Kohlbrügge, Hermann Friedrich - „Aus tiefer Not“ - Elfte Predigt.

Kohlbrügge, Hermann Friedrich - „Aus tiefer Not“ - Elfte Predigt.

Gehalten den 12. Dezember 1858, vormittags.

Gesang vor der Predigt.

Psalm 133, Vers 1-3.

O seht, wie schön, wie lieblich ist's, wenn Glieder
An Einem Leib, wenn wir als treue Brüder
Einträchtig in der Liebe stehn!
Ja, jeder wird des andern Heil erhöhn,
Wenn Liebe, die aus unserm Herzen fließt,
In andrer Herzen sich ergießt.

Wie Salböl, das auf Aarons Haupt gegossen,
In seinen Bart und Kleid herabgeflossen,
Mit Wohlgerüchen alles füllt,
So herrlich ist es, wo die Eintracht gilt;
Wie eine Tauwolk erst den Hermon tränkt
Und alsdann sich auf Zion senkt.

Wo Liebe wohnt, erquickt sie Menschenherzen.
Sie wecket Freud', sie lindert alle Schmerzen.
Gott wohnet, wo die Liebe wohnt.
Und seht! wie schön er ihre Freunde lohnt:
Hier quillt für sie der Segen dieser Zeit,
Ja, Leben für die Ewigkeit.

Geliebte Brüder und Schwestern im Herrn! Wenn ein Mensch, der verloren war und auf dem flachen Feld in seinem Blut lag (Hesek. 16,5.6), einmal heimgesucht wird durch die Macht ewiger Liebe und so mit einem Mal aus dem Verderben herausgenommen und erfasst worden ist mit ewiger Liebe, so dass es zu ihm heißt: „Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Barmherzigkeit“ so hat er mit einem mal das Bild des Liebenden in seine Seele aufgenommen, das lebendige Bild; und wenn er nun das Bild wieder sieht, so wallt sein Herz, und wie er mit ewiger Liebe geliebt ist, so liebt er von nun an auch ewig. Er, der da liebt und errettet, hat gesagt: „Das ist mein Bund mit dir: So wenig wie die Ordnungen des Himmels können verändert werden, so wenig wird verändert mein Bund mit dir, dass ich dir nicht sollte gnädig sein!“ und so liebt denn auch die Seele unveränderlich.

Wo erblicken wir nun aber das Bild dessen, der uns zuerst und so hoch geliebt hat? Ich meine: in den Brüdern! ich meine: in den Schwestern! ich meine: in den Nächsten! Da kommt die Liebe auf die Probe; hier ist der Probierstein, ob man von dem Herrn wahrhaftig geliebt ist. Des Herrn Jesu Gebote sind nicht schwer. (1. Joh. 5,3.) Das hat er selbst gesagt, und das ist auch wahr; denn es geht bestimmt ganz von selbst: „Liebt Er mich, so liebe ich dich, mein Bruder, meine Schwester!“ Diese Liebe ist ein wunderbarer Rückschlag der ewigen himmlischen Liebe. Wir haben den, der uns zuerst geliebt hat, nicht mit unseren Augen gesehen, aber wir können ihn doch tagtäglich sehen in unserem Nächsten, im Bruder, in der Schwester. Sie tragen sein Bild. Hat man nun Teil an der Liebe des Herrn und sieht man sein Bild, so kann man nicht anders als wieder lieben; und diese Liebe wird an drei Stücken offenbar: 1) dass man freigebig ist; 2) dass man tröstet und immerdar Salbe für die Wunden bereit hat; und 3) dass man sich gegenseitig Mut macht.

Ich sage also: Wo man liebt, da ist man freigebig, da tröstet man, da macht man sich gegenseitig Mut. Man kommt nicht, um von dem anderen etwas zu holen; man will von dem anderen nichts haben, sondern man ist so reich, so reich, dass man mit Geben nicht aufhören kann. Man sucht nicht so sehr für sich selbst Trost, vielmehr sucht man seinen Trost darin, dass der andere getröstet worden ist; und während man einem anderen in seiner Bangigkeit Mut macht, bekommt man selbst Mut.

