Jacoby, Carl Johann Hermann - Der erste Brief des Apostels Johannes in Predigten ausgelegt - VIII. Der Weltgang des Reiches Gottes.
1. Joh. 2,18-23.
Kinder, es ist die letzte Stunde; und, wie ihr gehört habt, dass der Widerchrist kommt, und nun sind viele Widerchristen geworden; daher erkennen wir, dass die letzte Stunde ist. Sie sind von uns ausgegangen, aber sie waren nicht von uns; denn, wo sie von uns gewesen wären, so wären sie ja bei uns geblieben; aber, auf dass sie offenbar würden, dass sie nicht alle von uns sind. Und ihr habt die Salbung von dem, der heilig ist, und wisst alles. Ich habe euch nicht geschrieben, als wüsstet ihr die Wahrheit nicht; sondern ihr wisst sie und wisst, dass keine Lüge aus der Wahrheit kommt. Wer ist ein Lügner, ohne der da leugnet, dass Jesus der Christ sei? Das ist der Widerchrist, der den Vater und den Sohn leugnet. Wer den Sohn leugnet, der hat auch den Vater nicht.
Es ist eine freudige, festliche Stimmung, welche die christliche Gemeinde in diesen Tagen erfüllt. Die frohe Botschaft, Christ ist erstanden und hat die Macht des Todes besiegt, klingt in unseren Herzen fort als Friedensgruß aus der himmlischen Welt, und wir blicken zu ihr empor und zu dem Heiland, der in königlicher Herrlichkeit zur Rechten des Vaters sitzt, als ewiger Hohepriester uns vor ihm vertritt und aus dem himmlischen Heiligtum uns den heiligen Geist sendet, dass er Licht und Kraft uns werde auf unserer Pilgerschaft durch diese Welt. In diese freudige Stimmung klingt unser Textwort wie ein fremder Ton hinein, ruft eine schmerzliche Bewegung in unserm Gemüt hervor. Denn es zeigt uns den großen Zwiespalt, den tiefen Riss, der durch die christliche Welt hindurchgeht, hier die Gläubigen, welche die Salbung des heiligen Geistes empfangen haben, dort den Widerspruch, der sich gegen das Evangelium erhebt, der von Männern ausgeht, welche der christlichen Gemeinde angehörten, es lässt uns in den Entwicklungsgang der Welt hineinschauen, wie er hier das Wachstum des Reiches Gottes zum ewigen Heil der Menschheit, wie er dort das Werden des Reiches der Sünde zum Verderben aller, die sich von ihm fesseln lassen, in sich schließt. Wir sehen, wie die Weltgeschichte das Weltgericht ist und einer letzten Entscheidung entgegengeht. So werden ernste Gedanken in unserer Seele geweckt, die den Geist der Freude zu verscheuchen drohen. Die festliche Stimmung, in welche uns diese Tage versetzen wollen, scheint gefährdet. Aber, wir wollen sie nicht weichen lassen, wir wollen sie festhalten. Die Betrachtung der Worte des Apostels Johannes, die heute zu uns reden, steht im Einklang mit der Festfreude, die das Osterfest in uns hervorgerufen hat. Ist dieselbe doch nicht die Freude an einem Erbe, das zu stillem, seligen Genießen einladet, sondern die Freude an einem Gut, das nur im Kampf erworben, im Kampf bewahrt werden kann. Osterfeier ist Siegesfeier, Feier des größten Sieges, der je errungen wurde, des Sieges über Sünde, Schuld, Tod. Und dieser Sieg verpflichtet zum Kampf, kräftigt zum Kampf, ermutigt zum Kampf. Wer diesen Sieg im Glauben sich aneignet, erfährt es, dass das christliche Leben die unauflösliche Vereinigung von Siegesfreude und Entschlossenheit zum Streite ist, zwischen Frieden in Gott und Abwehr der Versuchungen der Welt, zwischen Bauen am Reiche Gottes und Fernhalten der Feinde, die seine Mauern zerstören wollen, zwischen Sammeln und Sichten. So bleibe unerschüttert die Stimmung der Freude und des Friedens, ungestört das festliche Gefühl, das unsere Seele bewegt, wenn wir jetzt in die Kämpfe hineinschauen, die dem
Weltgange des Reiches Gottes
beschieden sind. Unser Blick richtet sich auf die Feinde, denen der Kampf gilt, und auf die Siege, die in ihm errungen werden.
