorher sprachen, um so größer und um so beunruhigender zu werden. Nun drängen sich die Fragen auf: Wie werde ich meiner Pflicht genügen, wie für mich das erreichen können, was sich zunächst als meine irdische Aufgabe darstellt? Wie werde ich die Hindernisse besiegen können, welche mir begegnen? Wo Kräfte finden, die mich unterstützen? O suche nicht in der weiten Ferne umher nach den Hindernissen, die den Erfolg deiner Bestrebungen zu vereiteln drohen; sie ruhen zum großen Teil in dir selbst, in deiner mangelhaften Vorbildung, in deiner Trägheit, Genusssucht, Fahrlässigkeit, in deinem Mangel an Ausdauer! Fange bei dir selber an! Besiege diese Hindernisse vor Allem in dir, und du hast dir deinen Weg am besten geebnet. Suche eben so wenig in weiter Ferne nach den Kräften, die dir bei deinem Werk dienen sollen; du wirst außer dir wenig zuverlässige finden. Fange bei dir selber an. Bilde vor Allem deine Kräfte zu jener Tüchtigkeit, ohne welche in keinem Beruf irgend etwas Erhebliches geleistet werden kann. Befleißige dich der Uneigennützigkeit, welche immer nur die gute Sache selbst, nicht aber allerlei selbstsüchtige Nebenzwecke verfolgt. Gewöhne dich an jene Ausdauer, die durch die ersten erfolglosen Versuche sich nicht mutlos machen lässt; bewahre die Unbescholtenheit des Wandels, welche auch ein äußeres Zeugnis für die Reinheit deiner Gesinnungen und Absichten ablegt; - dann, wenn dies Alles vor der Welt anerkannt sein wird, wird dir der Platz nicht fehlen, von welchem aus du ein erfolgreiches Wirken für die Welt beginnen kannst; dann wird dir das Vertrauen entgegenkommen, dessen du bedarfst, um mit deinen Bestrebungen Anklang zu finden; dann werden sich die Teilnehmer und Mitarbeiter an deinem Werk selbst darbieten, - denn so schlecht ist die Welt wahrlich nicht, dass der kräftige und gute Wille nicht auch Andere anregen und mit Eifer für eine gute Sache erfüllen sollte. - Forscht nun dem Grund nach, Geliebte, wenn ihr die Klagen so mancher Menschen über ein verfehltes Leben, über vereitelte Hoffnungen, über missglückte Unternehmungen, über zu Grabe getragene Pläne vernehmt, und ihr werdet gar oft finden, dass in den Klagenden selbst der Grund jener Vereitelungen liegt. Sie erwarteten Alles von Anderen, und taten für sich selbst nichts, oder nicht genug, oder waren nicht geschickt und tüchtig dazu: - sie fingen nicht bei sich selber an. Und wie töricht war es, dass sie es nicht taten? Sich selbst hatten sie in der Gewalt - die Anderen nicht! Mit redlichem Willen konnten sie selbst sich genug tun, hatten aber keine Bürgschaft, dass das Vertrauen, welches sie in Andere setzten, nicht getäuscht werden würde! O, teure Mitchristen, lasst uns diese Ermunterung doch in allen Fällen beherzigen. Du Jüngling, der du in die Welt trittst, fange bei dir selber an, suche erst selbst für dich etwas zu sein, dann wirst du auch unter Anderen etwas werden. Jungfrau, die du deine Hand dem Gatten reichst, und in ihm die Bürgschaft für dein Lebensglück zu haben glaubst: fange bei dir selber an, damit du auch den Umfang deiner neuen Pflichten ganz erkennst, damit es dir weder an der Geschicklichkeit noch an dem Willen fehle, auch ihnen von deiner Seite mit Ernst und Eifer nachzukommen. - Eltern, die ihr eure Kinder zu eurer Freude erziehen wollt, fangt bei euch selber an; erzieht auch euch mehr und mehr, damit ihr nicht etwa die Untugenden und üblen Gewohnheiten, welche ihr an ihnen tadelt, selbst an euch tragt, sondern ihnen würdige Vorbilder seid. Verlasst euch nicht auf der Kinder natürliche Güte; sie sind zum Bösen mindestens ebenso geneigt. Verlasst euch nicht zu viel auf die, welche ihr bezahlt, damit sie euch in der Aufsicht und in dem Erziehungswerk behilflich seien. Fangt selbst und bei euch selber an; sonst reißt ihr nieder, was jene bauen. Ihr Menschen alle, wo ihr irgend etwas beginnt, fangt bei euch selber an, denn ein guter Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens Gutes, ein böser aus dem bösen Schatz seines Herzens aber Böses hervor! -