Das sind nun nicht etwa an die Wand gemalte Puppen, sondern wo das eine wahr ist, da ist das andere auch wahr; wo man von dem Herrn geliebt ist, da liebt man wieder; und wo man ewig geliebt wird, da liebt man ewig. Alles Leiden und alle Not kann diese Liebe nicht aufheben; alle Feindschaft und Bitterkeit, aller Hass und alle Verkehrtheit sind nicht imstande, diese Liebe auszulöschen. (Hohel. 8,6.7.) Darum hat der Herr Jesus zu seinen Jüngern gesagt: „Daran wird man erkennen, dass ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe unter einander habt“ (Joh. 13,35).

Es war bei den Jüngern freilich nicht immer so, sondern es kam öfters vor, dass einige die Ersten sein. wollten, und dass der eine etwas gegen den anderen hatte; aber wenn der Geist in die Räder fuhr, dann gingen sie doch alle Einen Weg, hatten Eine Wahl, Einen Zweck, führten dasselbe Wappen, stritten wider denselben Feind. (Ezech. 1,15-21.) Wenn sie nun unter einander allerlei Streitigkeiten hatten, so brachte der Herr sie etwa in den Tiegel hinein, auf dass sie da erführen: Wir sind arme verlorene Sünder! und dass er liebt, dass er uns Verlorene liebt, das ist bei ihm freiwillige Liebe, das haben wir nicht verdient! So suchten sie denn nachher für sich nichts, aber es ward von da an ihr Charakter, zu suchen was verloren ist, zu helfen den Verletzten, zu trösten die Betrübten, und zu überraschen mit Heil, wenn die Lampe ausgehen will.

Alles Bittere, alle Verkehrtheit, Hochmut, Hass, und was trennend zwischen Brüdern und Schwestern liegt, ist eigentlich im Grunde nichts anderes als ein Merkmal, dass sie nicht arm sind; dass sie ihre Verlorenheit nicht kennen; dass sie noch nicht wissen, was es ist, aus freier Gnade errettet zu sein. Wenn aber das Bild ewiger Liebe wahrhaftig als ein Licht aufgegangen ist in der Seele, dann küsse ich das Bild, wenn ich es sehe, dann liebe ich es, wo ich es finde; und wenn es mich auch ins Angesicht schlägt, die Liebe bleibt dennoch; sie bleibt am Geben, so lange sie hienieden atmet; sie bleibt am Trösten, so lange sie, weil sie eben liebt, betrübt wird; sie bleibt daran, Mut einzuflößen, so lange sie selbst hienieden, weil sie liebt, zu kämpfen hat.

Von diesem Standpunkt aus, meine Geliebten! betrachte ich und wünsche mit euch zu behandeln die Worte, die wir finden

Psalm 118, Vers 26 u. 27.
Wir segnen euch, die ihr vom Haus des Herrn seid. Der Herr ist Gott, der uns erleuchtet.

Wir wollen sehen, wie weit wir in dieser Morgenstunde kommen. Da lesen wir also: „Wir segnen euch, die ihr vom Haus des Herrn seid“, - da habt ihr das Freigebige; „der Herr ist Gott“, da haben wir den Trost; „der uns erleuchtet“, da haben wir das, was Mut gibt.

Zwischengesang.

Psalm 115, Vers 7.

Wer diesen Gott verehret, groß und klein,
Wird seines Segens auch teilhaftig sein,
Freud' für Groß und Kleine!
Der Herr vermehrt nach jedes Fähigkeit,
Uns und den Kindern Heil und Seligkeit,
Bis er uns selbst erscheine.

Wir kommen also zuerst auf das Freigebige der Liebe, nämlich das Freigebige der Liebe, womit diejenigen lieben, die in Christo Jesu sind, die nicht wandeln nach Fleisch, sondern nach Geist. Dies Freigebige ist ausgesprochen in den Worten: „Wir segnen euch, die ihr vom Haus des Herrn seid“. Etliche übersetzen hier: „Wir segnen euch aus dem Haus des Herrn“. Das Hebräische lässt beide Übersetzungen zu, entweder: „Wir segnen euch aus dem Haus des Herrn“, oder: „Wir segnen euch, die ihr vom Haus des Herrn seid“. So viel ist gewiss, dass der Segen, womit hier gesegnet wird, aus dem Haus des Herrn, von dem Gnadenstuhl, von der Bundeslade her kommt; und wiederum, dass derjenige, der bloß äußerlich und jüdisch im Haus Gottes steht und dem Gnadenstuhl nahe ist, solche Worte nicht sagen kann.

