Knapp, Albert - Predigt am vierten Advents-Sonntag

Knapp, Albert - Predigt am vierten Advents-Sonntag

Text: Joh. 3, 25-36
25 Da erhob sich eine Frage unter den Jüngern des Johannes mit den Juden über die Reinigung. 26 Und sie kamen zu Johannes und sprachen zu ihm: Meister, der bei dir war jenseit des Jordans, von dem du zeugtest, siehe, der tauft, und jedermann kommt zu ihm. 27 Johannes antwortete und sprach: Ein Mensch kann nichts nehmen, es werde ihm denn gegeben vom Himmel. 28 Ihr selbst seid meine Zeugen, daß ich gesagt habe, ich sei nicht Christus, sondern vor ihm her gesandt. 29 Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam; der Freund aber des Bräutigams steht und hört ihm zu und freut sich hoch über des Bräutigams Stimme. Diese meine Freude ist nun erfüllt. 30 Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen.

31 Der von obenher kommt, ist über alle. Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der Erde. Der vom Himmel kommt, der ist über alle 32 und zeugt, was er gesehen und gehört hat; und sein Zeugnis nimmt niemand an. 33 Wer es aber annimmt, der besiegelt's, daß Gott wahrhaftig sei. 34 Denn welchen Gott gesandt hat, der redet Gottes Worte; denn Gott gibt den Geist nicht nach dem Maß. 35 Der Vater hat den Sohn lieb und hat ihm alles in seine Hand gegeben. 36 Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben. Wer dem Sohn nicht glaubt, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm.

Es war eine Verwunderung unter den Jüngern Johannis des Täufers darüber, daß nach dem Predigen und Taufen ihres Meisters, den sie mit Recht als einen ausgezeichneten Gesandten Gottes achteten, nun Jesus von Nazareth mit noch größerem Anhang als ein Herold des göttlichen Reichs aufgetreten sey. Wahrscheinlich hielten sie die Ehre ihres Lehrers dadurch für beeinträchtigt, und dachten wohl auch, die so segensreich begonnene Arbeit desselben nebst ihrem Erfolg möchte leicht durch das Erscheinen Jesu verkürzt oder zersplittert werden. Daher befragten sie Johannem mit den etwas eifernden Worten: „siehe, der bei dir war jenseits des Jordans, der taufet nun, und jedermann kommt zu Ihm!“ - Der Täufer gab ihnen darauf eine inhaltreiche, herrliche Antwort, worin die höchsten Zeugnisse von der Würde und Majestät des Sohnes Gottes dargelegt, und alle Seelen ohne Unterschied auf Ihn, den einzigen Weltheiland, hingewiesen sind. Seine Worte enthalten aber auch einen Ausspruch, der im schärfsten Gegensatze mit dem Bericht jener Schüler steht; denn während sie meldeten: „jedermann kommt zu Ihm,“ - sprach er: „der vom Himmel kommt, der ist über Alle, und zeuget, was Er gesehen und gehöret hat, und Sein Zeugniß nimmt Niemand an!“ - Um wie viel schärfer und tiefer blickte hier das geübte Ange Johannis, als das seiner Anhänger! Er sprach damit eine erschütternde Wahrheit aus, die noch immer gilt von der Mehrzahl der Christenheit, und wodurch eine sehr scharfe Trennungslinie zwischen der unsichtbaren Gemeinde des Herrn und der äusseren Kirche gezogen wird. Wie sehr sind jene aus der Wahrheit geflossenen Worte zu einer ernstlichen Selbstprüfung für uns Alle geeignet, die wir uns allesammt zum Namen Jesu Christi bekennen, während es doch bei Tausenden mit der ächten, seligmachenden Annahme seines Zeugnisses noch so traurig bestellt ist! - Lasset mich zu Eurer Liebe reden von dem gefährlichen Widerspruche, worin sich der größte Theil der Christenheit noch jetzt in Absicht auf Jesum Christum befindet.

