Jacoby, Carl Johann Hermann - Der erste Brief des Apostels Johannes in Predigten ausgelegt - XI. Christen sündigen nicht.
1. Joh. 3,4-10. Wer Sünde tut, der tut auch Unrecht; und die Sünde ist das Unrecht. Und ihr wisst, dass er ist erschienen, auf dass er unsere Sünden wegnehme, und ist keine Sünde in ihm. Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer da sündigt, der hat ihn nicht gesehen noch erkannt. Kindlein, lasst euch niemand verführen. Wer recht tut, der ist gerecht, gleichwie er gerecht ist. Wer Sünde tut, der ist vom Teufel; denn der Teufel sündigt von Anfang. Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre. Wer aus Gott geboren ist, der tut nicht Sünde, denn sein Same bleibt bei ihm und kann nicht sündigen, denn er ist von Gott geboren. Daran wird es offenbar, welche die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels sind. Wer nicht recht tut, der ist nicht von Gott, und wer nicht seinen Bruder lieb hat.
Das Bild des christlichen Lebens, das uns hier der Apostel Johannes vor Augen stellt, weicht sehr von den Vorstellungen ab, in denen wir dasselbe zu erblicken und uns zu vergegenwärtigen pflegen. Uns erscheint es als ein Kampf, in dessen Verlauf bald Siege errungen, bald Niederlagen erlitten werden, als eine Entwicklung, in der freudigem, selige Hoffnungen weckendem Aufschwung ein Stillstand, ein Rückgang, eine Lähmung der innern Kraft folgt, als ein Weg, an dessen Ziel freilich die unendliche Barmherzigkeit Gottes einen überschwänglichen Gnadenlohn uns bereitet hat, dessen einzelne Abschnitte uns aber mehr von diesem Ziel zu entfernen, als ihm näher zu führen scheinen. Ist doch der Grundton unserer Selbstbekenntnisse nicht der Siegesruf des Apostels Paulus: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ „Unser Keiner lebt ihm selber, unser Keiner stirbt ihm selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn“ (Gal. 2,20. Röm. 14,7.8), sondern wir sind vielmehr geneigt und dazu gestimmt, mit dem Zöllner an unsere Brust zu schlagen und zu seufzen: „Gott, sei mir Sünder gnädig“ (Ev. Luk. 18,13). Wir gleichen Wanderern, die lange, ja die meiste Zeit ihrer Pilgerschaft, durch enge Täler gehen, eine dumpfe Luft einatmen und nur selten hohe Berge besteigen, auf denen reine, stärkende Winde wehen. Wir scheuen die Mühe, welche das Erklimmen der Höhen fordert. Ganz anders der Apostel Johannes. Die Berge sind seine Heimat, er kann ohne ihre Luft und ohne ihr Licht nicht leben, nur selten steigt er zu den Niederungen hinab - ein sündiger Erdenpilger, auch ein Johannes, kann die dunklen Täler nicht vermeiden, aber nur, um sobald, als er es vermag, eine neue Höhe zu ersteigen. So kann es uns nicht befremden, dass wir heute aus seinem Munde ein Wort vernehmen, so kühn und so hoch, dass wir es aus eignem Antrieb wahrlich nicht auszusprechen wagen möchten, aber auch so herrlich und verheißungsvoll, dass wir, wenn auch mit Befangenheit des Gemüts, doch mit seliger Freude es mit ihm bezeugen müssen, das Wort, das uns so tief niederbeugt und doch so hoch erhebt:
Christen sündigen nicht.
Lasst uns betrachten, wie der Apostel dies gewaltige Wort begründet. Es sind drei für einen jeden Christen unwidersprechliche Wahrheiten, auf die er uns hinweist. Die Sünde ist das Unrecht, so lautet die erste; Christus ist erschienen, auf dass er die Sünden hinwegnehme, die andere; Christen sind von Gott geboren, die dritte.
1. Die Sünde ist das Unrecht
sagt der Apostel, die Gesetzlosigkeit, die Gesetzwidrigkeit, und, wer die Sünde tut, tut das Unrecht, Die Sünde ist der Widerspruch gegen das heilige Gesetz Gottes, gegen das heilige Gesetz der Vollkommenheit und Liebe, das in seinem Reiche herrschen soll. Wer Sünde tut, sagt sich von diesem Gesetz los. Er stellt seine selbstische Begierde als das Gesetz, dem er folgen will, gegenüber. Er kann nicht von Herzen beten: „Dein Reich komme, dein Wille geschehe“, denn in seinem innersten Gemüte trachtet er danach, dass sein eignes Reich komme, sein eigener Wille geschehe. Er beugt sich nicht unter das Gebot: „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine andern Götter haben neben mir“, er spricht: Ich, der Mensch, bin mein Herr, und es ist kein gebietender Herr und Gott über mir. Deshalb ist die Sünde Feindschaft gegen Gott.
Darum, meine Lieben, schließt sich beides aus, Christ sein und sündigen. Wir sind Christen, was heißt dies anderes, als, wir sind Kinder Gottes, die ihren himmlischen Vater lieben und ihm gehorchen wollen; was heißt es anderes, als, wir sind Bürger in seinem Reiche, die den Willen Gottes zu ihrem Willen gemacht haben und mit ihrem Heiland sprechen: „Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen des, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk“ (Ev. Joh. 4,34); was heißt es anderes, als, Christen sind Knechte Gottes, die ihm dienen und am Bau seines Reiches arbeiten? Ein Christ hat mit der Sünde und ihren Werken gebrochen, er lebt in der Gerechtigkeit Gottes und für sie, er ist gerecht und vollbringt die Werke der Gerechtigkeit. Wer recht tut, sagt der Apostel, der ist gerecht, gleichwie er - der Herr Jesus Christus - gerecht ist. Der Apostel schätzt kein Christentum, das sich mit dem Tun der Sünde verbindet, kein Christentum, das nicht in seinen Bekennern eine wirkliche Gerechtigkeit hervorbringt, kein Christentum, das nicht die Nachfolge Jesu und ein ihm Ähnlichwerden in sich schließt. Ihm ist das Christentum nicht nur eine Welt eigentümlicher Vorstellungen über das Wesen Gottes, über die Art, wie er sich uns offenbart, über das Verhältnis, in das er uns zu sich gestellt hat; es ist ihm auch nicht nur eine Fülle von Gefühlen, der Lust an der Herrlichkeit des Versöhnungswerks Gottes in Jesu Christo, an der Schönheit des eingebornen Sohnes Gottes, an der Überschwänglichkeit seiner Gnade, der Unlust an den Werken der Sünde und dem Verderben, in das sie stürzt. Nein, er schätzt das Christentum, das Leben, Tat, Werk ist, inneres Leben, heiliges Entschließen, himmlisches Streben, treue, hingebende Arbeit, Wollen und Vollbringen zugleich.
Und, meine Lieben, hat der Apostel nicht recht? Hat das Evangelium nur dadurch die Welt bezwungen, dass es an Stelle des Irrtums und der Lüge die wahre Erkenntnis Gottes und seiner Werke gestellt, und dass es die Furcht vor dem Tode durch die Hoffnung auf das ewige Leben überwunden hat? Ach, der Welt fehlte nicht bloß die Wahrheit, sondern das Leben; ihr fehlte eine Wahrheit, die Lebensquelle, ihr fehlte ein Leben, das aus der Wahrheit schöpfte. Als eine neue Macht der Wahrheit und des Lebens aus Gott und in Gott trat das Evangelium in die Welt. Und seine Zeugen erwiesen es, dass ihre Erkenntnis Wahrheit, ihre Hoffnung kein Trug sei. Sie erwiesen es durch ihr Leben und Sterben, durch Wirken und Leiden, dass eine Kraft, welche die Welt nicht zu geben vermag, sie erfülle. Hier offenbarte sich ein Leben voll Selbstverleugnung und reicher, opferbereiter Liebe, ein Leben im Kampf gegen die eigne Begierde und gegen die Sünde der Welt, ein Leben der Geduld in der Trübsal, ein Leben des Glaubens, das, ewiger Zukunft gewiss, freudig dem Tode entgegengeht. Hier offenbarte sich Bruch mit der Sünde, wahrhaftige Gerechtigkeit. Und dies Zeichen wahren Christentums ist geblieben. Nur da erkennen wir seine Spuren, wo neues, heiliges Leben wirkt und waltet. Aber wir müssen freilich klagen, dass wir unter denen, die sich Christen nennen, die auf den Namen Christi getauft sind, oft wahrhaftiges Christentum vergeblich suchen. Viele unter ihnen stehen dem Evangelium fern und fremd gegenüber. Und auch wir, die wir uns nicht bloß mit dem Munde, sondern mit dem Herzen zu ihm bekennen, wie sehr müssen wir uns anklagen, dass hinter dem Wort die Tat, hinter dem Wollen das Vollbringen zurückbleibt! Wir sind reich an wahren und schönen Worten, vielleicht auch reich an seligen Gefühlen, aber sind wir auch reich an heiligen, Gott wohlgefälligen Werken? Haben wir völlig gebrochen mit der Sünde, haben wir die Gerechtigkeit, die Tat und Vollbringen ist, erworben? Es bleibt die Wahrheit bestehen, Christen sündigen nicht, denn die Sünde ist das Unrecht, sie ist deshalb ein Widerspruch gegen die Grundrichtung ihres Lebens.
2.
Aber sie ist auch eine Verleugnung Christi und seines heiligen Werks. „Wer da sündigt, sagt der Apostel, der hat ihn nicht gesehen noch erkannt.“ Wer ihn aber gesehen und erkannt hat und dennoch sündigt, verleugnet ihn, fällt von ihm ab. Er gleicht einem Petrus, der in der Nacht vor dem Tode des Herrn, da es auch Nacht in seiner Seele geworden war, sprach: „Ich kenne den Menschen nicht“ (Ev. Matth. 26,72). Es ist keine Sünde in Jesu Christo, und seine Jünger sollten sündigen dürfen! Er ist erschienen, dass er die Werke des Teufels zerstöre, und wir könnten sie vollbringen! Nimmermehr! Christo dienen und der Sünde dienen, beides schließt sich aus, wir können nicht zwei Herren dienen. Der Glaube an Christus und sein Werk fordert von uns, dass wir der Sünde entsagen, sonst ist er ein Lippenwerk ohne Wert, eine Selbsttäuschung ohne Wahrheit. Christus, in dem keine Sünde war, ist gekommen, um die Sünden hinwegzunehmen. Er hat die Sünden der Welt auf sich genommen, indem er unter ihnen litt. Sein Leben, Leiden, Sterben ist eine stete Erfahrung der Macht der Sünde, ein schmerzliches Erdulden ihrer Last gewesen. Alle Sünden legten sich auf seine Seele, Unglaube und Kleinglaube, Weltsinn, Heuchelei, Herrschsucht, Stumpfsinn der ewigen Wahrheit gegenüber, Leidensscheu, Hartherzigkeit, Verrat, Verleugnung, Undankbarkeit. Ihr Druck beugte ihn schwer. Als er sein Kreuz nach Golgatha trug, trug er zugleich die Sünde der Welt. Aber er trug sie nicht als Ankläger vor den Richterstuhl seines himmlischen Vaters, sondern als Hohepriester vor den Gnadenstuhl der ewigen Liebe. Er trug sie im Mitleid der Liebe, die treu ist bis zum Tode, und im Gehorsam gegen den Willen des Vaters, der auch das eigne Leben zum Opfer bringt. Er trug die Sünde aus der Welt fort. So hat er die Werke des Teufels zerstört, das Reich Gottes aufgerichtet und eine Macht heiligen Lebens erzeugt, die stärker ist als die Macht des Teufels und seines Reiches, so dass wir nicht sündigen, wenn wir in ihm bleiben.