Der Herr Jesus Christus hat die Seinigen alle gemacht zu Königen und Priestern Gottes, des Vaters; und weil sie nun mal Könige sind, haben sie große Gewalt, sie verfügen über Himmel und Erde. Es herrschen hier auf Erden wohl Kaiser, Könige, Herzoge, Grafen und andere mächtige Leute, aber bestimmt, sie sind es nicht, die in Wahrheit herrschen, sondern die sind es, die der Herr Jesus sich zu Königen erkauft hat mit seinem Blut. Das sind dem äußerlichen nach durchweg arme Leute, die oft kaum fünf Groschen verdienen; aber ist der Gnadenstuhl aufgerichtet im Herzen, so steht da ein König und ein Priester, der verfügt über Himmel und Erde, über Gottes Herz, über des Herrn Jesu Liebe, über alle geistlichen Schätze. Hört, meine Lieben: er verfügt nicht über Blitz und Donner, auch nicht über Hölle oder Verdammnis, nicht über die Macht, um andere zu verfluchen, sondern er verfügt über Gottes Segen.

Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden; von dem Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen! Es jauchzt der Himmel, dass dieser verachtete Stein erhöht ist, und nun lässt der Herr Gott Sonne und Mond scheinen und lässt regnen über Gute und Böse; es trägt das Lamm die Sünde der Welt, ja, es trägt dieser Stein das Weltall. Der Herr sendet die Seinen aus, zu segnen; wollen die Leute den Segen nicht haben, so geht man damit wieder nach Haus; wollen die Leute den Frieden nicht haben, nachdem man ihnen denselben angeboten, man ziehe sich ruhig zurück, seinen eigenen Frieden verliert man nicht1). Der Herr gibt den Seinen einen Ölkrug mit, der wird nie leer; und sollten der Fässer auch Millionen in der Welt sein: so lange es leere Fässer gibt, so lange haben, die des Herrn sind, auch etwas im Krug, um mitzuteilen; sind aber keine leeren Fässer mehr da, dann hört es mit dem Öl auf.

Gott der Herr, meine Geliebten, hat alles in seiner Hand. Himmel und Erde, das Meer und alles, was darin ist, was verborgen liegt im Schoß der Erde und was sich auf ihrer Oberfläche befindet, was gesehen wird und was nicht gesehen wird, es ist alles sein, es ist alles unseres Herrn Jesu, er hat sich das alles erworben mit seinem Blut. Das ist ein reicher König, ein reicher Mann, der kann was geben; der hat an seinem Hof Minister, und diese haben nichts anderes zu tun, als Heil zu bringen und auszuteilen. Das sind aber selbst wieder arme Tiere; sie schimmern nicht von Gold, sondern es sind Kreuzträger; es sind Leute, die sich fortwährend in der Schlacht befinden, sie weinen stets, sie liegen fortwährend drunter, sie sind vom Kopf bis zu der Fußsohle mit Wunden bedeckt, Tag und Nacht werden tödliche Pfeile des Bösewichts auf sie abgedrückt. Aber eben ihre eigene grässliche Not macht, dass sie Gefühl haben für das, was Not ist; eben die bitteren Tränen, die sie weinen, machen, dass sie Tränen nicht sehen können; eben ihre tiefen Wunden, die sie fortwährend bekommen, machen, dass sie selbst von geringen Schmerzen anderer nicht sagen: Ach, das ist nichts; ich habe was Größeres durchgemacht! sondern sie wissen, wie die Wunde schmerzt, wie sie brennt. Das sind die Diener, die am Hof dieses Königs stehen, von dem sie gesagt haben: „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ der also kommt im Auftrag, in der Vollmacht des Vaters. Wenn sie auf den König sehen, so müssen sie sagen: Das hätte ich nicht gedacht! Ich dachte, er würde mich totgeschlagen haben, aber er ist ein erbarmender Herr; es ist alles Gnade, was von seinen Lippen fließt! Er hat mich gekannt, da ich unter dem Feigenbaume saß; er hat meine Tränen gezählt, die ich im Verborgenen weinte; er hat mich durchschaut bis ins tiefste Herz und hat alle meine Wünsche und meine Gebete gekannt! Und ob ich nun auch vor ihm eine so erbärmliche Kreatur bin, bei ihm strahlt alles von Liebe, Gnade und Erbarmung, und er macht mich so reich, dass ich mit keinem König der Welt tauschen möchte!