Denn es gilt von demselben noch immer:

  1. Jedermann kommt zu Ihm, - und dennoch:
  2. Sein Zeugniß nimmt Niemand an.

I.

Wie die Jünger Johannis verkündigten, so ists mit Jesu Christo noch heutiges Tags - mit wenigen Ausnahmen: - Jedermann kommt zu Ihm. - Einestheils hat man noch keinen Namen aufzufinden gewußt, der vollbürtig und mit genügender Kraft an der Spitze der Menschheit stehen und ihre mannigfachen, so tief gehenden Bedürfnisse befriedigen könnte. Denn man sehe hin, wohin man will, so begegnen uns eben stets und überall nur unvollkommene, sündige, sterbliche Menschengestalten, die selbst des Heils bedürftig und zu Sünderheilanden durchaus nicht geeignet sind. Anderntheils hat uns die Erfahrung aller ältern und neuern Jahrhunderte das in Christo ruhende Heil in unzähligen Lebensläufen und Sterbefällen so vielfach als ein ganz unvergleichbares und unentbehrliches zum Bewußtseyn gebracht, daß nicht leicht Einer es wagen darf, die welterleuchtende und welterlösende Macht dieses Einzigen hinwegzuläugnen, wofern ihm die Stirne nicht durch kräftige Irrthümer, durch Hochmuth und Geiz völlig eisern geworden ist. Ebenso tragen die Gottesdienste, die Wissenschaften und die mannigfachen Einrichtungen der evangelischen Kirche ein Gepräge des Verstandes und heilsamer Besonnenheit an sich, das auf den Forschungen der edelsten und kräftigsten Geister, auf den Trübsalen und Siegen der demüthigsten Kämpfer Gottes beruht, und unter tausend Anfeindungen sich noch immerfort in seiner himmlischen Klarheit, in seiner gesegneten Einfalt als ein Hort und Rettungsfels aller wahrheitliebenden, kindlichen Seelen bewährt. - Das Evangelium Christi hat einen herrlichen Klang bis auf diesen Tag: es ist noch von keiner weltlichen Weisheit überflogen, von keiner übermüthigen Kunst niedergerannt, von keiner Naturkunde widerlegt, von keinerlei Rechtsgründen mit Fug angefochten worden, so daß es vor der Welt erröthen oder für seinen ferneren Bestand besorgt seyn müßte. O nein, sondern die Sünderwelt muß vor Ihm erröthen und die Augen im Bewußtseyn ihrer Schuld niederschlagen; - das sterbliche Geschlecht, dem der Tod und das Gericht bevorsteht, hat Ursache genug, im Evangelium Barmherzigkeit zu suchen, nicht aber, ihm ein duldsames Mitleid angedeihen zu lassen. Die von Jesu gepredigte Religion ist der geistige Himmel über unsrer verstäubenden Erde; sie steht heilig und hehr vor uns, als das mit der Sonne bekleidete Weib, den wechselnden Mond unter ihren Fußen, und die Flammenpracht der Gestirne um ihr Strahlenhaupt! - Ein irdischer König darf bekennen: „Ich glaube an Jesum, den Sohn Gottes, dem alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist, von dem ich meine Krone zu Lehen trage, in dessen Wort und Geist ich allein sicher, gesegnet und ehrenvoll regieren kann. Ich bin von Natur ein Staub; und wäre ich nicht durch den König aller Könige theuer erkauft und aus Gnaden erwählt, so wäre ich arm und elend wie andre Adamskinder!“ Darum steht auch der große Bund der jetzigen Regenten Europa's auf dem Namen Jesu Christi, und aus ihrem aus furchtbarer Drangsal entsprossenen, dann freiwillig und dankbar veröffentlichten Zeugniß: „Sie halten sich für verpflichtet, ihre Völker mit Ihm, nach Seinem heiligen Willen und unverbrüchlichen Worte zu regieren.“ - Aus dem Sturz und Grabe Napoleons, den sie neuerlich noch einmal zum Heile der Nachwelt beerdigt haben, entsprang das edle Bekenntniß der Kaiser und Könige: „Jesus Christus ist unser Herr! Er allein kann die Sünderwelt von oben bis unten aus erleuchten, segnen und regieren!“ - Darum haben sie ihren Bund einen „heiligen Bund“ genannt, und wenn Jesus bei ihnen und in ihnen ist, wird es auch ein heiliger seyn. Sehet hin! selbst die Gewaltigen dieser Welt kommen zu Ihm, - denn Er hat sie es gelehrt, Seiner zu bedürfen. -

