Kögel, Rudolf - Der Kampf Jesu in Gethsemane.

Kögel, Rudolf - Der Kampf Jesu in Gethsemane.

Gründonnerstag.

Der Schauplatz des für unser zeitliches und ewiges Los entscheidendsten Kampfes, der je auf Erden durchgekämpft ward, ist Gethsemane.

Wenn man Jerusalem zum Stephanstor verlässt und den Kidron überschreitet, so trifft man noch heut am westlichen Fuß des Ölberges ein eingehegtes, mit zum Teil sehr alten Ölbäumen bepflanztes Stück Land, mutmaßlich früher eine Art Vorwerk oder Meierei, Gethsemane d. i. Ölkelter genannt. In diese Garteneinsamkeit zog sich Jesus öfters zur Nachtzeit zurück zum Alleinsein mit seinem Vater (Luk. 21,37), zu anderen Malen versammelte er dort seine Jünger zu ungestörtem Beisammensein (Joh. 18,2). Hier sollte auch der Gang nach Golgatha noch einmal und für immer erwogen, mit Gebet erwartet, bis zu seinen äußersten Schmerzensfolgen vorausempfunden und geistig durchlitten und dann uns weigerlich und ohne Einhalt angetreten werden. Am Vorabend seines Todes war es, wo sich Jesus zum letzten Male hierher begab. Die Fußwaschung, das letzte Passahmahl, die erste Abendmahlsfeier war im gepflasterten Saal gehalten, Judas hatte sich bereits aus dem Jüngerkreis entfernt, das große Hallelujah, der 113-118. Psalm, diese Gedenk- und Weissagungslieder Israels, waren in der Abendmahlsrunde angestimmt worden und verklungen; mit der Frage, ob die Seinen bei der ersten Aussendung Mangel gehabt, hatte Jesus sie seiner Fürsorge für die Zukunft versichert, mit der Frage nach Schwertern auf die feindselige Stimmung der Welt sie vorbereitet; ihr Anerbieten, mit ihm in den Tod zu gehen, hatte er mit demütigenden Aufklärungen über ihr trotziges und verzagtes Herz zurückweisen müssen; staunend, trauernd, ahnungsvoll hatte die kleine Schar ihres Meisters Abschiedsreden, voll Mitverklärung sein hohepriesterliches Gebet vernommen, das ein heiliger Rechenschaftsbericht an den Vater, ein Schutzvermächtnis an seine Jünger war - jetzt schritten sie durch die Schatten der Nacht nach dem Garten Gethsemane. Hier teilt Jesus seine Jünger, die größere Anzahl lässt er gleichsam im Vorhof warten: setzt euch hier, bis dass ich dorthin gehe und bete - ein ähnliches Wort wie jenes, mit welchem Abraham bei seinem Opfergang die Begleiter vor dem Morijah zurückließ. Petrum, Jakobum und Johannem, die sich früher besonders angetragen an seinem Schmerzenskelch und seiner Leidenstaufe teilzunehmen, die bevorzugten Zeugen in Jairi Hause und auf dem Berg der Verklärung, die künftigen Säulen der Kirche, nimmt er mit sich in den Garten, gleichsam in das Heilige: Meine Seele, spricht er, ist betrübt bis an den Tod, bleibt hier und wacht mit mir. Nichts wahrhaft Menschliches ist dem Menschensohn fremd, er begehrt teilnehmende, treuschlagende Herzen in der Nähe zu wissen: könnt ihr nicht eine Stunde mit mir wachen? Aber ein noch größeres Bedürfnis ist es seiner Treue inmitten seiner tiefsten Schmerzversunkenheit, die Schwankenden vor dem Fall zu warnen und zu bewahren, womit die Versuchung der nächsten Stunde droht: wacht und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Denn eben das Gebet gibt die rechte Sammlung, Fassung, Geistesgegenwart. Zum Gebet zieht sich, reißt sich von seinen Jüngern mit Zittern und zagen etwa einen Steinwurf weit der Hohepriester allein ins Allerheiligste, er wirft sich auf die Knie - das einzige Mal, dass uns diese äußere Beugung vom Herrn berichtet wird; er fällt auf sein Angesicht, er ruft, so dass es die Seinen hören: Abba, mein Vater, ist es möglich, so gehe dieser Kelch von mir, doch nicht wie ich will, sondern wie Du willst. Ein Engel vom Himmel erscheint ihm und stärkt ihn mit himmlischen Kräften, mit den Ernte-Aussichten der Erlösung. Ein neuer, ein noch heißerer Kampf beginnt, Todesschweiß tritt auf die Stirne des betenden Ringers, denn hier ist mehr als Jacob, hier ist mehr als Jakobs Kampf, Tropfen Blutes rinnen und gerinnen und fallen auf die Erde: „mein Vater, ist es nicht möglich, dass dieser Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn, so geschehe Dein Wille.“ Zum dritten Mal findet er die Jünger schlafend, zum dritten Mal flüchtet er sich zu seinem Vater zurück und betet dieselben Wort des Kampfes, des Sieges über den eigenen Willen, der Ergebung und der Erhebung.