Stellt nicht auch in dieser Beziehung Jesus sich als das erhabenste Vorbild dar? Obwohl der Geist des Herrn auf ihm ruhte, so bereitete er sich dennoch 30 Jahre lang auf sein welterlösendes Wirken vor, und selbst als er beginnen wollte, zog er sich noch eine Zeitlang in die Wüste zurück, überwand den Versucher und alle seine Lockungen, und dann trat er hervor verkündend das Wort, das Gott ihm anvertraut, vollbringend die Werke Gottes, selbst frei von jeder Sünde, ja von jeglicher Schwäche, und darum befähigt den Ruf: Tut Buße! an alle Welt ergehen zu lassen. So wurde Jesus der Heiland der Welt! Der Jünger ist aber nicht über dem Meister! Auch wir können nicht auf Grund anderer Bedingungen der Welt und uns zum Heil leben! Wir können so lange wir selbst blind sind, nicht andere Blinde leiten, wenn wir nicht mit ihnen in die Grube fallen wollen. In uns muss erst Alles klar und recht sein; darum diene Jedem, der irgend etwas beginnen will als Ermunterung und Anweisung der Spruch: Fange bei dir selber an! Derselbe sei aber auch

2) eine Warnung für die Splitterrichter.

Durch die Sittlichkeit zur Heiligung, das ist der Weg, der uns zum Himmel führt. Das wussten schon die Heiden, die, obwohl sie das Gesetz nicht hatten, doch von Natur taten des Gesetzes Werk, und dadurch bewiesen, des Gesetzes Werk sei geschrieben in ihrem Herzen, da ihr Gewissen sie bezeugte und ihre Gedanken sich unter einander anklagten und entschuldigten. Um wie viel weniger kann es uns verborgen sein, die wir durch das Wort Jesu aufgefordert werden, der Heiligung nachzujagen! Es ist uns auch nicht verborgen, und es gehört schon ein großer Grad von Verdorbenheit dazu, Sünden und Lastern gleichgültig zuzusehen, ohne Betrübnis darüber, und ohne den Wunsch zu empfinden: Ach, dass sie doch nicht so herrschen möchten; - ach, dass du doch dazu beitragen könntest, die Menschen von ihnen ab- und zu Gott und Jesu hinzuwenden! Aber finden wir denn solche Fehler, Sünden und Laster bloß bei Anderen und nicht auch bei uns selbst? Sollen wir denn den Wunsch: Ach, dass sie anders werden möchten, bloß für Andere und nicht auch für uns selbst empfinden? Ja, wenn wir uns nur selbst erkennten! Wenn unsere Eitelkeit uns nur nicht immer vorspiegelte, dass wir so viel besser seien, als wir sind! Wenn wir nur nicht unsere Fehler und Gebrechen so meisterlich aus unseren Herzen durch allerlei Entschuldigungen wegzuklügeln wüssten! Daher kommt es denn, dass die meisten Menschen zwar unerbittlich streng gegen Andere, gegen sich selbst aber höchst nachsichtig sind. Da ist bei dem Nächsten keine Schwäche, die nicht aufgespürt, keine Zweideutigkeit, die nicht sogleich auf das Schlimmste gedeutet, kein Fehltritt, der nicht alsbald entdeckt und weiter getragen, kein Verdacht, der nicht ohne Weiteres als völlig bestätigt und zweifellos wahr angenommen würde. Da will ein Jeder meistern und bessern, oder doch richten, und um dies tun zu können, wird oft den geringfügigsten Dingen eine Wichtigkeit und Verwerflichkeit angedichtet, die sie entweder gar nicht haben, oder doch für unser Urteil nicht haben sollten, da wir ja selbst nicht frei von Schwäche sind, und somit den Stab über uns selbst brechen. Das ist jenes nach dem Wort des Heilandes so treffend benannte Splitterrichten, vor dem er uns warnt mit den Worten unsers Evangelii: „Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr auch nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. Was siehst du aber einen Splitter in deines Bruders Auge, und des Balkens in deinem Auge wirst du nicht gewahr? Oder wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen; und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, ziehe zuvor den Balken aus deinem Auge; und besiehe dann, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.