Gleichwie aber die Hochgefürsteten Ihm huldigen müssen, so darf auch der ruhig wandelnde Bürger sagen: „Mein Heiland hat als Zimmermann die Breitaxt in Nazareth für mich geführt, und dadurch alle Arten menschlichen Berufs, so weit sie nur ehrlich sind, gesegnet. Ja, der Aermste im Volk darf an seinem Erlöser, der ihm durch die freiwilligste Selbsterniedrigung ähnlich ward, voll Freude hinaufschauen und rühmen: „Mein Heiland hatte nicht, wo Er Sein Haupt hinlegte, - darum hat Er auch meine Armuth geheiligt und den Glauben zu einer Himmelspforte gemacht. Und wenn ich auch auf ärmlichem Stroh verscheide, so ists doch noch ein milderes Sterbelager, als das blutige Kreuz, an welchem Er, der himmlische König, Sein Leben für mich verathmen wollte!“ -

Gestehen's wir uns, Geliebte! die Liebe Christi hat Seine Weltreligion für uns auf Wurzeln des redlichen Verstandes, der einfältigen Selbsterkenntniß, der tiefsten Sehnsucht, der heiligsten Empfindungen gegründet, daß man dem besseren Theile der Menschheit gleichsam das Herz aus dem Leibe, das Mark aus dem Gebein reißen müßte, wollte man Ihn, den Holdseligen und Ewigunentbehrlichen, uns entreißen. Jesus Christus ist das geistliche Haupt und das wallende lebendige Herz der Menschheit. Sie kann nicht leben noch bestehen ohne Ihn. Darum sagen wir noch heute mit allem Recht: Jedermann kommt zu Ihm. -, Wer unter uns möchte ein Unchrist heißen oder gar als ein solcher sterben? Am Grabe gilt uns der Name Jesu Christi als das Bild des innersten Gewissens, und wenn Jemand auch nicht in Ihm gelebt hat, - er möchte zuletzt doch auf Ihn gestorben seyn, und hinfahren, wo Er ist, der den sterbenden Schächer ins Paradies hinübernahm. - Vor dem gesegneten Namen Jesu entwölkt sich allein der wolkenbelastete Wetterhimmel unsres Gewissens. Am Grabe ziehet man dasjenige, was an einer oft unganzen, vielfach verweltlichten Seele noch etwa christlich war, oder noch im letzten Abschnitt der Gnadenzeit in ihr flüchtig emporstieg, doch am meisten vor, - und man will daher die Todten am liebsten christlich gelobt wissen, so schwer es dabei in mancherlei Fällen auch hergeht. Denn nur das Christenthum erzeugt erquickliche Grabreden und Leichenpredigten. Tritt ans Grab eines stolzen, eigensinnigen Weltbürgers, bei welchem es zuletzt heißt: „Er hat sich in seine eigene Tugend eingehüllt, wenn es stürmte“ - und stehe dann an der Gruft eines gedemüthigten Christen, der als eine in Jesu begnadigte Seele dahinging, und über dem das himmlische Wort feierlich ertönen darf: „selig sind die Todten, die in dem Herrn sterben! Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit, und ihre Werke folgen ihnen nach,“ dann wirst du, wofern noch ein gesundes Lebensgefühl in dir strömt, in deiner Wahl nicht zweifelhaft bleiben, auf welche Seite du treten sollst und wenn die Gemeinde vor ihrem Heilande anstimmt:

Tief präg' es meinem Herzen ein,
Welch Glück es sey, ein Christ zu seyn!

dann wirst du nicht mit finstrem gerunzeltem Antlitz Nein! sagen können, ohne dich selbst vor dem Gott aller Wahrheit und all Seinen Heiligen zu verdammen!