Was war es, was dem Herrn diese Stunde so schwer machte? Ist ein derartiger Kampf am Sohne Gottes ohne Verlegung des Gehorsams und der vollendet sittlichen Größe denkbar? Warum ist uns der Anblick dieses Kampfes so unaussprechlich beweglich und wertvoll?

Mit Klarheit hatte Jesus von Anfang seinen Tod vorausgesehen, von Anfang an, wenn schon verhüllt ihn seinen Jüngern angedeutet. Die Tempelschänder würden zuletzt am heiligsten Tempel, am Leib des Messias sich vergreifen und diesen niederbrechen, der gute Hirte würde sein Leben für die Schafe lassen, das Weizenkorn nur durch Ersterben in der Erde Frucht bringen. Auf dem letzten Gang nach Jerusalem sagt es der Heiland frei und ohne Gleichnis heraus, dass Schmach und Anspeien und Kreuzestod durch seines Volkes und der Heiden Hände sein messianisches Erbe sei. Die feindselige Stimmung der in ihrer argen Gesinnung entlarvten, in ihrem politischen und kirchlichen Ansehen bedrohten Volksführer und Parteien gegen Jesum ist im Wachsen begriffen. Die Erscheinung eines solchen Arztes bringt den Krankheitsstoff zur Krisis. Wunderbar und widerspruchsvoll genug, reift der bis dahin aufgehaltene, wiederholt vereitelte Mordplan in den Gegnern an der Auferweckung des Lazarus. Judas nimmt die dreißig Silberlinge. Nicht hinterrücks und meuchlings, sondern offenbar vor allem Volk soll durch den Verrat des Judas, durch den Rat des ewigen Vaters Jesus am Passahfest sterben, um so unantastbarer wird dann seine Auferstehung sich beglaubigen, um so schneller wird durch den Mund der Festgäste die erschütternde Tat der Kreuzigung, die unwidersprechliche Kunde der Auferstehung über ganz Israel und über die Erde sich verbreiten. Diese Predigt oder keine wird Israel aufwecken! In der Mitte seines Volkes muss der König bleiben, sollte er auch statt des Thrones ein Kreuz finden und sterben. Die Jünger werden durch den Tod ihres Meisters frei und voll heiligen Geistes werden. Aber gerade wenn der Tod Jesu im Ratschluss des Vaters, in der Liebe des Sohnes, in der Bosheit der Menschen beschlossen liegt, wenn Jesus ihn vorausgesehen und gesagt hat, wenn er eben deshalb nach Gethsemane geht, um den nahenden Tod betend zu erwägen, zu erwarten - wie kann dann auch nur einen Augenblick ein Kampf eintreten, als gäbe es der heiligen Notwendigkeit dieses Ausgangs gegenüber noch eine andere Möglichkeit?