Meine Lieben! Es waren einst ein paar Aussätzige; die hielten sich vor der Stadt Samaria auf und durften nicht in die Stadt hineinkommen, weil sie eben aussätzig waren. So lebten sie denn in der größten Todesgefahr; denn draußen war das Lager der Feinde. Da sprachen sie einmal in einer Nacht unter einander: Ja, wir sterben doch; es ist am besten, dass wir ins Lager der Feinde uns begeben; lassen sie uns leben, so leben wir; töten sie uns, so sind wir tot! - Wie sie nun in das Lager hineinkommen, da sehen sie keine Schildwache, sie sehen keinen Menschen; sie öffnen ein Zelt und finden alles voll Kostbarkeiten: goldene und silberne Kannen und Becher, köstliche Edelsteine, allerlei schöne Waffen von Gold und Silber, die schönsten und kostbarsten Kleider; und die guten Leute machten sich dran, erquickten sich an dem köstlichen Wein und den trefflichen Speisen, gingen dann wieder in ein anderes Zelt und sagten: Das sieht doch wunderbar aus! Was sind wir reich! Aber sie begriffen doch, dass sie, kleine Menschlein, das alles nicht mit sich nehmen konnten; darum sagten sie zu einander: Nein, das ist ein Freudentag! der geht uns nicht allein an, sondern das ganze liebe Volk, das in Not und Angst steckt! Wir wollen uns aufmachen und in die Stadt geben; und ob wir auch als Aussätzige nicht hinein dürfen, das tut hier nichts zur Sache wir sind so überglücklich, sie sollen die Freudenbotschaft auch haben! So lassen sie denn Gold, Silber, Edelsteine und die köstlichen Kleider liegen, machen sich auf nach der Stadt und verkündigen: Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat! O glückliches Volk, all deine Feinde sind vertrieben von Gott! Und das Volk kommt heraus und sieht alles, was der Herr getan hat, und auch die Hausehre teilt den Raub aus. (2. Kön. 7.)

So sind die Minister am Hof des Herrn Jesu, die Könige und Priester, welche er gemacht hat; sie sind aussätzig in sich selbst, arm und betrübt, und denken: Ach, jetzt ist es doch verloren, es ist doch aus mit der Verheißung, der Feind hat alles inne, der Tod hat mir alles geraubt, ich habe nichts mehr, es ist mir einerlei, wo ich nun hinkomme und was aus mir wird! Aber der Same bleibt doch in denen, die aus Gott geboren sind; und wirft sie der Herr Gott auch in die tiefste Hölle hinein, sie können nicht darin liegen bleiben, sie kommen wieder empor, ja, sie bringen auch den mit sich heraus, der in derselben Tiefe mit ihnen zu Gott aufschreit um Gnade.

Wisst ihr es nun, was das für Leute sind, die da sagen: „Wir segnen euch“? Aber ich predige euch dies, auf dass ihr alle mögt solche Leute sein und werden! Seht, meine Geliebten, dazu gehört nicht etwa Gold und Silber, dazu gehört nicht eine Erziehungsanstalt, um so etwas zu werden, sondern dazu gehört Sünde, dass man seine Sünde erkennt, indem Gott und sein Gesetz respektiert wird. Dazu gehört Not und Armut, dass ein Mensch dessen eingedenk sei, was. er ist. Was habe ich zu fordern, der ich Staub und Asche bin? Ich sitze da augenblicklich und will hadern mit meinem Nächsten, und eine Sekunde nur, ein Hauch nur, und meine Seele kann gefordert werden vor den Richterstuhl Christi! Das predige ich euch. Wer nun arm, wahrhaftig arm und elend ist, was wird er tun? Lieben? Das kann er nicht! Sich aufmachen zu dem Herrn um Gnade! Und wenn er Gottes freie Gnade an seiner Seele wahrhaftig erfährt, so macht er es ebenso wie jene Aussätzigen, welche, als sie sich auf den Weg gemacht hatten ins Lager der Feinde, und indem sie fürchteten, der Feind würde sie umbringen, nachdem sie aus der Stadt Gottes geworfen waren, den Feind vertrieben und der Schätze viel gefunden hatten. - Da kommt es im Herzen auf: „Das kann ich nicht für mich behalten! Das muss das ganze Volk auch haben, das ganze Volk Christi!“ Also: „Wir segnen euch, die ihr vom Haus des Herrn seid!“