Niemand kann den Heiland rechtmäßig verwerfen; darum bleibt das alte Wort wahr: Jedermann kommt zu Ihm! - Wurmt dirs etwa im Herzen, daß man immer von Ihm spricht? - Wir können nichts dafür! Er ist ja das himmlische Lebensbrod, - und ohne dieß Brod kann man nicht leben. Wir können Ihn nicht entbehren bei der Taufe unserer Kinder, wenn ein wahrer und haltbarer Segen auf ihnen ruhen soll. Oder möchten wir sie lieber ungetauft, als Fleisch vom Fleische geboren, nicht in den Lebenstod des Allerheiligsten zur ewigen Neugeburt versenkt wissen? - Wenn unsre Kinder auf Ihn confirmirt werden, geht eine stille, heilige Bewegung durch die ganze Gemeinde hin. Selbst rohere Eltern fühlen das, wenn ihr lange gepflegtes Kind im Jugendschmuck vor den Altar seines Erlösers tritt, und von dort oft mit milden, unfreiwilligen Thränen zurückkehrt. - Gleichermaßen ergeht es bei den Trauungen, wo ein Bündniß für das gesammte Leben geschlossen wird. Zwischen die Hochzeitfeier hindurch klingt der Name Jesu, der einst in Cana am Brauttisch oben an saß, immerdar am lieblichsten, - und Er, als Mittler solcher Bündnisse, Er, als Hausfreund, Segensquell und Tröster der Familien - durch Wen könnte Er ersetzt werden?

Ist nicht ein unendlicher Unterschied zwischen Gatten, Kindern und Familien, bei welchen Christus mit Seiner Gnade und Wahrheit wohnt, und zwischen denjenigen, die Ihn über der vergänglichen Lust dieser Welt verläugnen? - O sehet, Geliebte! Der Name Jesu ist allein unsre Ehre, unser Licht, unser Trost, unsre Weisheit, unser Freudenlicht! - Darum stehet Er über der Gemeinde, darum ist unsre Kirche auf Ihn gestellt. Unsre Tempel sind Ihm geweiht; unsre Thürme streben mit sonnigen Spitzen empor zu Ihm, gleichsam um Ihn einzuladen in das Thal unsres Elendes, unsrer Gebrechlichkeit. Es ist lieblich, die Thurmspitzen einer Stadt allererst aus der Ferne zu gewahren. Sie winken uns gleichsam zu: komm, o Wanderer, getrost, denn hier ist Jesus und Seine Gemeinde! Und wer da kommt, der gehet, wäre es auch nur etwa die dürftigste Hütte, nicht vergeblich in ein Dorf, worin ein christlicher Thurm ins Himmelblatt friedlich emporsteigt.