Denn an diese Bedingung ist unser Sieg über die Sünde gebunden. Wir müssen in ihm bleiben. Ohne ihn können wir nichts tun, ohne ihn bleiben wir der Macht der Sünde unterworfen, aber in ihm werden wir geheiligt, so dass wir nicht sündigen. Er will unser Weinstock, wir sollen seine Reben werden, er will unser Haupt, wir sollen seine Glieder werden. In ihm, der alles himmlischen Lebens Quell ist, ruht unsers Lebens Kraft. Wir müssen in ihm bleiben, ihn anschauen, in ihn uns versenken, dann sündigen wir nicht. Wenn der sterbende Tobias seinen Sohn mahnt: „Dein Leben lang habe Gott vor Augen und im Herzen und hüte dich, dass du in keine Sünde willigst und tust wider Gottes Gebote“ (Tob. 4,6), so sprechen wir: Wir wollen unser Leben lang unseren Gott vor Augen und im Herzen haben, wie er sich in unserm Herrn Jesu Christo offenbart hat, dann werden wir in keine Sünde willigen und nicht wider Gottes Gebote tun.
Wir wollen Jesum Christum im treuen Gedächtnis halten, wir wollen in ihm bleiben.
Es ist eine allgemeine und eine wahre Rede: Sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, wer du bist. Die Wahl unsers Umgangs bestimmt unseren Wandel, und unser Wandel entscheidet über die Wahl unsers Umgangs. Meine Lieben! welche Kraft der Heiligung werden wir erfahren, wenn unser nächster Umgang die Verbindung mit dem Heilande, dem Sohne Gottes, ist, wenn wir uns immer aus der Vielheit der Zerstreuungen, in welche uns der Wandel und das Wirken in dieser Welt versetzt, zu ihm zurückkehren, wenn wir in der Arbeit, in der Lust und in dem Schmerz des Lebens das Wehen seines heiligen Geistes spüren, wenn wir auf allen unseren Wegen ihn zum Begleiter haben, sein heiliges Bild mit seinem Licht unsere Seele erhellt! Deshalb wollen wir bei unserm Heilande bleiben und von neuem ihm Treue geloben. Ich bin dein!
O sprich du darauf ein Amen,
Treuster Jesu, du bist mein.
Drücke deinen süßen Jesusnamen
Brennend in mein Herz hinein.
Mit dir alles tun und alles lassen,
In dir leben und in dir erblassen,
Das sei bis zur letzten Stund
Unser Wandel, unser Bund!
Lasst uns in Jesu bleiben, und wir werden nicht sündigen.
3.
Aber, meine Lieben, welche Bürgschaften haben wir, dass wir auch unser Gelübde erfüllen? Unser Wollen, unser Streben? Ach, es ist schwankend, schwach; leicht wird es vom rechten Wege abgelenkt, wenn eine starke Versuchung naht, es gleicht dem Rohre, das der Wind hin und her weht. Aber wir sollen uns auch nicht auf uns selbst verlassen, sollen nicht auf unsere eigne Kraft bauen. Der Apostel bezeugt uns: „Wer aus Gott geboren ist, der tut nicht Sünde, denn sein Same bleibt bei ihm und kann nicht sündigen, denn er ist von Gott geboren“. Christen sind von Gott geboren. Sein heiliger Geist legt in den Herzensboden der Gläubigen ein Samenkorn neuen Lebens, das keimt und wächst, sich entfaltet, Blüte und Frucht bringt. So werden wir Kinder Gottes, die ihm ähnlich sind, von seinem Geiste geleitet werden, die nicht anders können, als seinen Willen tun. Sie sündigen nicht, noch mehr, sie können nicht sündigen. Sündigen widerstreitet ihrer Natur.
Meine Teuren! Wir wissen es, die Art und Gestalt des sittlichen Lebens der Menschen ist zu einem wesentlichen Teile von ihrer natürlichen Anlage abhängig. Die Erziehung der Kinder beweist es. Die einen sind zu allem Guten geneigt, wahrhaftig, gehorsam, fleißig und treu, Eltern und Lehrer haben nur zu führen, die Kinder folgen gern. Die Erziehung ist leicht, eine erquickende Aufgabe. Aber andre Kinder sind zu allem Bösen bereit, ungehorsam, träge, unzuverlässig, lügenhaft, Eltern und Lehrer müssen strenge Zucht üben, ihre Arbeit ist ein mühseliges Werk, das unter Seufzen und Tränen vollbracht wird. Nur mit viel Geduld und nie nachlassender Treue kann der harte Boden erweicht, der sandige Grund in gutes Ackerland verwandelt werden.
Aber freilich, vor dem Auge Gottes, der heilig ist, erscheinen auch die Herzen, die willig sich seinem Geiste erschließen, dunkel und trübe, denn wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den wir vor Gott haben sollten (Röm. 3,23). Der Same der Sünde liegt in der Natur eines jeden Menschen, wächst und entfaltet sich, offenbart sich im Dichten und Trachten, in Wort und Werk. Deshalb bedürfen wir es, dass Gottes Gnade unsere Natur umschafft zur Ähnlichkeit mit sich selbst, damit auch wir heilig und vollkommen werden, wie er heilig und vollkommen ist. Dann können wir nicht anders als recht tun, dann ist es uns unmöglich zu sündigen. Aber allerdings die Umschaffung unserer Natur aus einer sündigen zu einer heiligen ist ein großes, schweres Werk, das hier auf Erden nicht vollendet wird. Es zieht sich durch unser ganzes zeitliches Leben hindurch, täglich muss der alte Mensch ertötet werden, weil er sich täglich erneut, täglich der neue Mensch gepflegt werden, weil er noch zart und schwach ist und deshalb in Gefahr steht, zu ersterben. Aber wir wissen, dass der heilige Geist ein neues Leben in uns erweckt hat, und dass er diese edle Pflanzung schützt und behütet, dass sie Blüten trage und Frucht bringe. Was die Weissagung des alten Bundes verkündet hat: „Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus euerm Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun“ (Ezech. 36,26,27), nun geht es in Erfüllung. Der heilige Geist erneuert Herz und Sinn, Wandel und Werk und lässt in uns die herrlichen Früchte reifen, welche der Apostel als Frucht des Geistes preist: „Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmut, Keuschheit“ (Gal. 5, 22). So bauen wir auf das Wirken des heiligen Geistes in uns, in seiner Kraft fassen wir unsere Entschließungen, in seiner Kraft bringen wir unsere Gelübde dar, in seiner Kraft heiligen wir uns.
Und nun, meine Freunde, noch eine Frage! Der Apostel sagt: „Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht“. Aber hat er nicht auch bezeugt: „So wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“ (1,8)? Ist er mit sich selbst in Widerspruch? Das sei ferne! Es ist beides wahr, Christen sündigen nicht, und Christen sind sündige Menschen. Christen stehen im Werden. Christus lebt in ihnen, und deshalb sündigen sie nicht. Aber Christen leben auch noch im Fleisch. Ihre sündige Natur ist noch nicht erstorben. Sie ist noch eine Macht geblieben, deren Joch sie schmerzlich empfinden, schmerzlicher, als die Kinder der Welt. Denn ihr Gefühl für alles, was Gott missfällt, ist scharf und fein geworden. So ist beides wahr, Christen sündigen, und Christen sündigen nicht. Aber es ist nicht wahr im gleichen Sinne. Die Sünde ist für den Christen ein geschlagener Feind, stark genug, um die Kraft zu neuem Kampf zu gewinnen, aber nicht stark genug, den Sieg zu gewinnen; noch nicht vernichtet, aber doch der Vernichtung entgegengehend. Sie ist ein altes, das sterben muss, der Mensch der Vergangenheit, der vergeht. Aber das Bild Christi in uns ist der neue Mensch, dem die Zukunft und die Ewigkeit gehört. Es ist heilsam für uns, nie zu vergessen, dass wir noch Sünder sind und Sünde tun, damit wir in der Demut, in der Wachsamkeit und in der Standhaftigkeit des Kampfes erhalten werden. Aber wir sollen uns auch immer vergegenwärtigen, dass Christus in uns lebt, und dass wir der Herrschaft der Sünde entnommen sind. So gewinnen wir freudigen Mut, siegesgewisse Hoffnung und sprechen mit zuversichtlichem Herzen: „Der in uns angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollführen bis an den Tag Jesu Christi“ (Phil. 1, 6).