Die da sagen „wir“ sind Kreuzträger, und diejenigen, welche sie segnen, sind auch Kreuzträger, sind Mitpilger auf dem Weg nach dem Jerusalem, das droben ist. Im täglichen Leben pflegt man es so zu machen: Wenn jemand von einer Reise in unser Haus hineinkommt, so heißen wir ihn willkommen. So ist denn dieses „wir segnen euch“ auch ein „willkommen heißen“. „Segnen“ heißt eigentlich: gut heißen. Die nun also herankommen, nun, das sind Leute, wie sie eben sind: Blinde, Lahme, Aussätzige, es ist nicht viel Gutes an ihnen; wenigstens bekennen sie das von sich, dass nicht viel Gutes an ihnen ist; ja, sie gehen noch weiter und bekennen, dass gar nichts Gutes an ihnen ist; sie bekennen gegenüber dem Gesetz Gottes: Wenn ich auch wollte Gottes Gesetz halten, die Sünde, die in mir wohnt, lässt es mir nicht zu; ja, ich bin ganz unbefugt dazu, Gottes Gesetz halten zu wollen, und habe mich selbst unbefugt dazu gemacht. Es sind Leute, welche auf dem Weg nach Jerusalem sind; sie sind durch das Schaftor hindurchgekommen, ja, sie sind auch durch das hohe Tor gekommen vor den Brandopferaltar, aber da stehen sie nun leichenblass und zitternd und denken: Wird nicht vielleicht das Feuer aus dem Haus Gottes herausfahren und uns verzehren? So ist des Herrn Volk. Die ganze Welt kann dem Teufel trauen, aber des Herrn Volk kann seinem Gott nicht trauen. Die ganze Welt weiß von keiner Gefahr, aber des Herrn Volk sieht sich stets in Gefahr, ist stets voll Angst und Furcht! Ja, für andere können sie wohl glauben, aber für sich selbst können sie Gott nichts zutrauen; sie können nicht glauben, dass er ihre Sünde vergibt, dass er sie nicht verzehre mit dem Feuer seines Zornes, dass er ihnen, ja eben ihnen wohl will. Fluch- und verdammungswürdig erkennt sich ein jeder, der vom Haus des Herrn ist; und, die Hand aufs Herz, wenn es einmal drum geht, kann keiner glauben, keiner es für sich festhalten. Da liegt es vielmehr also im Herzen: Ja, wenn ich nun auch in Gottes Haus, bei seinem Altar bin, - ich sehe ja wohl das Lamm aufgehen in den Flammen, vernehme die Posaune, - aber sündiger Mensch ich! sollte das mir gelten? sollte ich, ich von ihm angenommen sein? habe ich, ich den Tod nicht zu fürchten? Ach, wüsstest du, wie es in meinem Haus aussieht! wüsstest du, was in meinem Herzen umgeht und darin spuckt! Ist Gott mit mir, warum geht es mir denn so? Ist Gott treu und wahr, warum hat er denn diese oder jene Verheißung, die er mir gegeben, nicht erfüllt? Ich stehe hier wohl in den Höfen Gottes, aber im Inneren bin ich verlassen! Ich höre die Posaune wohl, aber der Teufel raunt mir allerlei ins Ohr hinein! Ich gehe wohl in die Vorhöfe, aber hier im Herzen liegen doch ganz andere Dinge, da liegt Feindschaft, ja, Hass und Feindschaft wider Gott!