Jedermann muß unter uns wenigstens einige Male im Leben zu Jesu kommen, zu einem Zeugniß über sich selbst. Wer seine Kinder taufen, wer sich trauen, wer die Seinigen begraben läßt, kommt zu Ihm, und hört wenigstens einige Worte, die ihm die Bestimmung seiner unsterblichen Seele und den Ernst der Ewigkeit ins Gedächtniß rufen. Die Wenigen, die sich entweder geradehin für seine Widersacher bekannten, wie dieß schon geschehen ist, oder die Seine Lehre zum Gegenstande des Zweifels und Hohns machten, als ob Er seit achtzehn Jahrhunderten für die Menschheit nichts oder nur Unrichtiges gedacht und gethan hätte, haben sich vor allen redlichen Seelen nur selbst gebrandmarkt. Wahrlich, es heißt schon etwas, einen irdischen König ermorden, und dadurch eine Brandfackel in ein ganzes Volk werfen! Noch furchtbarer ist aber der Frevel, ein göttliches Kirchenhaupt, für welches kein besseres lebt, und das seine Majestät in den Geistern so vielfach und unendlich herrlich erzeigt hat, vom Throne des Himmels stoßen, und dem Schriftworte des Vaters widersprechen zu wollen, das Er zu dem durch Leiden des Todes vollendeten und durch die Auferstehung gerechtfertigten Sohne gesagt hat: „Setze dich zu meiner Rechten!“ - Der im Himmel wohnt, lacht solcher Anfälle, und der Herr spottet ihrer. Er hat es bisher in der That gezeigt, daß Er lebet, und darum thut auch die Kirche, als ob Nichts wieder geschehen wäre; jedermann kommt noch heute zu Ihm. Sie weiß es: „Er ist von oben her und über Alle; der Vater hat Ihm einen Namen gegeben, der über Alle geht!“ Darum bleibt Er der unversiegbare Quell des Friedens und der Ursprung aller himmlischen Begeisterung. Wer leben will als Mensch und Himmelsburger, kommt zu Ihm. Denn bei Ihm nur findet er wahre Weisheit, haltbare Gerechtigkeit, quellenhafte Heiligung und vollständige Erlösung. Das weiß der bessere Theil der Menschheit, und läßt sich's in Ewigkeit auch nicht nehmen. Dieses Erfahrungsbekenntniß schlägt gleich einem Sonnenlichte durch alle Nebel des Unglaubens hindurch, und hält die Kirche stets aufrecht. Ja, schon der schwächere Schimmer der Klarheit Christi, der Vielen nur entfernt ins Herz leuchtet, ist schon genug, seinen Namen über alle menschlichen Würden weit zu erheben, und es auch den ferne Stehenden zu ermahnen: „Du thust wohl, wenn Du zu Ihm kommst, - denn Jedermann kommt zu Ihm!“

II.

Warum aber, wenn es sich also verhält, klagt denn der heilige Vorläufer Christi: „Sein Zeugniß nimmt Niemand an?“ - Ist das vielleicht ein aus der Luft gegriffener Vorwurf und eine unbillige Uebertreibung, - oder ist es wahr? Und wenn das Letztere der Fall ist, gilt dann diese Klagstimme blos dem Volk Israel, oder auch uns, den Gliedern der neutestamentlichen Gemeinde?

Ja, zuvörderst gilt sie dem alten Volk Israel, diesem Träger der ersten göttlichen Offenbarung, dem das verdammende Gesetz in seinem Eigensinn viel lieber war, als die dem Glauben dargebotene Gnade des Messias. Johannes der Täufer wiederholt mit den obigen Worten nur die Klage des 900 Jahre zuvor aufgetretenen Propheten Jesaja, der im Blick auf den kommenden Weltheiland rief: „Wer aber glaubt unsrem Predigen, und Wem ist der Arm des Herrn offenbar?“ - Er schießt auf wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich; aber Er hatte keine Gestalt noch Schöne, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwertheste, so verachtet, daß man das Angesicht vor Ihm verbarg; darum haben wir Ihn für nichts geachtet (Jes. 53.)! - Damit stimmt der Weheruf Jesu über Jerusalem überein: „Wie oft habe ich deine Kinder zu mir versammeln gewollt, wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel! Ihr aber habt nicht gewollt!“ - Als die Legionen Roms an der Tempelmauer hinaufstürmten, da rief Niemand in Zion zu dem vergessenen Heiland von Nazareth; als endlich die letzten Besatzungen der Bergvesten Jotapata und Machärus, je 40.000 Männer stark, sich wechselseitig ermordeten, um nicht in römische Sklaverei zu fallen, da dachte Niemand von ihnen an den treuen, aus der Stadt Davids entsprossenen Zeugen; - und als man die Ueberreste des zertrümmerten Volks theils um einen Spottpreis wie Hunde verkaufte, oder sonst in den Ländern umhertrieb, falteten sie doch ihre Hände nicht zu dem Gekreuzigten, und haben auch bis auf den heutigen Tag Sein Zeugniß nicht angenommen, sondern ihre Verleugnung der himmlischen Liebe starrsinnig von Geschlecht zu Geschlecht fortbehauptet. Daher kommt auch, bei vielen irdischen Vorzügen und Anlagen, ihr dauerndes Elend, von welchem sie keine menschliche Macht, keine bürgerliche Freigebung, kein Reichthum, sondern allein die gläubige, bußfertige Annahme jenes Zeugnisses befreien kann, das schon vor 1800 Jahren aus den unschuldigen Lippen des großen Rabbi von Nazareth an sie und uns ergangen ist. Dann werden sie wieder frei und ein geliebtes Volk des Allmächtigen werden; bälder nicht. Denn wer nicht glaubet an den Sohn Gottes, der kann das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm. -

Der obige Vorwurf Johannis haftet aber auch am größeren Theil der Christenheit, - und wenn man die unermeßliche Zahl der unächten Christen mit ihren Gesinnungen und Werken im Gegensatz zu der „kleinen Heerde“, welche Christus die Seinige nennt (Luc. 12,32.), genau vor Augen hätte, wie das göttliche Wort sie schildert, so würden wir noch viel tiefer den gewaltigen Ausspruch als wahr erkennen: „Niemand kommt zu Ihm!“ - Dieser Spruch ist geredet von der großen, auf dem breiten Weg wandelnden Menge, während Christus selbst die zur engen Pforte Eingehenden, und den schmalen Lebenspfad Findenden nur für wenige erklärt. - Vergleichungsweise geredet, ist Jesus, der Heiland den Menschenherzen noch immerfort ein fremder, unangenommener Mann, in sofern er der lebendigmachende Geist genannt wird.

Es bleibt unleugbar, daß in den meisten christlichen Ländern, worin tausende von Kirchen stehen, und worin an einzelnen Festtagen ein unermeßlicher Pomp der Ceremonien herrscht, das Wort Jesu und sein geistlicher Sinn durchaus in Vergessenheit liegen. Dort deckt, trotz aller Häufung der Gottesdienste, die oft vor Sonnenaufgang beginnen, und bei allem Geplärr der Lippen, nur Finsterniß die armen, mit seellosem Formenprunk abgefertigten Völker, - und Manches, was die evangelische Kirche schon vor Jahren nach klarem Schriftwort als einen Greuel verwarf, wird daselbst noch zu den wichtigsten Heiligtümern gerechnet. - Es ist ebenso handgreiflich, daß auch in Ländern, worin der Segen der Reformation für verbrieft und geadelt gilt, die größere Menge doch weit lieber dem flachen, wechselnden Zeitgeiste huldigt, der fort und fort wenigstens die Hauptpunkte des Evangeliums zu verderben sucht, als daß sie vorurtheilslos, treu, kindlich und demüthig das ganze Zeugniß Jesu von Seiner Gnade und Wahrheit aufnehmen, worin doch allein der Friede und die Seligkeit des Sünders steht. - Es liegt ferner am Tage, daß viele tausend Kirchenbesucher und Abendmahlsgäste sich nur mit dem äusseren Gottesdienst, mit einzelnen Andachtsstunden, mit wenigen Sprüchen der Schrift, und daneben mit einem Wust selbsterfundener Ansichten und Irrthümer behelfen, und sich, wofern sie ihrem Gewissen die Ehre geben, elend und jämmerlich dabei fühlen; aber dem vollen, herrlichen Evangelium Christi, das so tief in alle Seelengründe hineinreicht, das nicht allein Versöhnung und Wiedergeburt fordert, sondern auch himmlische Kräfte und Mittel dazu bietet, - ach nein, das wollen sie nicht! - Es ist eine schmerzliche Thatsache, daß der größte Theil der Christenheit, im niedern wie im höheren Volke, sich mit einem steintodten Glauben begnügt, den er wie einen unfruchtbaren Samen in der Scheune seines Gehirns liegen läßt, anstatt ihn ins weiche Gefild eines freiwilligen Herzens zu streuen, - und so gibt es unter zahllosen Formen unzählige Getaufte, welchen das Zeugniß Jesu blos im Gedächtniß steht, - aber ihr Herz hat's nicht aufgenommen, und sie haben daher keine Macht, Kinder Gottes zu seyn.

Ganz in Christo und in Seinem göttlichen Zeugniß leben und wandeln, - fürwahr, das ist unter den Christen eine Seltenheit! Das geht durch eine ernstliche Buße und Reue, durch viel Gebet, durch kräftige Selbstverleugnung und besonders durch kindliche, unbewegliche Treue im Kleinen. Wer sich nicht verleugnen lernt, erfährt die Herrlichkeit Christi nie lebendig in seiner Seele, und wer nicht über die verschiedenen Rücksichten der Menschenfurcht und Weltgefälligkeit hinübertreten lernt, bleibt ein Knecht der Sünderwelt, und wird niemals ein Ueberwinder. Das eigene Ich muß im Anschauen des Kreuzes Christi in den Tod versenkt werden, wenn man sein Zeugniß recht annehmen und dadurch in Gott lebendig werden will. Dann hält man sich nicht weiter an Andere, sondern an den Herrn selbst. Dann überläßt man die Werke des Glaubens nicht Andern, um unter ihrem Vorgang als ein halbgelähmtes Glied mit einherzugehen, sondern man thut sie selbst. Dann verhehlt man die herrschende Gewalt des allmächtigen Zeugnisses Jesu nicht mehr vor sterblichen Sündern und ihren Grobheiten oder Feinheiten, - sondern man stellt Sein Wort hinauf, das da bleibt, wenn Himmel und Erde vergehen. Man wird in demüthiger Kraft unüberwindlich, weil man auf Christo stehet und auf Seinem Wort. Sein Wort ist mit Ihm auferstanden in der Kraft eines unauflöslichen Lebens.

Geliebte! die alten Bekenner der Christenheit hielt man hoch in den ersten Jahrhunderten, wenn sie den Satan in seinem Weltgrimm durch ihr Zeugniß von Jesu und durch das Blut des Lammes besiegt hatten. Man ehrte ihre verwesten oder verbrannten Gebeine, - weil es ein Großes bleibt, alles Sichtbare für die unsichtbare Welt geopfert zu haben. Ueber den Gräbern solcher Märtyrer taufte man Kinder und Erwachsene (1. Cor. 15, 29). und die Verehrung des standhaften Glaubens und Bekenntnisses war der anfangs unschuldige Grund zu dem nachfolgenden Götzendienst, den man mit Reliquien trieb, aber auch die Ursache, warum der Geist der Reformation einfach auf Anerkennung einer freimüthigen Annahme des Evangeliums Christi zurückgegangen ist. Es bleibt jedoch tief zu beklagen, daß man uns die sogenannte Tradition, dieses im Kerne goldne Metall, mit so vielen Schlacken bald mit fromm seyn sollender, bald gottloser Lüge vermischt hat, und daß wir daher so manche Geschichte der Heiligen nicht mehr getrost gebrauchen dürfen, obwohl sie für das Zeugniß Jesu Blut und Leben geopfert haben.

Aber lasset uns nur Jesum und Sein heiliges Zeugniß treu bekennen! Sein Leben und Seine Wahrheit sind ein völliger Ersatz dafür. - Ein nicht kindlich und muthig bekannter Glaube an Ihn und Sein Wort gleicht einem Schwerte, das in der Scheide verrostet. Damit wird nirgends ein Feind geschlagen noch besiegt und doch ist dieses Schwert in der Hand aller Heiligen so scharf und zweischneidig gewesen! - Christus aber hat das Schwort Seines Mundes frei ausgezogen in dieser Feindeswelt, und es ihr bezeugt, daß ihre Werke böse sind; er hat sich nicht gefürchtet zu sagen, daß sie nicht mit Ihm, und Er nimmermehr mit ihr sey, sondern daß Er blos Einzelne von ihr erwähle.

