Kähler, Carl Nikolaus - Auslegung der Epistel Pauli an die Kolosser in 36 Betrachtungen - 2. Betrachtung
Wie der Herr, da er unter seine Jünger trat, Luk. 24, sie zunächst grüßte und sprach: Friede sei mit euch! so grüßten nachmals auch die Jünger des Herrn die Gemeinden, zu denen sie kamen, oder an die sie schrieben. Und wie ganz anders lautete ihr Gruß, als sonst gemeiniglich der Gruß lautet, womit ein Mensch zu dem andern tritt! Schrieb ein Heide an die Seinigen, so hieß es etwa zu Anfang seines Briefes: „Wenn du gesund bist, so freut es mich, ich bin gesund.“ Hören wir, mit welchem Gruß der Brief an die Kolosser beginnt.
Der apostolische Gruß.
Kap. 1,1 und 2: Paulus, ein Apostel Jesu Christi, durch den Willen Gottes, und Bruder Timotheus, den Heiligen zu Kolossä, und den gläubigen Brüdern in Christo: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesu Christo!
Der Grüßende ist Paulus, wie der Apostel sich in allen seinen Briefen nennt. Früher, da er noch ein Jude war und die Gemeinden Gottes verwüstete, hieß er Saulus, wie denn auch der Herr ihn so anredet vor Damaskus (Apg. 9,4.): „Saul, Saul, was verfolgst du mich!“ Aber nicht nur der Name des Mannes war verändert, sondern auch der Mann selbst. Früher ein Verderber, jetzt ein Vater der Gemeinden; früher ein Feind, jetzt ein Apostel Jesu Christi. Apostel heißen die, welche unmittelbar von Christo berufen, und von seinem Geiste erleuchtet, nach seinem Gebot ausgingen in die Welt, das Evangelium zu verkündigen. Paulus stand nicht hinter den übrigen Aposteln zurück. Ich achte, ich sei nicht weniger, denn die hohen Apostel sind, spricht er 2 Kor. 11. Sein Apostelamt war nicht aus eigener Wahl hervorgegangen. Er hatte, da er noch ein Eiferer nach dem Gesetze war, und dem Tode des Stephanus mit Wohlgefallen zusah, und mit Briefen nach Damaskus eilte, wohl nichts weniger gedacht, als dass er noch einmal ein Diener Christi werden würde. Und doch wurde er's! Gott, der ihn von Mutterleibe ausgesondert hatte, bekehrte ihn, der sich selbst den vornehmsten unter den Sündern nennt, durch das Wunder vor Damaskus, rüstete ihn aus mit dem heiligen Geist, und gab ihm das Zeugnis (Apg. 9.): „Dieser ist mir ein auserwähltes Rüstzeug, dass er meinen Namen trage vor die Heiden.“ Darum konnte er sich einen Apostel des Herrn nennen, und um sich von denen zu unterscheiden, von welchen Gott sagt: „Ich sandte sie nicht, doch laufen sie,“ setzt er hinzu: „Durch den Willen Gottes.“ Denn wer das evangelische Lehramt verwalten will, muss vor allen Dingen versichert sein, dass Gott ihn dazu verordnet habe, und er durch die rechte Tür eingegangen sei, damit er auf sein Amt trogen, und sich des göttlichen Segens und Schutzes getrösten könne. Paulus aber grüßt nicht bloß in seinem eigenen Namen, sondern er grüßt zugleich von dem Bruder Timotheus, der bei ihm war in Rom, und der auch im Eingang der zweiten Epistel an die Korinther, des Briefes an die Philipper und der beiden Sendschreiben an die Thessalonicher an seiner Seite steht. Er nennt ihn seinen Brüder, gemäß dem Worte des Herrn (Matth. 13.): „Einer ist euer Meister, ihr aber seid Brüder,“ und nach der Gleichheit ihres Amtes, da sie beide den gekreuzigten Christum predigten.