Der Geist spricht: Wir segnen euch, die ihr vom Haus des Herrn seid! Vom Haus des Herrn - ja, bin ich denn vom Haus des Herrn? Da untersuche sich ein jeder selbst. Wo er her kommt, weiß doch ein jeder wohl. Im natürlichen wird er doch nicht seines Vaters Haus vergessen haben, wird seine Heimat nicht vergessen haben; er weiß doch wohl, wo er her ist. Also weiß ein jeder, der aus Gott geboren ist, auch, wo er her ist; denn dieses „aus dem Haus Gottes sein“ heißt mit anderen Worten: Sohn des Hauses, oder Hausgenosse Gottes sein (Ephes. 2,19); es ist also dasselbe als: „aus Gott geboren sein“, wie Johannes es in seinem Brief ausdrückt; es heißt auch: aus der Wahrheit sein. Das weiß ein jeder, der es erlebt und erfahren hat, wo er her ist. Ist er ein Kind, so frage er seine Taufe; ist er erwachsen, so frage er die Stunden und Augenblicke, die er allein kennt, da er in bangen Nächten vor Gott gelegen. Ich sage: das weiß ein jeder, der vom Haus Gottes ist, dass er vom Haus Gottes ist. Aber eines weiß er nicht, ob er im Haus Gottes bleiben wird? Was? Gibt es denn einen Abfall der Heiligen? Nein! Was Gott erwählt hat von Anfang, das bringt er auch in den Himmel! Aber ist es für mich? Steht mein Name in dem Buch des Lebens? Wird er nicht aus dem Buch des Lebens gestrichen werden? Das ist die bange Frage meines Herzens. Es baut kein Kind Gottes auf seine Wiedergeburt, auf seine Bekehrung. Meine Wiedergeburt, meine Bekehrung habe ich tausendmal vor Gott wieder befleckt; ich muss einen anderen Grund, einen anderen Verlass haben.