“ Da hört ihr es, Geliebte, wie der Heiland den Splitterrichtern selbst zuruft: Fangt bei euch selber an! Werdet erst selbst frommer, ehe ihr Andere der Gottlosigkeit anklagt; werdet erst selbst ehrlicher, ehe ihr über die Unredlichkeit der Menschen seufzt! Werdet selbst erst keuscher, in Gedanken, Worten und Werken, ehe ihr Andere der Sittenlosigkeit beschuldigt; werdet selbst erst pflichtgetreuer, ehe ihr Andere wegen Untreue vor Gott verurteilt; werdet selbst erst stärker in allem Guten, bevor ihr der Anderen Schwäche vor euer Gericht zieht! - Soll denn das Evangelium immer tauben Ohren gepredigt werden? Und ist dies Evangelium nicht schon lange genug gepredigt worden, und hat sich die Zahl, die Fertigkeit und die Giftigkeit der splitterrichtenden Zungen dadurch wohl merklich vermindert? Nein, sie sind immer noch geschäftig; es gibt immer noch Geschöpfe, die nichts lieber tun, als ihren Nächsten unbarmherzig bekritteln, die eine Art Wollust zu empfinden scheinen, wenn sie einen guten Ruf verdächtigen oder untergraben können, und das sind gewöhnlich solche, die selbst den größten Balken in ihrem Auge tragen, die aber vor dem Richten Anderer gar nicht zum Nachdenken über sich selbst kommen. Ich sage es euch! ein unbarmherziges Gericht wird über euch ergehen, da ihr selbst so unbarmherzig seid, denn der Heiland spricht: Mit eben dem Maß, da ihr mit messt, wird man euch wieder messen! - O, dass ich solchen Splitterrichtern ihr eigenes Bild recht treu und treffend vorhalten könnte, dass sie die eigene hässliche Gestalt erschreckend erkennten! dass ich ihnen zeigen könnte, wie hohl es in ihrem Kopf sein muss, dass sie, gleichgültig gegen die ernsten Dinge, gegen die höheren geistigen und gesellschaftlichen Bestrebungen, die unsere Zeit bewegen, in ihren gewöhnlichen geselligen Gesprächen nichts Anders vorzubringen wissen, oder nichts lieber behandeln mögen, als solchen verwerflichen bösen Leumund! Dass ich ihnen zeigen könnte, wie schwarz ihr Herz sein muss, dass sie, statt die Schwächen und Gebrechen ihrer Brüder mit Liebe schonend zu bedecken, oder ohne Gepränge an ihrer Besserung zu arbeiten, ein Vergnügen daran finden, sie geschäftig weiter zu tragen, schwarz auszumalen, und dann die Galle ihres Urteils darüber zu gießen, - und das Alles, ohne zu bedenken, wie unchristlich das ist, was sie tun, wie sehr sie dadurch die sittliche Wiedererhebung der vielleicht nur aus Schwachheit und Übereilung Gefallenen erschweren, wie der Heiland solches Verfahren mit Recht einen großen Balken nennen würde, den sie vor Allem aus ihrem Auge ziehen müssen, bevor sie auch nur recht erkennen können, was an ihrem Nächsten ist. O! fangt bei euch selber an! Richtet nicht zuerst, damit euch Gott nicht um so schwerer richte! Der Jünger ist nicht über dem Meister! Jesus, unser Meister, sagt aber von sich, dass er nicht gekommen sei, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn selig werde! Auch ihr seid nicht berufen, die Welt zu richten, sondern mit Eifer zu sorgen, dass ihr selig werdet, und Andere mit Liebe und Sanftmut dazu anzuleiten. Darum lasst euch warnen, und: Fangt bei euch selber an. Das Wort sei endlich auch

3) eine Mahnung für die Weltverbesserer!

Das Geschlecht der sich dazu berufen Dünkenden scheint heut zu Tage sich besonderen Zuwachses zu erfreuen, und nicht selten hört man sich laut hervordrängende Stimmen, welche sich zu beweisen bemühen, wie schlecht es in den Gemeinde, in der Kirche, im Staat stehe, die sogleich zu sagen wissen, wie das Alles anders geordnet sein sollte und könnte, und die sich laut vermessen, das Alles besser zu machen, wenn sie nur an den rechten Platz gestellt würden! Wir wollen nicht leugnen, dass bei uns in den Gemeinden noch lange nicht Alles so ist, wie es sein sollte; dass die Kirche sich in einem Zustand der Unfreiheit, der Gebundenheit, der Rechtlosigkeit nach innen und außen befindet, dass in ihr auf eine neue Knechtung des Geistes durch den Buchstaben hingearbeitet wird, wie man sie seit einem halben Jahrhundert für immer überwunden glaubte, dass darum insbesondere ihre Stellung zum Staat und ihre innere gesellschaftliche Ordnung einer neuen Regelung dringend bedarf, wenn sie nicht in immer neue und schwerere Kämpfe verwickelt werden soll; dass der Staat dringend einer fortschreitenden gesetzlichen Umgestaltung vieler seiner Verhältnisse in Folge der ganz neu gestalteten Zeitverhältnisse bedarf. Sind es ja doch nur menschliche Kräfte und Einsichten, welche an dem Bau und an der Leitung dieser Gemeinschaften arbeiten, und welche eben so sehr dem Irrtume ausgesetzt, als einer ins Unendliche gehenden Vervollkommnung fähig, zu jeder Zeit etwas zu wünschen übrig lassen werden, schon darum, weil sich immer neue Bedürfnisse finden, und diese der Natur der Sache nach immer eher da sind, als ihre Abhilfe. Wir wollen eben so wenig die rege und lebendige Teilnahme an der Entwicklung des Gemeindewohles, des Heiles in Staat und Kirche verdächtigen, welche wir gerade für eine der köstlichsten Erscheinungen der neueren Zeit halten; wir glauben vielmehr, dass Jeder, der sie nicht teilt, der sich nicht aus bester Kraft bei dem Bau der neuen Zeit, die uns unverkennbar tagt, beteiligen will, seiner Pflicht ermangelt. Noch viel weniger kann es unsere Absicht sein, die beredten und geistesstarken Vorkämpfer für Recht und Freiheit, an denen es unserer Zeit, Gott Lob! auch nicht fehlt, irgend wie verdächtigen zu wollen, da wir im Gegenteil sie ehren und uns ihrer freuen! - Aber Jeder wird auch zugestehen müssen, dass es einer durchgebildeten Kraft, einer reinen Gesinnung und der Freiheit von aller Selbstsucht bedürfe, um den Grundriss zu dem fortschreitenden Bau aller Verhältnisse entwerfen zu können, um ein Werkmeister bei diesem Bau zu sein. Der Mangel einer solchen geistigen und sittlichen Befähigung wird aber durch bloße Redensarten, durch selbstsüchtige Klagen nicht ergänzt, und wo Jeder ein Werkmeister sein, Jeder sich geltend machen und nach seiner Richtung hinziehen will, da kann jene Eintracht des Wirkens nicht erzeugt werden, ohne welche nichts Großes gedeihen kann. Wer darum nicht auf einem solchen Standpunkt steht, oder sich geistig so weit erheben kann, um das Große und Allgemeine überschauen zu können, wer noch irgendwie selbstsüchtige und eitle Zwecke verfolgt, der ist nicht befähigt, ein Werkmeister zu sein, und er würde als solcher nur schaden, indem er, in Folge seiner beschränkten Auffassung, seiner eigensüchtigen Gesinnungen leicht falsche Bahnen einschlagen, heilsamen Fortschritten das nötige Vertrauen entziehen, dadurch aber die Kräfte zersplittern würde, deren einmütiges und vertrauensvolles Wirken notwendig ist, um etwas wahrhaft Großes und Gutes zu erringen. - Nun ist es aber leider! wahr, dass man unter den Leuten, welche am lautesten absprechen, am eifrigsten tadeln und am schnellsten mit ihren Vorschlägen bei der Hand sind, gar oft solche findet, welche ihre eigenen Leidenschaften nicht beherrschen, ihrem eigenen Haus und Geschäfte nicht wohl vorstehen, ihre eigenen Kinder nicht in Zucht und Gehorsam erhalten können. Aber Land und Leute zu regieren, Kirche und Gemeinde zu ordnen, - das möchten sie gleich übernehmen! Das sind die Weltverbesserer, von denen ich meine, dass sie den Spruch: Fangt bei Euch selber an! als eine ernste Mahnung annehmen und beherzigen sollten. Er ruft ihnen zu: Lernt doch erst euch selbst beherrschen, werdet doch erst im Kleinen treu, füllt erst die kleine Stelle völlig aus, auf welcher ihr steht! So lange ihr nicht den Balken aus dem eigenen Auge ziehet, könnt ihr das Mangelnde außer euch gar nicht richtig beurteilen; so lange ihr noch nicht selbst besser geworden seid, seid ihr nur blinde Leiter, und würdet mit denen, die sich euch anvertrauen, in die Grube fallen.