Gehen wir nun von den Grüßenden zu den Gegrüßten über. Paulus bezeichnet sie als heilige und gläubige Brüder in Christo. Warum Brüder? Weil sie, wiedergeboren aus dem lebendigen Samen des Evangeliums, alle Vorrechte der Kinder Gottes und einerlei Erbe mit einander gemein hatten, auch durch das Band der Liebe und des Friedens verknüpft, in Einem Hause, nämlich der Gemeinde des lebendigen Gottes, mit einander lebten. Gläubige können unter sich keinen schönern Namen führen, als den Namen „Brüder.“ „Ihr seid alle Brüder,“ spricht der Herr, und David preist ihre Gemeinschaft (Ps. 133.): „Siehe, wie fein und lieblich ist's, dass Brüder einträchtig bei einander wohnen!“ Traurig, dass der herrliche Brüdername in der Welt so missbraucht wird! Doch nicht bloß Brüder heißen die Kolosser, sondern heilige und gläubige Brüder. Die Heiligung ist Gottes Werk, der durch sie den Menschen zu sich ruft und ihm seine Gnadenhand bietet, die der Glaubende ergreift und festhält bis ans Ende. Die Christen werden oft Heilige genannt, und sie sind es auch. Man muss den Irrtum fahren lassen, als ob die Heiligen bloß im Himmel zu suchen wären; wer nicht auf Erden heilig ist, der wird's im Himmel nimmer werden. Warum heißen denn die Christen Heilige? Darum, weil sie, durch den kräftigen Ruf Gottes von der befleckten Welt abgesondert, und als lebendige Opfer mit Leib und Seele dem Herrn geweiht sind, dessen heiliger Geist sie von den toten Werken reinigt und zu allem guten Werke mehr und mehr tüchtig macht. Wähnt also nicht, dass der Name „heilige und gläubige Brüder“ bei Paulus ein leerer Titel sei, den er ohne Unterschied allen Christen und allen Gemeinden beilege. An die Galater schreibt er bloß: „Paulus, ein Apostel der Gemeinden in Galatia.“ Wie würde es lauten, wenn er an uns schriebe? Die Zeiten, wo man ganze Gemeinden als heilige und gläubige Brüder anreden konnte, haben sich vielfach so geändert, dass man heut zu Tage klagen muss: „Hilf, Herr, die Heiligen haben abgenommen und der Gläubigen sind wenig unter den Menschenkindern“ (Ps. 12.)! Prüfen wir uns denn und fragen, ob wir die Kennzeichen einer Gemeinde Christi an uns tragen. Ihre `beste Beschreibung ist die, welche der Apostel in unserm Text gibt, dass sie nämlich eine Sammlung heiliger und gläubiger Brüder in Christo sei in Christo, das heißt, in der Gemeinschaft mit Ihm. Denn durch die Gemeinschaft, worin sie mit Ihm getreten, sind sie geworden, was sie sind, Kinder Gottes, also Brüder, und ist nichts Verdammliches an ihnen, nun sie in Christo Jesu sind (Röm. 8,1.) und in Ihm gewurzelt und fest gegründet, wie Bäume gepflanzt an den Wasserbächen, die ihre Frucht bringen und deren Blätter nicht verwelken.