Diejenigen, welche den Segen mitteilen, charakterisieren die, welche sie segnen, also, dass sie sagen: „Die ihr vom Haus des Herrn seid“. Warum tun sie das? Ja, ich kann doch mein Geld nicht ins Wasser werfen! Ich kann doch einem Pferd, Ochsen oder Esel nicht vorsetzen, was dem Menschen gehört! Ich kann einen Erwachsenen doch nicht behandeln wie ein Kind! Ich kann nicht mit Salbe kommen zu dem, der gesund ist, und Heilung bringen wollen dem, des Gebein nicht zerbrochen ist; nicht mit Rat kommen zu dem, der ohne Verlegenheit ist, noch mit Hilfe zu dem, der die Macht in seiner eigenen Hand hat! Ich kann nicht mit dem Segen von oben kommen zu dem, der dieses Segens nicht bedarf, das ist: der seine Fluchwürdigkeit nicht fühlt. Das hat der Herr Jesus selbst gesagt: Ich bin nicht gesandt zu den Gesunden, sondern zu den Kranken. Die also Armut, Fluchwürdigkeit, Verdammungswürdigkeit in sich selbst erblicken, die erblicken auch das Überschwängliche der Gnade und Erbarmung ihres Königs; sie werden erfüllt von seinem Licht, von seiner Huld und Gnade; sie werden ganz von ihrem König eingenommen, und er gibt ihnen alles, dass sie es wiederum austeilen. Diese müssen nun wieder solche finden, wie sie selbst sind: Arme, Elende, Traurige, Aussätzige, die ihr Elend anerkennen und gerne möchten davon erlöst sein. Solche finden sie denn auch und teilen ihnen mit aus der Fülle Christi. Es kann nicht anders sein: einer, der verloren war und Errettung gefunden hat, er muss aufjauchzen: „Das verlorene Volk, es ist errettet!“ Es kann nicht anders sein: der im Abgrund gelegen und dann den Kuss des Friedens bekommen hat, - er muss aufjauchzen: „Die im Abgrund liegen, sie sind erlöst!“ So kommen sie denn und sprechen: „Wir segnen euch, die ihr vom Haus des Herrn seid!“ „Wir segnen euch“, oder: „Gesegnet seid ihr“, - das will also sagen: Wir haben es selbst von dem Herrn erfahren, dass er unseren Fluch und Vermaledeiung von uns ab und auf sich genommen, und uns mit seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit geholfen hat, da wir es uns am allerwenigsten versahen. Dieser König ist sanftmütig, er ist freundlich, er ist gut. Gnade fließt von seinen Lippen. Er hat uns Barmherzigkeit widerfahren lassen, uns, den Vornehmsten der Sünder. Und ob er uns wohl hart gezüchtigt hat, so hat er uns doch dem ewigen Tod nicht übergeben, und ob wir wohl vieles haben leiden müssen um seines Namens willen, so hat er doch alles wieder überschwänglich gut gemacht, indem er zu uns kam mit seinem hehren Trost. Und ob wir in der Trübsal wohl meinten, er lasse es mit uns und der Gemeine zu einem Garaus kommen, so ist er dennoch jetzt da mit der Vergebung der Sünden, mit der Auferstehung, mit dem ewigen Leben. - O ihr, die ihr vom Haus des Herrn seid, O ihr, die ihr aus Gott geboren, die ihr aus der Wahrheit seid, o ihr Unterdrückten, ihr Armen, ihr Geringen, die ihr zerbrochenen Geistes seid und euch fürchtet vor des Herrn Wort, die ihr davor in den Grund sinkt, - o ihr auf Hoffnung Gefangenen und Gebundenen, die ihr meint unter dem Fluch umkommen zu müssen, ob auch euer Gewissen euch verklagt, und ihr meint, von Gott verstoßen zu sein, - ob auch das Gesetz euch mit einem schweren und verdammenden Fluch niedergeschlagen hat, ob auch alle Teufel euch verfluchen, so verkündigen wir euch dennoch, nachdem wir den König Jesum Christum in seiner glorreichen Zukunft und Erscheinung erblickt haben, dass ihr seine Gesegneten, die Gesegneten des Vaters seid! O, ein glückseliges Volk seid ihr! Wohl dir, Israel, wer ist dir gleich? O Volk, das du durch den Herrn selig wirst, der deiner Hilfe Schild und das Schwert deines Sieges ist! (5. Mos. 33,29). - Ihr seid vom Herrn gesegnet, der das in euch angefangene gute Werk auch fortsetzt und vollendet zu seines Namens Ehre und nicht fahren lässt die Werke seiner Hände. Euer Herr und Gott kommt. Er ist da, euer König, und wird euch seinen reichen Schatz auftun, o ihr Mitgenossen an der Trübsal und am Reich und an der Geduld Jesu Christi! (Offenb. 1,9). Haben wir es euch nicht zuvor gesagt und euch damit getröstet, dass dieser König als ein Hirte die verlorenen Schafe sucht, sein Leben für sie lässt und ihnen ewiges Leben gibt, allen, die seine Stimme hören und ihm nachfolgen. Jetzt seid ihr da, und er ist da, - jetzt möget ihr erfahren, wie es ein gewisses und aller Annehmung wertes Wort ist, dass er gekommen ist, Sünder selig zu machen, und dass es allen denen wohl gehen muss, welche zu diesem Könige die Zuflucht nehmen. Nunmehr ist er da, gekrönt mit Preis und Ehre, und bringt uns und euch den Segen mit von seinem Vater, so dass wir jauchzen mögen: Gesegnet sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesu Christi, der uns gesegnet hat, uns fluch- und höllenwürdige - mit allerlei geistlichem Segen in himmlischen Gütern durch Christum! (Ephes. 1, 3). So tröstet der eine Kreuzträger den anderen und spricht: „Wir segnen euch, die ihr vom Haus des Herrn seid“. Diejenigen aber, welche hier sagen: „wir“, - wir segnen euch, von denen ist es sehr wohl möglich, dass sie augenblicklich für sich selbst nichts haben an all dem reichen Segen, den sie bringen. Eben die Psalmen, die am meisten klagen über Verlassenheit, Not und Elend, bringen auch am meisten Segen. Was da scheint zu jauchzen, das ist es nicht, sondern was da kriecht im Staube und klagt, das ist's. Sehr wohl möglich ist es, dass, der da segnet, für den Augenblick nichts hat an Gott, an Himmel und Erde, an allem Fleisch nichts, aber er sieht einen Bruder, eine Schwester sitzen in der Not, und so elend wie er ist, macht er doch des Vaters Kabinett auf und spricht: Da Bruder, da Schwester - nimm! Da hast du alles, was du bedarfst! So ist die Liebe. Geboren im Abgrund, fragt sie nicht nach dem Abgrund, sondern nach denen, die im Abgrund sind; sie blickt den Herrn Jesum an, und wo sie hört klagen: „Wir sind verloren! wir sind verdammt und verflucht!“ da spricht sie: „Wir segnen euch!“

Amen.

Schlussgesang.

Psalm 33, Vers 6.

Der Rat des Herrn steht ewig feste,
Er bleibet wie er ist gesinnt.
Sein Entwurf ist der allerbeste
Für uns, für Kind und Kindeskind.
Heil dir, Volk auf Erden!
Was wird aus dir werden!
Gott hat dich erwählt!
Hieß der Herr euch kommen,
Heil dann euch, ihr Frommen,
Die ihr ihn erwählt!

1)
Vergl. Mat. 10,13
Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/k/kohlbruegge/aus_tiefer_not/kohlbruegge-aus_tiefer_not-11._predigt.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain