Jacoby, Carl Johann Hermann - Der erste Brief des Apostels Johannes in Predigten ausgelegt - XVI. Die Gemeinschaft mit Gott, das Bleibende im Wechsel.
1. Joh. 4,12-19.
Niemand hat Gott jemals gesehen. So wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist völlig in uns. Daran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns, dass er uns von seinem Geist gegeben hat. Und wir haben gesehen und zeugen, dass der Vater den Sohn gesandt hat zum Heiland der Welt. Welcher nun bekennt, dass Jesus Gottes Sohn ist, in dem bleibt Gott und er in Gott. Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott in ihm. Daran ist die Liebe völlig bei uns, auf dass wir eine Freudigkeit haben am Tage des Gerichts; denn, gleichwie er ist, so sind auch wir in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibet die Furcht aus; denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe. Lasst uns ihn lieben, denn er hat uns erst geliebt.
Von neuem vernehmen wir heute die stumme und doch so laute Predigt des Todes. Wir hören seine Stimme: Wir sind Pilgrime hier auf Erden, früh oder spät schlägt für uns alle die letzte Stunde, die uns von dieser Welt abruft. Mit jedem Jahre, mit jedem Totenfeste, das wir begehen, rückt sie uns näher. Und diejenigen unter uns, welche die Tage des Alters erreicht haben oder mit schnellen Schritten ihnen entgegengehen, spüren an unmissdeutbaren Zeichen, dass die Kraft des irdischen Lebens im Sinken begriffen ist, dass die Rüstigkeit geringer wird, und dass die siegesgewisse Freudigkeit, mit der sie früher mutig den Hindernissen auf ihrem Wege Widerstand leisteten, immer mehr schwindet. Häufiger senkt sich die Wolke der Schwermut auf ihre Seele nieder, ernster wird der Blick in die Zukunft, oft ergreift Müdigkeit nicht bloß unseren Körper, sondern auch unser geistiges Leben. Wir spüren es, dass wir nicht mehr bergauf gehen, vielmehr, wenn auch vielleicht langsam, bergab. Es ist die stumme und doch so laute Predigt des Todes, die an uns ergeht. Und wenn wir auf sie hören, so treten zugleich vor unseren erinnernden Geist die Gestalten der teuren Mitpilger, die früher als wir das Ziel erreichten, mit denen uns die Bande der innigsten Liebe verknüpften. Vor unserer Seele erscheinen die schönen Stunden, die wir in ihrer Gemeinschaft genossen, die reiche Liebe, die wir von ihnen empfingen, die Erquickung, die sie uns gewährten. Sie weilen nicht mehr unter uns. Aber ihr Bild, so oft erblassend im arbeitsvollen und zerstreuenden Getriebe des Lebens, heute gewinnt es hellere, lebendigere Farben, und wir werden inne, dass die Wurzeln unserer Liebe noch nicht ausgegraben sind aus unseren Herzen. Wir fühlen uns hingezogen zu den Friedhöfen und legen den Kranz dankbarer Liebe und Treue auf teure Gräber. Und, wenn ihnen nicht unser Fuß nahen kann, so umschwebt sie doch unser Geist. Unsichtbar stehen wir an dem kleinen Hügel, und unser Auge schaut zu der Stätte der Vollendung auf, in der wir unsere Entschlafenen geborgen wissen.
Es ist eine ernste Predigt, die wir aus dem Munde des Todes vernehmen. Sie ruft uns zu: Alles Irdische ist vergänglich, vergänglich auch die herrlichste Blüte des Irdischen, das Menschenleben. Es entsteht, blüht, reift, sinkt dahin gleich der Blume des Feldes. Aber gibt es nichts Bleibendes im Wechsel, nichts Unveränderliches, Seiendes, Wesenhaftes in der Flucht der Erscheinungen, in der Flut des Werdens und Vergehens. Mit dieser Frage treten wir an das Wort Gottes heran, das heute zu uns redet, und siehe, es zeugt von dem, was bleibt. Wie wohl in einem Liede immer von neuem gleichlautende Worte wiederkehren, welche den tiefsten Sinn desselben deuten wollen, so ruft uns der Apostel wieder und wieder das Wort zu: Es bleibt Gott in uns, wir bleiben in Gott. Die Gemeinschaft Gottes mit uns, unsere Gemeinschaft mit ihm, sie bleiben. Es ist
Die Gemeinschaft mit Gott das Bleibende im Wechsel. Hier unsere Hoffnung angesichts des Todes, hier unser Trost am Grabe unserer Lieben.
1.
Der Blick in das Land jenseits des Grabes erfüllt uns mit bangem Schauer; die Gewissheit, dass wir selbst es früher oder später betreten müssen, legt sich belastend auf unsere Seele. Weshalb? Weil uns der Reiz dieser sichtbaren Welt so fesselt, weil der Zauber ihrer Schöne unseren Sinn gefangen hält? Ach, es gibt so viele unter uns, welche nur wenig von der Herrlichkeit des Erdendaseins genossen haben, ihr Leben war ein steter Kampf, Entsagung und Verzicht die Losung, der sie folgen mussten. Die holden Täuschungen der Jugend zerrannen so bald, die harten Enttäuschungen des Lebens traten so reichlich ein. Aber es ist in der Natur des Menschen der Wunsch tief begründet, dies zeitliche Dasein, wie arm an Freuden und wie reich an Schmerzen es sei, solange als möglich fortzuspinnen, und es wird oft dem Greise nicht minder schwer von ihm zu scheiden als dem Jüngling und der Jungfrau. Woher dies sich Festklammern an das vergängliche Leben, woher die Scheu, die Angst vor dem Jenseits des Grabes? Meine Lieben! Diese bangen Gefühle angesichts des Todes wurzeln in der Fremdheit des Landes, in welches wir eintreten sollen. Diese irdische, sichtbare Welt ist uns vertraut und heimisch geworden, hier haben wir uns Hütten gebaut, hier haben wir Lust und Schmerz erfahren, hier haben wir gearbeitet, hier Siege errungen und Niederlagen erlitten, hier Liebe gegeben und empfangen. Aber das Land, in das wir durch die Pforte des Todes eingehen, ist uns unbekannt geblieben. Niemand, der dort gewesen, ist zurückgekehrt und hat uns mitgeteilt, was er gesehen, gehört, erfahren. Und in dies dunkle Land sollten wir ohne Bangigkeit eintreten, es sollten sich in uns nicht dieselben bangen Gefühle regen, die einen Abraham erfüllten, als an ihn der Ruf Gottes erging: „Gehe aus deinem Vaterland und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will“ (Mos. 12,1)?
Und doch, meine Teuren, was unserm natürlichen, sinnlichen Menschen fremd ist, unserm geistigen Menschen ist es vertraut. Denn wir haben in Jesu Christo Gemeinschaft mit unserm Gott, dem das Diesseits und das Jenseits gehört, dessen Reich hier und dort erbaut ist. Wenn wir die Schwelle des Todes überschreiten, so verlassen wir nicht unser Vaterland und gehen in die Fremde, sondern wir bleiben im Vaterland, denn wir bleiben bei unserm Gott und Vater. Und ein wie inniges Band vereinigt uns mit ihm! Er hat uns von seinem Geist gegeben, sein Geist lebt und wirkt in uns, wie könnten wir von ihm getrennt werden! Unser Gott gibt nur denen seinen Geist, die er zur Teilnahme an seinem ewigen Leben berufen hat. Dass wir von seinem Geist empfangen haben, ist ein gewisses Zeugnis, dass wir in Gott bleiben sollen, dass er in uns bleiben will. In der Gemeinschaft mit Gott durch seinen heiligen Geist erfahren wir aber auch die Gewissheit seiner unendlichen Liebe. Hier erkennen und erleben wir seine Liebe, die barmherzig und gnädig unsere Schuld vergibt und die Macht der Sünde in uns bricht. Und diese Gewissheit im heiligen Geiste ist keine Selbsttäuschung, denn der heilige Geist geht von Jesus Christus aus, in dessen Zügen wir das Vaterangesicht Gottes erblicken, der uns seine Liebe offenbart und verbürgt. Was Gott durch Jesus Christus in die Menschenwelt hineingerufen hat, das selige Wort von der Liebe Gottes, der heilige Geist spricht es in das Herz jedes Jüngers Jesu hinein, wie der Herr es verkündet hat: „Von dem Meinen wird er es nehmen und euch verkündigen“ (Evang. Joh. 16,14). So wissen wir uns als geliebte Kinder Gottes in Christo, es schwindet in unseren Herzen alle Furcht und alle Pein der Furcht, wir haben eine Freudigkeit am Tage des Gerichts, als Glieder am Leibe Jesu Christi, als seine Jünger und Brüder sind wir wie er in dieser Welt, in ihm Gegenstand der unendlichen Liebe Gottes, so dass wir triumphierend rufen: „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“ (Röm. 8,31).