Wohl, Geliebte, ist es des Menschenfreundes teuerste Hoffnung, dass es einst besser werden werde auf Erden, und kann er dazu mitwirken, so ist ihm keine Entsagung, keine Mühe zu schwer, kein Opfer zu groß! Das war's ja, wofür Jesus lebte und starb; die Welt sollte wiedergeboren werden zu einem Reich Gottes. Aber er zeigt es auch, wie das allein geschehen könne: durch die Wiedergeburt des Einzelnen zur Heiligung! Es gibt keinen größeren Feind des besonderen, wie des gemeinsamen Wohles, als die Sünde. Wo sie herrscht, da ist statt Liebe Selbstsucht, da kann Glück und Friede nie gedeihen. In den einzelnen Menschen, in den Häusern und Familien muss die gute Sitte gepflegt, muss Liebe und Gerechtigkeit heimisch gemacht werden; von da muss sie ausgehen über das übrige Gemeinwesen. Was an den heimischen Herden gepflegt und den Einzelnen zur andern Natur geworden ist, das wird sich dann auch in der Öffentlichkeit bewähren, und seine schönste zeitliche Frucht dadurch tragen, dass es dorthin die Gerechtigkeit und die Heiligung verpflanzt. Der weltlichen Schlauheit falsche Kunst ist es nicht, welche des gemeinen Wesens Wohl sicher gründet; Gerechtigkeit erhöht ein Volk, Frömmigkeit und Sittlichkeit sind sein schönster Ruhm. Wir alle aber, die wir dazu mitwirken wollen, dass unser Volk solcher Erhöhung, solches Ruhmes immer mehr teilhaftig werde, wir wollen bei uns anfangen! Das Einzelne ist leichter zu bessern, als das Ganze; damit lasst uns beginnen, und sofern uns auch ein äußerer Beruf geworden ist, dem Allgemeinen vorzustehen und es zu leiten, so lasst uns darin eine verstärkte Pflicht finden, bei uns selbst anzufangen, uns vor Gott und der Welt unbefleckt zu erhalten; denn nur dann wird und kann auf unserm Werk der Segen ruhen.

So seht denn nun, Geliebte, worin wir uns allerdings selbst die Nächsten sind: Nicht darin, dass wir der Erde Gut und Lust an uns reißen, unbekümmert darum, ob die Brüder darob uns anklagen und verzweifeln; hierbei heißt es immer: Was du nicht willst, dass die Leute dir tun, das tue ihnen auch nicht. Wohl aber sind wir uns die Nächsten in unserer Ausbildung, in unserer Besserung und Selbstbeherrschung, zu trachten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit. Uns sollen wir richten, die Brüder nicht; - unsere Sünde sollen wir verdammen, die Brüder nicht; und wenn wir vorgeschritten sind in der Heiligung, dann erst sind wir befähigt und berufen, auch die Brüder mit sanfter Schonung zu ermahnen, und sie hinzuleiten auf den Weg des Lebens. Die Demut ist der Tugend Krone, der stolze Mut kommt vor dem Fall! Darum wollen wir in solcher Demut mit jeder Besserung bei uns selbst beginnen, damit uns und durch uns auch Anderen zu Teil werde die Krone des ewigen Lebens.

Dazu gib uns, o Vater, mit der rechten Weisheit auch die rechte Demut. Amen.

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