1.
Die schmerzliche Erfahrung, welche der Apostel Johannes in unseren Textesworten bezeugt, war eine Erfüllung der Weissagung des Herrn, die er im Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen ausgesprochen hat. Es war Wirklichkeit geworden, was hier im Zukunftsbilde der Heiland geschaut hatte, aus den Reihen der Christen selbst waren Widerchristen hervorgegangen. „Sie sind von uns ausgegangen, sagt der Apostel, aber sie waren nicht von uns.“ Und diese Erfahrung, welche der apostolischen Kirche beschieden war, ist in keiner Zeit der Gemeinde des Herrn erspart geblieben. Widerchristentum hat sich immer, bald diese, bald jene Gestalt annehmend, in der Christenheit gebildet und ist zur versuchenden und verführenden Macht geworden. In die entstellten und missbrauchten Wahrheiten des Christentums gekleidet, Finsternis im Gewande des Lichts, hat es das Evangelium bestritten. Hier fesselte die trügerische Verheißung einer höheren, himmlischen Weisheit, hier verbarg sich die Willkür fleischlicher Begierde in der Losung der Freiheit und übte verderblichen Reiz, dort mischte sich der Eifer, das Reich Gottes zu bauen, mit Grausamkeit und liebloser Härte und verwandelte den Gottesstaat der Wahrheit und des Geistes, der Freiheit und der Liebe, in ein Reich, das Zwang und Gewalt, Furcht und Schrecken zusammenhielt. Die Geschichte der Gemeinde des Herrn zeigt uns das Walten widerchristlicher Mächte, die mit dem Namen heiliger, ehrwürdiger Tugenden geschmückt, den Bau des Reiches Gottes gehindert haben.
Aber, meine Teuren, wenn wir die schwere Beschuldigung des Widerchristentums erheben, hüten wir uns, dass wir nicht einen ungerechten Richterspruch fällen. Der Apostel Johannes gibt uns eine Wegweisung für unser Urteil. Nicht die ungläubigen Juden und Heiden sind ihm Widerchristen, obwohl sie leugnen, dass Jesus der Christ ist. Sie haben die Wahrheit des Evangeliums noch nicht erkannt und erfahren; wenn sie gegen den Heiland kämpfen, so gilt ihnen doch die Fürbitte des Gekreuzigten: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Ev. Luk. 23,34). Auch der Zweifelnde, der angefochtene Christ mit seiner bangen Klage: „Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben“ (Ev. Mark. 9,24), mit seiner dringenden Bitte: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“ (1. Mos. 32,26), ist kein Feind Christi, kein Widerchrist, sondern auf dem Wege zu ihm. Aber auch da, wo wir deutlichen Spuren des Widerchristentums begegnen, müssen wir unterscheiden, ob dasselbe mit vollem Bewusstsein gepflegt und vertreten wird, oder bald mehr, bald weniger unbewusst sich der Seele bemächtigt; ob es Raum gewinnt in einzelnen Persönlichkeiten, die sich dadurch von der Gemeinde des Herrn trennen, oder, ob diese selbst in größerem oder geringerem Maße seinen Versuchungen erliegt. Der Apostel Johannes richtet den Blick nur auf bestimmte Gestalten des Widerchristentums, wie sie in seiner Zeit sich gebildet hatten, und umfasst nicht das ganze Gebiet seiner Herrschaft. Er weist darauf hin, dass da, wo der Glaube an Jesus als den Christ verlassen und bekämpft wird, antichristliche Mächte walten.
Nur da, wo einst der Boden des Evangeliums betreten war, wo die Seele hier geweilt hatte, nur aus der christlichen Gemeinde selbst kann das Antichristentum hervorgehen. Nur ein getaufter Christ, der die Wahrheit des Evangeliums kennt, der seine Wirkungen in der Gemeinde Jesu erfahren hat, kann ein Widerchrist werden. Ein Widerchrist verlässt die Gemeinde des Herrn, sagt sich von ihr los, wie sie sich von ihm lossagt, sei es, dass diese Scheidung durch eine äußere, wahrnehmbare Handlung besiegelt, sei es, dass ohne eine solche die Trennung eingetreten ist. Aber ein Widerchrist verlässt nicht nur die Gemeinde des Herrn, er bekämpft auch die Wahrheit des Evangeliums, er verkündet eine andre, neue Botschaft und sucht für sie die Geister zu gewinnen. Jesus ist nicht der Christ, so lautet die Losung, welche im widerchristlichen Lager ausgegeben wird. So stehen sich zwei Heerscharen gegenüber; Jesus ist der Christ, so erschallt hier der Ruf, Jesus ist nicht der Christ, so hören wir dort das Feldgeschrei erklingen.
An der Frage, ob Jesus der Christ sei oder nicht, scheiden sich die Geister. Von ihrer Beantwortung hängt das Heil der Seele ab, der Friede des Herzens, die Hoffnung des Gemütes. Ist Jesus der Christ, oder sollen wir eines andern warten? Ist Jesus der Weg, die Wahrheit und das Leben, ist er die Erfüllung aller Weissagung und Sehnsucht, das ewige und deshalb das letzte Wort Gottes an die Menschheit, seine vollkommene Offenbarung, deren Herrlichkeit und Kraft nie erschöpft wird; ist er es, zu dem wir sprechen dürfen: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. Und wir haben geglaubt und erkannt, dass du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Ev. Joh. 6,68.69)? Ist er es, bei dem wir volle Genüge finden? Oder sollen wir die Kraft und Freudigkeit unsers Lebens aus andern Quellen schöpfen? Aus einer Weltweisheit, die immer unvollendet bleibt, die, wie weit sie auch fortschreitet, doch das Gebiet des Geschaffenen nicht zu überschreiten vermag, deren Erkennen nur ahnungsvoll, mit unsicherem Tasten, nach dem ewigen Licht sich ausstreckt, die so erfolgreich ist, wenn sie das Gebiet des Sichtbaren erforscht, und die bei allem Suchen so wenig findet, wenn sie das Reich des Unsichtbaren zu beschreiten unternimmt? Oder sollen wir die Kraft und Freudigkeit unsers Lebens von der Hand der Dichter und Künstler erwarten, welche durch die Täuschung des schönen Scheins uns auf flüchtige Stunden über den Druck des Erdenlebens erheben, damit wir ihn hernach desto schmerzlicher empfinden? Oder sollen wir die Kraft und Freudigkeit unsers Lebens im Genuss der vergänglichen Erdengüter suchen, die uns, kaum ergriffen, fliehen, welche die unersättliche Begierde reizen, aber nicht befriedigen, die ein Glück verheißen, das sie nie gewähren, die, als höchste Ziele verfolgt, nur Leere und Öde im Gemüt und die Anklage und Verurteilung des Gewissens zurücklassen? Oder dürfen wir hoffen, die Kraft und Freudigkeit des Lebens in einer rastlosen Arbeit zu gewinnen, die uns keine Stunde der Erhebung und Erholung gestattet, die, ohne Freiheit und ohne fröhlichen Sinn vollbracht, den Stempel der Knechtschaft an ihrer Stirn trägt? Oder endlich, sollte eine klug berechnete Mischung, der Wechsel von Arbeit und Genuss, die Ablösung der einen Tätigkeit durch die andere die Befriedigung zu gewähren vermögen, nach der die Seele hungert und durstet? Als wenn das Ungenüge ausbleiben könnte, wenn wir in einem doch sich immer wiederholenden Kreislauf aus verschiedenen Quellen schöpfen, von denen keine das Wasser des Lebens bietet! Früher dem einen, später dem andern, jedem nach nicht zu langer Zeit würde die Erkenntnis aufgehen: Es ist alles ganz eitel.
Meine Teuren! Weltweisheit, Dichtung und Kunst, Arbeit und Genuss sind Gaben Gottes, Güter, die wir pflegen sollen und dürfen, die, im Lichte der Ewigkeit angeschaut, von ihrer Sonne bestrahlt, uns erquicken, die, vom heiligen Geiste geweiht, in den Dienst des Reiches Gottes gestellt, unserm Erdenleben Reichtum und Fülle geben. Aber sollen sie einen Ersatz für die Gemeinschaft mit Gott bilden, einen Ersatz für die Gemeinschaft des Reiches Gottes, das in Jesu Christo gegründet ist, erkennen wir in ihnen höchste Güter, dann verwandeln sie sich in widerchristliche Mächte, die uns um unser ewiges Heil betrügen. Nein, meine Lieben, Jesus ist der Christ, dies Bekenntnis allein gibt uns Kraft, Freudigkeit, Frieden. Denn allein in Jesu Christo erkennen wir die Vaterliebe Gottes, in ihm die Vaterhand Gottes, die sich nach uns ausstreckt. Wer den Sohn leugnet, leugnet auch den Vater, nur wer den Sohn gefunden, hat auch im Sohn den Vater gefunden. Den Gott der Macht erkannten auch wohl ahnungsvoll Edle und Weise unter den Heiden; vor dem Gott der Heiligkeit, Erhabenheit und Weisheit beugte sich anbetend das Volk Israel; aber das Innerste, das Herz Gottes, seine unendliche Liebe hat uns allein Jesus Christus erschlossen. In ihm spüren wir den Herzschlag Gottes, eine Liebe ohne Maß, eine Barmherzigkeit ohne Grenzen, eine heilige Gnade ohne Schranken, die uns das Höchste gibt, den heiligen Geist, und uns zum Höchsten führt, zur vollkommenen Gemeinschaft mit sich.
Wer in Christus seinen Gott und Vater gefunden hat, ist gegen das Blendwerk antichristlicher Scheinherrlichkeit geschützt, ihre versuchende Stimme verführt ihn nicht, ihre verlockende Losung besitzt für ihn keinen Reiz. Mag das Antichristentum vor ihm seine Erdenschätze ausbreiten und ihm einen Himmel auf Erden verheißen, er spricht mit dem Psalmisten: „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde“, und allem Hohn und Spott tritt er mit dem Bekenntnis und Gelübde entgegen: „Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil“ (Ps. 73,25.26).
Die Gemeinde Jesu Christi, welche in ihm ihren Frieden und ihre Kraft gefunden hat, triumphiert über das Antichristentum, und ihr Kampf gegen dasselbe wird zum Sieg.
2.
Zum Siege ist die Gemeinde Jesu Christi berufen, Siegeskraft wohnt ihr ein, denn ihre Glieder haben die Salbung und wissen alles. Wie Priester und Könige Israels, auch auserwählte Orte im Lande der Verheißung, mit Salböl geweiht, so in den Dienst Gottes gestellt und dem Gebrauch zu irdischen Zwecken entnommen wurden, so sind auch alle, welche auf den Namen des dreieinigen Gottes getauft sind, durch die Taufe zu Kindern und Dienern Gottes berufen, aus dem vergänglichen Wesen dieser Welt herausgehoben und in die Gemeinschaft des heiligen Geistes versetzt, der sie umwandelt und erleuchtet. Und nach dem Maße des bußfertigen Glaubens, der sich von der Sünde ab und Gott in Christo zuwendet, nach dem Maße der treuen Nachfolge des Heilandes, des Eifers in der Heiligung, die den guten Kampf kämpft, der Bruderliebe, die sich selbst verleugnet, der hingebenden Arbeit am Bau des Reiches Gottes, breitet sich die erleuchtende Kraft des heiligen Geistes in unserm Geiste aus, empfangen wir die Salbung und werden zum Tempel Gottes umgeschaffen, in dem er wohnt und wirkt. Wer diese Salbung besitzt, weiß alles, was sich auf sein Heil in Zeit und Ewigkeit bezieht. Es mag ihm vieles unbekannt bleiben, was den Blick in diese sichtbare Welt erhellt, er mag im Wissen irdischer Dinge, in dem Verständnis ihres Zusammenhangs von vielen übertroffen werden, und dennoch hat er gewonnen, was keine Forschung der Wissenschaft, wie umfassend ihr Gebiet sei und wie sorgfältig ihre Arbeit, ihm zu geben vermag. Denn, wer die Salbung hat, kennt den heiligen Gott der Liebe, den himmlischen Vater, er kennt den Heiland, in dem der Vater seine vergebende und erneuernde Gnade uns mitteilt. Er kennt den Weg, der zur himmlischen Heimat führt. Er kennt des Erdenlebens höchste Zwecke und letzte Ziele. Er ist heimisch in der unsichtbaren Welt. Und wer in ihr heimisch ist, weiß sich freilich als einen Gast auf Erden, aber als einen Gast in seines Vaters Haus und deshalb nicht als Fremdling. Auch dies zeitliche Leben ist ihm vertraut, er findet in ihm seinen Weg, den Weg, den Gott ihm gewiesen hat. Er spricht: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege“ (Ps. 119,105). Er hat die Salbung und weiß alles. Er weiß es sicher und zuversichtlich, denn sein Wissen ruht nicht auf schwankender, dem Irrtum ausgesetzter Forschung menschlicher Weisheit, sondern auf dem Grunde des göttlichen Worts, das ihm der heilige Geist auslegt. Gewiss, es bleiben auch hier viele Rätsel, die wir nicht lösen können, wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort (1. Kor. 13,12), aber hell und klar bleibt der Ratschluss unsers Gottes, in dem wir Frieden finden, hell und klar der Weg, den wir wandeln sollen. Gewiss, die Salbung des heiligen Geistes kann uns nicht vor verderblichem Irrtum schützen, wenn wir dem Hochmut und der Selbsttäuschung der Schwärmerei verfallen und in lebhaften religiösen Erregungen unsers Innern die Stimme Gottes zu vernehmen meinen, „prüft die Geister, ob sie von Gott sind“, mahnt der Apostel Johannes (1. Joh. 4,1), prüft vor allem den eignen Geist - aber wir sollen nicht eigne Wege gehen, uns über die Gemeinde erheben, sondern in ihr bleiben und an der Erkenntnis der Brüder die eigne Erkenntnis berichtigen und klären. Denn die Salbung des heiligen Geistes ist der Gemeinde Jesu Christi verheißen, und sie gilt ihren Gliedern nur, wenn sie in der Gemeinde und mit ihr leben, gebend und empfangend.
In dieser Salbung des heiligen Geistes ist uns nun aber auch die zuverlässige Wegweisung gegeben, um christliche Wahrheit und widerchristlichen Irrtum zu unterscheiden. Wie verführerisch auch die Gestalt erscheinen mag, in der dieser uns naht, wie täuschend das Gewand, in welches sie sich hüllt, mag es in Worten des Evangeliums sich verbergen, mag es durch wohlklingende Losungen locken, wir haben die Salbung und in ihr die Gabe zuverlässiger Unterscheidung und Scheidung. Wir wissen, da ist Widerchristentum, wo Christenmund leugnet, dass Jesus der Christ ist, das letzte, vollkommene Wort Gottes an die Menschheit; wo Christenmund der frohen Botschaft von dem Heil in Christo die friedlose Botschaft von einem Heil außer Christus entgegenstellt. Die Salbung des heiliges Geistes, in der wir wissen, dass Gott Jesu Christo einen Namen gegeben hat, der über alle Namen ist (Phil. 2,9), verleiht Schärfe und Klarheit des Blicks, um zu erkennen und auszuscheiden, was von dem Heiland abführt und zum Widerchristlichen verführt. Kraft dieser Salbung erforscht und prüft die Gemeinde des Herrn die Zeichen der Zeit, wird sie inne, ob die Wogen des Widerchristentums hoch gehen, und ihr mehr wie sonst die Mahnung gilt: „Wacht und betet, dass ihr nicht in Versuchung fallt. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“ (Mark. 14,38), erfährt sie, ob die Macht des Widerchristentums geschwächt, und, wenn auch nicht gebrochen, so doch gedämpft ist. Sie erkennt die Zeiten, in denen das Evangelium Triumphe feiert, aber auch die Zeiten, in. denen es bedrängt wird, die letzten Zeiten.
Es gibt in der Geschichte der Welt letzte Zeiten, Wendepunkte in der Entwicklung der Völker, da ein Zeitalter zu Grabe geht, und ein neues Zeitalter anbricht. Und mit diesen letzten Zeiten in der Geschichte der Völker sind oft verflochten auch letzte Zeiten in der Geschichte des Reiches Gottes, in denen sich widerchristliche Gewalten kräftig regen und die Macht des Evangeliums über die Herzen der Menschen zu vernichten suchen, da sich die alten Formen auflösen, in denen die Gemeinde des Herrn bisher das ewige und unveränderliche Wort der Wahrheit dargeboten hat, da aber auch aus der unerschöpflichen Quelle der göttlichen Offenbarung neue, vollkommenere Gestalten des Lebens in Gott und der Erkenntnis desselben erzeugt werden. In solchen Zeiten ruft die widerchristliche Welt: Das Christentum ist tot, seine Gewalt ist zerstört, kein Hosianna wird ferner dem Sohne Gottes entgegen gerufen werden. Aber siehe, wie der Gekreuzigte vom Tode erstanden, als der Auferstandene zur himmlischen Herrlichkeit erhöht ist und zur Rechten Gottes sitzt, der König seiner Gemeinde, der sie zum Triumph über die ihm feindliche Welt führt, so offenbart er grade in solchen Zeiten der Versuchung seine Herrschermacht und bezeugt sich machtvoll als den Einen, der allein Wahrheit, Gerechtigkeit und Friede, Vertrauen und Hoffnung, Vergebung der Sünden, Erlösung und ewiges Leben spendet.
Eine solche letzte Zeit war gekommen, als Johannes die Worte schrieb, der wir uns jetzt in andächtiger Betrachtung zugewandt haben. Jerusalem war zerstört, die Weissagung des Herrn in Erfüllung gegangen, die Macht der jüdischen Feindschaft war gebrochen, nur ohnmächtiger Hass geblieben. Nun war es vor aller Christen Augen offenbar geworden, dass die Heidenwelt der Acker werden sollte, in den die Christen den Samen des göttlichen Worts zu senken berufen waren. Eine alte Zeit war vergangen, eine neue angebrochen. Aber auch das römische Weltreich, in dessen Grenzen sich das Evangelium entfalten sollte, trug den Keim des Todes in sich, schon war die Axt an seine Wurzeln gelegt. Wie glanzvoll es auch erschien, sein Todesurteil war doch gesprochen. Mochten auch noch Jahrhunderte vergehen, bis die innere Auflösung, die sich schon jetzt vorbereitete, ihr Ziel erreicht hatte, die Gemeinde des Herrn erblickte kraft der Salbung des heiligen Geistes im Anfang des Endes die letzte Stunde und las die verhängnisvolle Schrift: „Gezählt und vollendet, gewogen und zu leicht gefunden, zerteilt“ (Daniel 5,25-28). In dieser Welt der Auflösung blieb die Gemeinde Jesu Christi siegesgewiss, im Gefühl ewiger Lebenskraft, aber doch vor den Gefahren bangend, welche die Vollendung der Geschicke Roms auch ihr bereiten musste. Wie konnte sie ihnen begegnen? Wenn sie in der Wahrheit des Glaubens, in der Reinheit der Liebe und in der Zuversicht der Hoffnung blieb, wenn sie als eine in Glaube, Liebe, Hoffnung verbundene unauflösliche Lebensgemeinschaft sich bewahrte. Aber dieser Grund, auf dem allein sie ruhen und sich erbauen konnte, wurde jetzt bedroht. Heidnischer und jüdischer Geist drang in die christlichen Gemeinden ein, vermischte sich mit christlichen Gedanken, fälschte die christliche Erkenntnis der Wahrheit und beraubte die christliche Lebensführung hier durch Gesetzesdienst der Freiheit, dort durch Zügellosigkeit des Heiligungsernstes. Die Christenheit wurde zu einem großen, gefahrvollen, verhängnisvollen Kampf berufen. Es handelte sich für sie um Sein oder Nichtsein, es handelte sich darum, ob sie das Salz der Wahrheit rein erhalten werde oder die Religion des Geistes durch trübe Mischung mit den Religionen des Naturdienstes entstellen. Es war eine letzte Stunde gekommen, eine Stunde heißen Ringens mit widerchristlichen Gewalten.
Meine Teuren, es sind viele letzte Stunden in der Geschichte des Reiches Gottes diesen gefolgt, und vielleicht trägt auch unsere Zeit dieses Siegel. Auf dem Gebiet der Erkenntnis christlicher Wahrheit fürchten wir keine Erschütterung, die den festen Grund gefährdet, auf dem die Gemeinde Jesu Christi ruht. Mögen immer neue Formen gesucht und gefunden werden, das Geheimnis des Glaubens vollkommen auszusprechen und zu deuten, langsam bleibt der Gang, auf den die christliche Wissenschaft gewiesen ist. Irrtümliches wird hier berichtigt, Unbegründetes ausgeschieden, was treuer Forschung sich nicht bewährt, verlassen. Im Austausch und in der Beurteilung werden die Gedanken geprüft, und nur, was die Feuerprobe besteht, wird erhalten. So wandelt sich allmählich die Gestalt christlicher Erkenntnis, aber unverändert bleibt das ewige Evangelium. Es fällt dahin, was ihm widerspricht. Denn „einen andern Grund kann niemand legen, außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus“ (1. Kor. 3,11). Und die Christenheit sammelt sich immer von neuem um die Losung: „Jesus Christus, gestern und heute, und derselbe auch in Ewigkeit“ (Hebr. 13,8). Sie vertraut auf die Gabe des heiligen Geistes, auf die Salbung, die Geister zu prüfen, ob sie von Gott sind (1. Joh. 4,1). Aber große Veränderungen bereiten sich auf andern Gebieten des Reiches Gottes vor. Aus der Enge in die Weite, das ist die Wegweisung, der wir in der Gegenwart folgen müssen. Es wachsen die Aufgaben, die christlicher Liebestätigkeit gestellt sind. Sie muss die Kluft füllen, die Armut und Wohlstand trennt, damit nicht Bitterkeit und Hass einen Brand entzünden, der das Gebäude der bürgerlichen Gesellschaft zerstört. „Aus der Enge in die Weite“, auch die Missionsarbeit richtet an uns diese Mahnung. Das Innere Afrikas erschließt sich der Verkündigung des Evangeliums, weiter öffnen sich die Pforten Ostasiens. Immer umfassender wird das Arbeitsfeld der Mission. „Aus der Enge in die Weite“, das ist aber auch eine Aufforderung zu innerer Einheit, die lauter als früher gegenwärtig erschallt. Gewiss, wir dürfen nicht preisgeben, was uns zum Heiligtum geworden ist, auch der Unterschied der Parteien in der Christenheit ruht nicht in der Willkür; jede, die den Boden des Evangeliums bewahrt, trägt ein größeres oder geringeres Maß der Wahrheitserkenntnis und deshalb auch der Berechtigung in sich, und auch im Kampf der Parteien liegt ein Segen beschlossen. Aber nur dann ererben wir ihn, wenn wir mit dem weiten Blick der Liebe auch die Arbeit am Reiche Gottes erkennen und anerkennen, die jenseits der Grenzen des eignen Lagers geschieht, wenn wir von einander lernen, miteinander und für einander beten, das Gemeinsame pflegen, uns tragen und dulden, in der Geschiedenheit doch die Einheit erblicken und zur Gemeinschaft der Arbeit uns vereinigen.