Der Schlüssel dieses Rätsels ist die Wahrhaftigkeit der Menschheit Jesu. In der Ähnlichkeit des Fleisches der Sünde sandte Gott seinen Sohn (Röm. 8,3). Das Wort ward Fleisch, wirkliches Fleisch mit Leidensfähigkeit und - Leidensscheu, mit dem an sich berechtigten und erklärlichen Naturtrieb einer menschlichen Seele nach Selbständigkeit, Freiheit, Schmerzlosigkeit, Ehre. „Das Fleisch ist schwach!“ Dies Wort zu Gethsemane geht auf den Herrn nicht weniger als auf die Jünger. „Nicht mein Wille geschehe!“ Diese Verneinung des eigenen Naturwillens ist nur die Fortsetzung eines sittlichen Kampfes, der durch das ganze Leben Jesu sich zieht von jener Versuchung der Lust an, die am Anfang der Laufbahn in der Wüste auf ihn eindringt, bis zu der Versuchung des Grauens, mit der im Garten der Fürst der Finsternis den Gerechten von der Vollendung des Erlösungsganges wegzuschrecken sucht. Der Sündlose soll den Tod, den Sold der Sünde, schmecken, soll ihn aus der Hand der Sünder, ja seines eigenen Volkes empfangen, der Fürst der Ehren soll die Schändung leiden, wie ein gemeiner Verbrecher, schlimmer noch: wie ein falscher Messias hingerichtet zu werden, der Wahrhaftige soll den Schein und die Schmach auf sich laden, von dem Gott, der ihn in die Welt gesandt hat, in der Welt schließlich verlassen zu sein; tiefer als die Verleugnung alles leiblichen Wohlseins tasten solche Anfechtungen die reine Seele an! Die Liebe soll ihr Eingehen auf und in die Menschheit mit dem letzten Schritt, mit unbedingter Sichaufopferung beschließen und besiegeln. „Ich will beten,“ spricht der Herr, aber das unendlich Schwerere, das für Menschenzungen Unaussprechliche, was in jener Stunde zwischen Vater und Sohn verhandelt wird, verschweigt er; wir wissen davon und beten darüber an. Seinen letzten Aufschluss findet der Vorgang in Gethsemane im Gewissen des Sünders durch Jesaias 53: er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen, die Strafe liegt auf ihm -

und herein von allen Pfaden Volk um Volk ohn' Ende flutet, Seiner Schuld sich zu entladen Auf das Lamm, das einsam blutet.

Befremdet uns vor einer solchen Todesaufgabe das Zurückbeben des Fleisches? Müsste es uns nicht vielmehr befremden bis zum Irrewerden an der menschlichen Natur des Herrn, wenn es sich anders verhielte? Der Doketismus (Wahn eines bloßen Scheinleibes des Herrn) entbehrt der Wärme und der Wahrheit eben so sehr als die Resignation des Stoizismus, diese Ruhe des Toten unter der Hand des Totenwäschers. „Die Phantasie eines jugendlichen Christentums, sagt Gess, erdichtet sich einen über den Kampf erhabenen Jesum, die männliche Erfahrung des ernsten eigenen Kämpfens begreift, dass ein Jesus ohne Kampf kein wirklicher Mensch und kein Erlöser war. Je großartiger die menschliche Natur Jesu angelegt war, um so schwerer musste ihm die Verzichtleistung auf den Naturwillen werden: je mächtiger die Natur, um so mächtiger ihr Wille, je mächtiger ihr Wille, um so ernster der Kampf.“ Der heilige Zorn bei der Reinigung des Tempels, das innere Seufzen bei der Härtigkeit der Zeichen fordernden Pharisäer, abermals das Seufzen bei dem Hephatah vor dem Taubstummen, das Weinen um Jerusalem und die Erschütterung an Lazari Grab zeigen bei aller Reinheit die Lebhaftigkeit und Gewalt der Bewegungen im Gemüt des Herrn; der schnelle Wechsel der Stimmungen, erst der erhabenen Ruhe und Seligkeit beim hohepriesterlichen Gebet, unmittelbar darauf des weinenden Zagens in Gethsemane begegnet uns auch sonst, wenn er bei der heilsbegierigen Frage der Griechen seine Verklärung, aber auch das Sterben des Weizenkornes gekommen sieht, wenn er nach einander betet: jetzt ist meine Seele betrübt. Vater, hilf mir aus dieser Stunde! Vater, verkläre Deinen Namen! Fühlt er doch am Grabe seines Freundes fast gleichzeitig die Bitterkeit des Sterbens und Verlierens mit dem Triumph der ihm einwohnenden auferweckenden Lebenskraft! Gehen doch beim heiligen Abendmahl Schmerz über den Verräter und Freude des Heimgangs dicht neben einander durch seine Seele! Psychologisch aber ist es erwiesen, dass bei allen großen Leiden der Augenblick des letzten Erwartens der beängstigendste, der kaum erträgliche ist. Hatte er schon früher vor der Leidenstaufe gebangt, hatte er beim Einzug in Jerusalem, 6 Tage vor seinem Tod mit Betrübnis kämpfen müssen: in Gethsemane überfällt ihn das Grauen in der höchsten Steigerung, denn der bittere Kelch drängt sich dicht und unabweisbar an seine Lippen, den er erst absetzen darf, wenn er das: „es ist vollbracht“ gesprochen hat. „Nicht das Leiden an sich, sondern das innere Sichentschließen zum Leiden ist das Leiden im Leiden und der Nerv im Opfer.“ Aber wie er einst mit der Taufe im Jordan das Untertauchen in des Vaters Willen als seinen Weg und Beruf, wie er das Sterben und sein Leben lassen als seinen Gewinn bezeichnet und es fort und fort versichert hatte: ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen des, der mich gesandt hat, wie er es als eine satanische Versuchung von sich wies, dass ihm seiner Jünger einer den Weg zum Kreuz vertreten wollte: so kniet er nun, da die große Stunde gekommen, in Gethsemane vor den Vater hin, äußerlich und innerlich sich dem Vater unterwerfend, er lässt auch jetzt den Willen des Vaters seine Speise sein, er heiligt, weiht und beugt sich selbst unter den ewigen Erlösungsrat (Joh. 17,19), er wird sittlich als Mittler im Gehorsam vollendet, um am nächsten Tag das vollkommene Opfer darzubringen, das er hier innerlich bereits vollzieht. So sühnt die sittliche Tat des anderen Adam im Garten Gethsemane die Untat des ersten im Garten Eden. Menschlich wahr und menschlich vollendet wird er zum Hohenpriester, der uns vertritt, zugleich zum Vorgänger, welcher der Erstling in der Wolke der Zeugen und der Anfänger und Vollender unseres Glaubens ist, in dessen Fußtapfen wir mit Geduld den uns verordneten Lauf vollenden und mit den Waffen des Gebets bis aufs Blut widerstehen sollen über dem Kämpfen wider die Sünde (Hebr. 12,1-4). Können die Undankbaren nicht Eine Stunde mit ihm wachen, der für sie gewacht und geweint hat? Liebe um Liebe! Das Fleisch ist schwach, das hat der Vorgänger nicht ausgerufen, um unsere Trägheit zu entschuldigen, sondern zur Schärfung unserer Wachsamkeit. Die Verzagten aber tröstet er: in der Welt habt ihr Angst, seid getrost, ich habe die Welt überwunden!