Ihm nach lasset uns auch Sein gottentsprungenes Zeugniß frei bekennen vor aller Welt. Niemand kann es rechtmäßig verdächtigen. Je tiefer wir uns durch den Glauben in Ihn selbst hineinleben, desto freudiger und sieghafter werden wir Ihn auch bekennen. Denn aus der Fülle des Herzens redet der Mund. Dann wird sich an uns erfüllen die apostolische Verheißung: So du mit deinem Munde bekennest Jesum, daß Er der Herr sey, und glaubest in deinem Herzen, daß Ihn Gott von den Todten auferweckt hat, so bist du selig; denn so man von Herzen glaubet, so wird man gerecht, und so man mit dem Munde bekennet, wird man selig (Röm. 10.).

Jedermann unter uns soll das Zeugniß von Jesu dem Gekreuzigten aufnehmen, denn er kann es, wofern er aus der Wahrheit ist, und hat nicht den mindesten Grund, es zu verwerfen oder zu fliehen. Vom Himmel kommen, als ein unbefleckter Menschensohn mit den Waffen unbesiegbarer Liebe wandeln, in himmlischer Geduld, Sein Leben für Sünder hinopfern, dann von Gott selbst verklärt aus dem Grabe gen Himmel fahren, um alle Läufte der Zeit mit Gnade und Wahrheit zu segnen, - nein, etwas Besseres, Edleres kann nicht gedacht, nicht erfunden werden! Wenn dieses Heilige, das alle wahrheitsuchenden Herzen schon so millionenfach erquickt, erheitert und über den Tod hinüber gestärkt und getröstet hat, nicht wahr ist: was in weiter Welt soll dann Wahrheit seyn? - Wenn wir dieses thatsächliche Zeugniß der himmlischen Liebe nicht annehmen, in der die Fülle der Gottheit wohnt: welches Zeugniß wollen wir dann annehmen? - Seinen Feinden und Verächtern ruft der Herr dießfalls zu: „Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmet mich nicht an. So ein Anderer wird in Seinem Namen kommen, den werdet ihr annehmen“ (Joh. 5, 43.). Und Paulus fügt hinzu: „dafür, daß sie die Liebe zur Wahrheit nicht haben angenommen, daß sie selig würden, wird ihnen Gott kräftige Irrthümer senden, daß sie glauben der Lüge, auf daß gerichtet werden Alle, die der Wahrheit nicht glauben, sondern Lust haben an der Ungerechtigkeit“ (2 Thess. 2, 10 ff.).

Das sey ferne von uns! Denn wie wollen wir entfliehen, wenn wir eine solche Seligkeit nicht achten? Das Zeugniß Jesu, das Zeugniß, das Gott von Seinem Sohne gezeuget hat, werde und bleibe allein unser Lebensgrund; und wenn wir Ihn, den Wahrhaftigen, der mit den Müden zu rechter Zeit redet, mit Seinen holdseligen Lippen erscheinen sehen, dann setze sich unsre Seele mit Maria zu Seinen Füßen, um das Eine zu empfangen, das Noth ist; und wenn Er uns mit Seinen versöhnenden Wunden oder mit Seinen aus dem Himmel her segnenden Händen entgegentritt, dann sinke unser Herz mit Thomas vor Ihm nieder, und rufe: „Mein Herr und mein Gott!“ dann sey es unsre gemeinsame Losung und Bitte: „Rede, Herr, dein Volk höret!“ Amen.

Quelle: Dr. Christian Friedrich Schmid/ Wilhelm Hofacker - Zeugnisse evangelischer Wahrheit, Bd. 3

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