Doch hören wir jetzt den Gruß selbst, womit der Apostel die lieben Brüder grüßt: „Gnade sei mit euch, und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesu Christo!“ Das ist immer des Apostels Gruß in seinen Briefen, zu Anfang und am Schluss. Auch Petrus grüßt so: „Gott gebe euch viel Gnade und Frieden!“ Gnade - ein kleines Wort, aber der ganze Himmel liegt darin eingeschlossen. Es bedeutet die unverdiente Liebe Gottes in Christo, woraus, als aus einer unerschöpflichen Quelle, aller Segen an himmlischen Gütern über den Sünder sich ergießt. „Aus Gnaden seid ihr selig geworden, durch den Glauben, und dasselbige nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus den Werken, auf dass sich nicht jemand rühme“ (Ephes. 2,8.9.). Es kann daher dem Menschen nichts Seligeres widerfahren, als wenn man zu ihm sagen kann, wie zur Maria gesagt wurde in dem Engelgruß: „Du hast Gnade bei Gott gefunden.“ Welchen Wert die Gnade Gottes für den Sünder hat, davon mögen die zeugen, die sie gehabt, aber verloren haben, und nun klagen wie die Kinder Korah: „Herr, der Du bist vormals gnädig gewesen Deinem Lande, und hast die Gefangenen Jakobs erlöset, der Du die Missetat vormals vergeben hast Deinem Volk und alle ihre Sünde bedeckt; der Du vormals hast allen Deinen Zorn aufgehoben, tröste uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von Deiner Ungnade über uns. Willst Du denn ewiglich über uns zürnen und Deinen Zorn gehen lassen immer für und für? Herr, erzeige uns Deine Gnade und hilf uns.“ Wo aber Gnade ist, da ist auch Friede, da hört die Anklage im Gewissen auf, und das Herz wird ruhig, und von den Banden der knechtischen Furcht befreit. „Nun ist groß Fried' ohn' Unterlass, all Fehd' hat nun ein Ende.“ Gottes Gnade ist die Wurzel des Lebensbaumes, worauf die goldenen Früchte der Gerechtigkeit, des Friedens und der Freude im heiligen Geiste wachsen. Diese zwei, Gnade und Friede, sind gleichsam die beiden Türangeln, worin sich das ganze Christentum bewegt. Friede kann nicht sein ohne Gnade, und Gnade nicht ohne Frieden, wenn der Begnadigte ihn auch nicht immer fühlt, sondern ihm mitunter ist, als hätte Gott ihn verlassen, wie David klagt (Ps. 38.): „Es ist nichts Gesundes an meinem Leib vor Deinem Drohen und ist kein Friede in meinen Gebeinen vor meiner Sünde.“ -Beides nun wünscht Paulus seinen Kolossern. Denn obgleich sie bereits unter der Gnade standen, und die Erstlinge des Friedens gekostet hatten, so bedurften sie doch des Wachstums und der Befestigung darin, zumal da von Irrlehrern ihnen Gefahr drohte. Aber woher kommen Gnade und Friede? Der Mensch kann sie nicht aus seinen eigenen Vorratskammern nehmen, sie kommen von Gott, dem Vater, und Jesu Christo. Von Gott kommt alle gute Gabe, er ist ein Gott aller Gnade und Barmherzigkeit (1 Petri 5.), der am Tode der Sünder keinen Gefallen hat, sondern sie zu Kindern annimmt und sie die Früchte der Versöhnung genießen lässt. Darum heißt er ein Gott des Friedens (Hebr. 13,20.). Weil aber Christus der Mittler ist zwischen Gott und den Menschen, der uns durch sein Blut den Zugang zur Gnade eröffnet hat, ja selbst unser Friede geworden ist (Eph. 2.); so setzt der Apostel ihn dem Vater an die Seite, welches zugleich ein Zeugnis ist von der göttlichen Herrlichkeit unsers Erlösers. Wir haben Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christum (Röm, 5.).
Möchten denn zu dieser Quelle des Friedens sich wenden, die noch unter dem Zorn und der Ungnade Gottes sind. Einen unversöhnten Gott im Himmel haben, und die Hölle im Gewissen tragen, ist das größte Elend auf Erden. Darum muss man zuvörderst die Gnade suchen. Spricht dann der Richter: „Sei getrost, dir sind deine Sünden vergeben,“ so vertreibt die Sonne des Friedens allen Nebel der Angst und Traurigkeit. Hast du aber die Gnade Gottes, so halte sie fest bis ans Ende, und hast du den Frieden, so brich ihn nicht durch ein sündliches Leben, denn unsere Sünden scheiden uns und unsern Gott. Sorge, dass du einst in Frieden mögest hinfahren wie Simeon, und in die Wohnungen des Friedens kommen.