Siehe da unsere Hoffnung angesichts des Todes, eine feste, zuversichtliche Hoffnung, eine Hoffnung, wie sie den Kindern der Welt fehlt und fehlen muss. Aus welchen Quellen sollten sie dieselbe schöpfen! Ihr Leben gehört der Erde an, die wir sterbend verlassen. Es ist von dem Trachten nach zeitlichen Gütern erfüllt, von denen wir uns im Tode trennen müssen. Die Herrlichkeit der unsichtbaren Welt, des himmlischen Jerusalems, hat für sie keinen Reiz. Dort wird das ganze Leben ein vollkommener Gottesdienst sein, sie aber wollen nur der Welt dienen, für Gott ist in ihren Herzen kein Raum. Dort werden nur unvergängliche, unsichtbare Schätze gewonnen, und sie kämpfen nur um vergängliche Preise, die der sichtbaren Wirklichkeit angehören. Deshalb sehen die Kinder der Welt ohne Trost dem Tage entgegen, der sie aus dieser Welt abruft, oder suchen vielmehr den Blick von demselben abzuwenden. In rastloser Arbeit die einen, in der Jagd nach Genuss die andern, wollen sie das unvermeidliche Todesgeschick vergessen, verscheuchen sie den Gedanken des Todes. Vielleicht taucht in ihrer Seele die Ahnung eines Lebens jenseits des Grabes auf, aber sie vermögen diese Ahnung nicht festzuhalten, das Bild einer ewigen Zukunft löst sich ihnen immer wieder auf, weil der Zug des Herzens ihm nicht begegnet. Der Zweifel zerstört die Hoffnung, die sich leise regt, die Gedanken, welche sie stützen wollen, leisten entgegengesetzten Erwägungen, welche sie bedrohen, nicht Widerstand, und so verliert die Seele, bald hierhin, bald dorthin gezogen, den Boden sichernder Gewissheit. Die Zuversicht des Glaubens ist ihr versagt. Aber die Kinder Gottes triumphieren, wenn die Kinder der Welt verzagen. Sie rufen mit dem Apostel Paulus: „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ (1. Kor. 15,55), und ihre Losung heißt: „Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum, wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn“ (Röm. 14,8). Sie leben Gott, und Gott lebt in ihnen, wer mag sie aus seiner Hand reißen? Gott ist mächtiger als der Tod. Gott, der die Liebe ist, hat ihre Namen in das Buch des Lebens geschrieben; wer mag sie auslöschen? Wen die Liebe Gottes an ihr Herz gezogen hat, ist für alle Ewigkeit geborgen. Die Liebe der Menschen schwankt, hier folgt auf die Flut die Ebbe; aber die Liebe Gottes bleibt sich gleich, wer sie erfahren hat, wird von ihr nicht verlassen. Die Liebe Gottes ist stärker als der Tod. Die Kinder Gottes sind Glieder am Leibe Jesu Christi; wer mag die Glieder vom Haupte trennen? Wo Christus weilt, weilen auch die Seinen. Sind wir Kinder Gottes, so auch Erben Gottes. „Lässt wohl ein Haupt sein Glied, welches es nicht nach sich zieht?“ Die Kinder Gottes blicken getröstet dem Tage ihres Scheidens von dieser Erde entgegen, und getröstet stehen sie auch am Grabe ihrer Lieben.
2.
Denn wir bleiben mit ihnen verbunden und werden sie wiedersehen. Wurzelt doch die Liebe, welche Christen miteinander vereinigt, in den ewigen Gütern, welche die Gnade Gottes ihnen verliehen hat. Nicht die Reize der Schönheit, mit denen Gott das leibliche Leben geschmückt hat, die so bald verwelken, wie die Blume des Grases, verbinden sie; nicht verknüpfen sie die mancherlei Gaben des Geistes, die doch die tiefsten Bedürfnisse unsers Herzens unbefriedigt lassen, wie sehr sie anziehen und fesseln, erfrischen und erquicken, unseren Blick erweitern und vertiefen; nein, einzig und allein das gleiche Trachten nach den ewigen, himmlischen Gütern, die Gemeinsamkeit des Pilgerwegs schlingen um ihre Seelen ein unlösbares Band. Nur diese Liebe schließt die Bürgschaft der Ewigkeit in sich. Auch unter denen, welche durch die eigentümliche Anziehungskraft, die sie aufeinander ausübten, zu einem nahen Gemeinschaftsleben verbunden sind, das innige Liebe fordert, um zu entstehen und zu bestehen, hier in der Ehe und Familie, dort in der Freundschaft, verliert die Zuneigung ihre Stärke und schwindet leicht unter den mancherlei Sorgen und Kämpfen, die unauflöslich mit dem irdischen Dasein verbunden sind, wenn nicht das Gefühl der Vereinigung in Gott durch unseren Herrn Jesum Christum das sich lockernde Band immer von neuem befestigt, die erlöschende Flamme der Liebe von neuem anfacht. Nur, wenn sie auf ewigem Grunde ruht, ist die Bruderliebe gesichert, nur wenn sie in der Liebe zu Gott wurzelt, kann sie von den Stürmen des Lebens nicht entwurzelt werden. Nur die Liebe Gottes, die uns zu seinen Kindern erwählt hat, verbindet uns untereinander als Brüder. Daher sagt der Apostel: „Ihr Lieben, hat uns Gott also geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben.“ Aber durch die Bruderliebe wachsen wir auch in der Liebe zu Gott. Hier erfahren wir, gebend und empfangend, zugleich die Liebe Gottes, die unsere Liebe zu ihm stärkt. Wo wahre Liebe waltet, da wirkt immer Gott selbst, der die Liebe ist; und wo die Liebe Gottes gefühlt wird, ruft sie Gegenliebe hervor. „So wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist völlig in uns.“
Bruderliebe, auf diesem ewigen Grunde ruhend, ist ewig, unsterblich, der Tod kann sie nicht vernichten, sie reicht über das Grab hinaus. In ihr bleiben wir auch mit unseren Entschlafenen vereinigt. Freilich vermögen wir nicht mehr, ihnen auszusprechen, dass unser Herz noch warm für sie schlägt, nicht mehr, im Blick des Auges, im Druck der Hand ihnen unsere Liebe zu bezeugen. Sie wandeln nicht mehr in unserer Mitte, und unsere Sinne suchen ihre teure Gestalt vergeblich. Wir können ihre Grabhügel schmücken, mit Kränzen und Blumen die Stätte des Todes in ein Bild des Lebens verwandeln, aber wie arm, wie leer, wie kalt ist dieser Gruß der Lebenden an die Toten, oder, dass wir im Lichte der Wahrheit reden, dieser Gruß der Erdenpilger, die dem Tode entgegengehen, an die Bürger des himmlischen Jerusalems, die den Tod überwunden haben. Ach, und wie selten steigen unsere Gedanken zu den seligen Wohnungen empor, in denen unsere Geliebten weilen! Die rastlose Arbeit des Erdenlebens, die unsere volle Teilnahme in Anspruch nimmt, die Teuren, die uns hier geblieben sind, oder die wir neu gewonnen, die ein verödetes Dasein wieder mit Leben und Licht erfüllt haben, alle die Reize und mannigfaltigen Beziehungen der Gegenwart, die uns mit dieser Welt verknüpfen, sie drängen das teure Bild der Entschlafenen zurück. Und hier waltet eine göttliche Ordnung. Wir gehören der Gegenwart an, sie hat auf uns, wir haben auf sie ein Recht. Und doch, wir haben unsere Toten nicht vergessen, im tiefsten Grunde unsers Herzens lebt ihr Bild, und in stillen, ernsten Stunden der Sammlung tritt es vor unsere Seele. Wir fühlen es dann, wie die Liebe zu ihnen nicht erloschen ist; vor unsere Erinnerung treten alle Erquickungen, die sie uns gewährten, alle Stunden der Freude und des Glücks, die wir in Gemeinschaft mit ihnen genossen, und sehnende Liebe hebt uns zu ihnen empor. Und, je älter wir werden, desto näher erscheinen sie uns, und die Grüße der Liebe steigen häufiger, steigen inniger zu ihnen empor. Wir rufen ihnen zu: Wartet auf uns noch eine kleine Zeit, bereitet uns die Stätte, bald sind wir in eurer Gemeinschaft, bald hat auch unsere Pilgerzeit ihr Ende erreicht, bald sind auch wir am Ziel, bald blicken auch wir auf unser Erdenleben zurück wie der Erwachende auf die Träume des nächtlichen Schlafes. So grüßen wir unsere Entschlafenen, von der Erde zum Himmel aufblickend, und unsere Grüße bleiben nicht unerwidert.
Sie haben einst an unserer Freude und an unserm Schmerz teilgenommen, und, je inniger das Band war, das uns mit ihnen vereinigte, desto gewisser waren wir, dass die Gefühle unsers Herzens auch in ihrem Herzen einen Wiederhall fanden, dass den Gedanken unsres Geistes auch die Gedanken ihres Geistes begegneten. Sie haben einst mit ihrer liebenden Fürsorge uns getragen, mit ihrer Fürbitte uns auf allen Wegen begleitet. Und jetzt sollten sie nicht mehr unserer gedenken, jetzt sollte unser Geschick, unsere Lust und unser Leid, ihnen fremd geworden sein, jetzt sollte ihre Fürbitte für uns nicht mehr dem Throne Gottes nahen! Nimmermehr! Wir sind von der gewissen Zuversicht erfüllt, dass noch jetzt ihr Herz für uns schlägt, dass sie uns auf unseren Wegen begleiten, dass sie uns nahe sind, wenn sich unsere Seele in Dank und Lobpreis zu Gott erhebt, aber dass sie uns auch umschweben, wenn dunkle Wolken des Leidens uns umhüllen. Wir glauben es zuversichtlich, dass sie die Opfer des Gebets und der Fürbitte darbringen, dass wir den Weg des Heils nicht verlassen und das Ziel der Seligkeit erreichen, dass sie weinend ihr Angesicht verhüllen, wenn wir in der Stunde der Versuchung straucheln, und dass sie den Herrn anflehen, seine Gnade wolle uns wieder aufrichten. Meine Teuren, wenn wir uns einst vor dem Throne unsers Gottes und Vaters als seine begnadigten und geretteten Kinder wiederfinden, wenn wir sie dann alle suchen, die uns geschützt und behütet, und, wenn wir uns selbst verloren, in treuster Liebe uns nachgegangen sind, wenn wir dann fragen, wo sind sie, dass wir ihnen danken, dann werden in der großen Schar der Boten Gottes, die uns in seinem Namen und in seiner Liebe zu ihm führten, unsere teuren Entschlafenen nicht fehlen, sie werden dann zu uns sprechen: Ich bin dir immer nahe gewesen, mein Geist hat dich umschwebt, meine betende Liebe dich umgeben. Seien wir gewiss, unsere vorangegangenen Lieben senden heilige Grüße vom Himmel her zu uns hernieder. Kinder, eure Eltern, Vater und Mutter, haben euch verlassen und sind doch bei euch geblieben, sie begleiten euch unsichtbar mit fürbittender Liebe auf allen euern Wegen, mahnend, warnend, tröstend; Eltern, die ihr ein teures Kind verloren habt, es ist euch nicht verloren, liebend gedenkt es eurer und ruft euch zu: Ich erwarte euch im Hause des himmlischen Vaters, hier wachse ich auf in heiliger Hut, sicher und geborgen, ihr dürft nicht mehr für mich sorgen und zagen. Mein Bild ziehe euch zu den himmlischen Wohnungen empor. Ehegenossen, die der Tod geschieden, Geschwister, die das Grab getrennt, Freunde, die ihr euch nicht mehr auf Erden aneinander erquicken könnt, ihr seid doch verbunden. Die ihr hier zurückgeblieben, blickt zu den Vorangegangenen empor, wie sie zu euch mit Grüßen heiliger Liebe herniederschauen. Sie sind die Sieger, wir noch Kämpfer, sie weilen im Vaterlande, wir pilgern noch in der Fremde. Ihr Vorbild ruft uns zur Nachfolge, ihre Seligkeit zeigt uns den Siegespreis, ihre Liebe zieht uns empor. Und so treten wir an die Gräber unserer Lieben, weinend und doch getröstet. Wir trauern, aber die Hoffnung des Glaubens hält uns aufrecht. In der Gemeinschaft mit Gott durch unseren Herrn Jesum Christum, in der Gemeinschaft ewigen Lebens durch den heiligen Geist schlagen wir eine Brücke, die Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit, Diesseits und Jenseits verbindet. Wir tauschen Gruß um Gruß, gebend und empfangend, die Kämpfer mit den Siegern. Die trennenden Schranken weichen, wir spüren den Hauch der Ewigkeit. Von ihm umweht, setzen wir freudig unsere Pilgerschaft fort. Wir kennen das Ziel, seine Herrlichkeit verleiht uns Kraft, des langen Weges Mühen zu überwinden, seine Herrlichkeit hält uns zurück, von seinen Reizen uns fesseln zu lassen. Es schwinden die Schrecken des Todes. Je mehr wir uns dem Ziele nahen, desto vertrauter wird uns das Bekenntnis des Apostels Paulus: „Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein, welches auch viel besser wäre“ (Phil. 1,23). Und wenn wir durch das dunkle Tal gehen, so verzagen wir nicht, der Herr führt uns, sein Stecken und Stab trösten uns, seine Engel tragen unsere Seele in die himmlische Heimat hinüber. „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unseren Herrn Jesum Christum“ (1. Kor. 15,55.57). Amen.