Entfremdet dem Glauben, gleichgültig gegen alle Fragen, welche das Ewige und Unsichtbare berühren, aber durch mannigfache Beziehungen mit uns verbunden, auch der äußeren Gemeinschaft der Christenheit angehörig, wenden sich viele Kinder unserer Zeit, vielleicht ihre größere Zahl, ausschließlich irdischen Bestrebungen zu, den Arbeiten, die sie fordern, der Lust, die sie gewähren. Vergeblich, sie durch die Predigt zu gewinnen, sie bleiben unseren Gottesdiensten fern. Nur die Predigt der Tat, die Predigt treuer, hingebender, opferwilliger Liebe, kann sie zu Gott, zum Heilande führen. Nur die weit blickende, zur Einheit sich sammelnde Liebesarbeit der Christenheit überwindet die Welt. Zu ihr wird die Christenheit in der Gegenwart durch laut redende Zeichen von Gott gerufen. Ein neuer Schritt in dem Weltgang des Reiches Gottes soll getan werden, eine neue Wendung steht bevor, eine letzte Stunde in den Weltzeiten hat geschlagen.
Aber es gibt auch letzte Stunden im Leben des einzelnen Christen, entscheidende Stunden, in denen eine Entwicklungsstufe in die Vergangenheit zurückweicht, um einer neuen Raum zu geben. Euch hat sie geschlagen, teure Jünglinge, die ihr das schützende Dach des väterlichen Hauses verlassen habt, und jetzt, nicht mehr von Vater- und Mutterhand geleitet, in die Welt eingetreten seid und nach eigener Entschließung und zu eigener Verantwortlichkeit euer Leben gestalten sollt. Von wie vielen Seiten dringen sie an euch heran, die widerchristlichen Versuchungen, die euch von der Wahrheit des Glaubens zur Lüge des Unglaubens zu verführen suchen; wie lockend klingen euch die Stimmen, die den irdischen Genuss als des Lebens höchstes Gut preisen, die Aufforderungen, Gottes Geboten und heiligen Ordnungen, Sitte und Zucht, Wort Gottes und Gewissen, die gebietend und verbietend der zügellosen Begierde entgegentreten, den Gehorsam zu versagen! Es gibt letzte, entscheidungsvolle Stunden im Leben der Jugend. Aber sie bleiben auch nicht aus für den Weg des gereiften Mannes. Das Leben des Christen ist ein Leben des Kampfes. Alte Versuchungen kehren wieder, neue entstehen. Zweifel und Anfechtungen erschüttern die Seele. Die Frage des Täufers: „Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten“ (Ev. Matth. 11,3) wird laut. Die Rätsel der Welt verwirren das Gemüt, und wir stehen in Gefahr, den Faden des Glaubens zu verlieren, der durch die vielen, sich kreuzenden Wege sicher hindurchführt. Der Glaube an die Vorsehung Gottes, der Frömmigkeit fester Grund, wird bedroht. Und es kommt auch die Zeit, da der schmale Weg mit seinen Opfern und Selbstverleugnungen uns zu rau und zu schwer, und der breite Weg so reizvoll erscheint. Es gibt auch letzte, entscheidungsvolle Stunden im Leben des gereiften Mannes, die, siegreich bestanden, zu einer neuen höheren Stufe der Gemeinschaft mit dem Herrn uns erheben, die aber, Zeugen unserer Niederlage, uns des ewigen Erbes berauben. Meine Lieben! Der Weltgang des Reiches Gottes und der Lebensweg des einzelnen Christen bedingen einander. Siegeszeiten des Reiches Gottes ebnen die Bahn, Zeiten des Niederganges erschweren den Weg des Heils. Aber jeder Christ, der im ernsten Kampfe siegt, bereitet auch der Gemeinde des Herrn einen aufsteigenden Weg; und jeder Christ, welcher der Versuchung erliegt, hemmt den Sieg des göttlichen Reiches. Deshalb beten wir: Dein Reich komme zu uns, durch uns! Amen.