Der Kampf in Gethsemane hat alle Todesangst in Sieg verschlungen! Der Geist des Herrn war und blieb willig, ohne Misstrauen gegen die Liebe des Vaters, ohne Zweifel an einem seligen Ausgang, ohne Nachlassen und Rückhalt im Gehorchen. Es muss also gehen! spricht der als Sieger aufstehende Kämpfer im Blick auf die Schrift, die er gekommen war angesichts des Todes nicht aufzulösen, sondern auch in Gethsemane und Golgatha zu erfüllen. „In den Tagen seines Fleisches hat er Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Tränen zu dem geopfert, der ihm vom Tod aufhelfen konnte und ist aus dem Todesgrauen erhört und befreit, und wiewohl er Sohn Gottes war, hat er unter Leiden Gehorsam gelernt.“ So der Hebräerbrief 5,7-9, der heilige Text zu dem heiligen Bild von Gethsemane. Die Kraft, den Kuss des Verräters zu ertragen und mit Fassung, ja mit Hoheit den Häschern entgegenzugehen, die Majestät, mit der er seine Jünger schützt, die Besonnenheit, mit der er Petri unberufenem Schwert Einhalt gebietet und in all den Verhören Antwort und Rede steht, die Klarheit und Milde, die ihn wie immer, so auch in dieser Nacht des Schreckens und der allgemeinen Verwirrung die Grade der Verschuldung und Empfänglichkeit bei seinen Gegnern unterscheiden und mit Reden und Schweigen beachten lässt, die Liebe, kraft der er fremdes Leid, es sei bei den Töchtern Jerusalems, es sei bei seiner Mutter, es sei bei der Bitte des Schächers zu seinem eigenen macht, die kindliche Ergebenheit bis zu dem letzten: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist! - dies alles ist die Frucht des Wachens und Betens, ist die Beweisung des Geistes und der Kraft für den Sieg, der dem Kampf von Gethsemane gefolgt ist. Doch wo ist ein geretteter Sünder, der nicht eine Beute jenes Kampfes und Sieges genannt werden müsste, so gewiss der Gehorsam zum Kreuz sich in Gethsemane entschied und der unter dem Fluch der Sünde zitternde Dornenacker von Jesu Tränen und blutigem Schweiß entsühnt ward?

Johann Albrecht Bengel sagt in der Übersetzung seines neuen Testamentes zu der von uns betrachteten heiligen Szene: Entsetzlicher Kelch! Billiges Grauen! Unversehrter Gehorsam! Mächtiges Gebet! Schleunige Erhörung! Dies alles lass, Herr Jesu, mir zu statten kommen. Amen.

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autoren/k/koegel/koegel_gethsemane.txt · Zuletzt geändert: von aj
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