Hofacker, Wilhelm - Am Palmsonntag.

Hofacker, Wilhelm - Am Palmsonntag.

Text: Leidensgeschichte.
Da das sahe Judas, der Ihn verrathen hatte, daß Er verdammet war zum Tode, gereuete es ihn, und brachte wieder die dreißig Silberlinge den Hohenpriestern und den Aeltesten, und sprach: ich habe übel gethan, daß ich unschuldig Blut verrathen habe! Sie sprachen: was gehet uns das an? da siehe du zu! Und er warf die Silberlinge in den Tempel, hob sich davon, gieng hin, und erhenkte sich selbst. Aber die Hohenpriester nahmen die Silberlinge, und sprachen: es taugt nicht, daß wir sie in den Gotteskasten legen, denn es ist Blutgeld! Sie hielten aber einen Rath, und kauften einen Töpfersacker darum zum Begräbniß der Pilger. Daher ist derselbige Acker genannt der Blutacker bis auf den heutigen Tag. Da ist erfüllet, das gesagt ist durch den Propheten (Jeremia), da er spricht: „sie haben genommen dreißig Silberlinge, damit bezahlet ward der Verkaufte, welchen sie kauften von den Kindern Israel; und haben sie gegeben um einen Töpfersacker, als mir der HErr befohlen hat.“ (Matth. 27, 3-10.).
Die Juden giengen aber nicht in das Richtbaus, auf daß sie nicht unrein würden, sondern Ostern essen möchten. Da gieng Pilatus zu ihnen heraus und sprach: was bringet ihr für Klage wider diesen Menschen? Sie antworteten und sprachen zu ihm: wäre dieser nicht ein Uebelthäter, wir hätten Ihn dir nicht überantwortet. Da sprach Pilatus zu ihnen: so nehmet ihr Ihn hin und richtet Ihn nach eurem Gesetze. Da sprachen die Juden zu ihm: wir dürfen Niemand tödten, - auf daß erfüllet würde das Wort Jesu, welches Er sagte, da Er deutete, welches Todes Er sterben würde. (Joh. 18, 28-32.).
Und die Hohenpriester und Aeltesten fiengen an. Ihn zu verklagen und sprachen: diesen finden wir, daß Er das Volk abwendet und verbeut den Schoß dem Kaiser zu geben und spricht: Er sei Christus, ein König (Luc. 23, 2,). Da gieng Pilatus wieder hinein in das Richthaus, und rief Jesum und sprach zu Ihm: bist du der Juden König? Jesus antwortete: redest du das von dir selbst? oder haben es dir Andere von mir gesagt? Pilatus antwortete: bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet; was hast du gethan? Jesus antwortete: mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darob kämpfen, daß ich den Juden nicht überantwortet würde; aber nun ist mein Reich nicht von dannen. Da sprach Pilatus zu Ihm: so bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme. Spricht Pilatus zu Ihm: was ist Wahrheit? Und da er das gesagt, ging er wieder hinaus zu den Juden, und spricht zu ihnen: ich finde keine Schuld an diesem Menschen. (Joh. 18. 33-38. Matth. 27, 11. Marc. 15. 2. Luc. 23, 3. 4.)
Die Hohenpriester aber und Weitesten beschuldigten Ihn hart. Und da Er von ihnen verklaget ward, antwortete Er nichts. Da fragte ihn Pilatus abermal und sprach zu Ihm: antwortest du nichts? Hörest du nicht, wie hart sie dich verklagen? Und Er antwortete ihm nicht auf ein Wort, also daß sich auch der Landpfleger sehr verwunderte. (Marc. 15, 3-5. Matth. 27. 12-14.)
Sie aber hielten an und sprachen: Er hat das Volk erreget, damit, daß Er gelehret hat hin und her im ganzen jüdischen Lande, und hat in Galiläa angefangen, bis hieher. Da aber Pilatus Galiläa hörete, fragte er, ob Er aus Galiläa wäre? Und als er vernahm, daß Er unter Herodis Obrigkeit gehörete, übersandte er Ihn zu Herodes, welcher in denselbigen Tagen auch zu Jerusalem war. Da aber Herodes Jesum sah, ward er sehr froh, denn er hätte Ihn längst gerne gesehen; denn er hatte viel von Ihm gehöret, und hoffete, er würde ein Zeichen von Ihm sehen. Und er fragte Ihn mancherlei; Er antwortete ihm aber nichts. Die Hohenpriester aber und Schriftgelehrten stunden und verklagten Ihn hart. Aber Herodes mit seinem Hofgesinde verachtete und verspottete Ihn, legte Ihm ein weißes Kleid an, und sandte Ihn wieder zu Pilato. Auf den Tag wurden Pilatus und Herodes Freunde mit ein, ander; denn zuvor waren sie einander feind. (Luc. 23, 5-12,)
Pilatus aber rief die Hohenpriester und die Obersten und das Volk zusammen, und sprach zu ihnen: ihr habt diesen Menschen zu mir gebracht, als der das Volk abwende. Und siehe, ich habe Ihn vor euch verhöret, und finde an dem Menschen der Sachen keine, deren ihr Ihn beschuldiget; Herodes auch nicht; denn ich habe euch zu ihm gesandt, und siehe. man hat nichts auf Ihn gebracht, das des Todes werth sei. Darum will ich Ihn züchtigen und loslassen. (Luc. 23, 13-16.)

Die Passions-Geschichte, welche in der heute angebrochenen stillen Woche ausschließlich unser Nachdenken beschäftigen, und die denkwürdigste aller Geschichten an unserem geistigen Auge abermals vorüberführen soll, hat der belehrenden und der anziehenden Seiten so viele, daß der nachdenkende Geist wieder und immer wieder vor diesem reichen und großartigen Gemälde stehen bleiben, und stets neue Wahrheiten, neue Tröstungen, neue Ermunterungen, neue Schätze der Gnade und Wahrheit, der Erkenntniß und Weisheit daraus schöpfen kann. Freilich, es ist ein großer Unterschied mit welchem Geistesauge man diese denkwürdigen Vorgänge anschaut; es ist ein Unterschied, ob man sie mit dem matten Blick des natürlichen Verstandes, oder mit den erleuchteten Blicken einer für die Geheimnisse des Glaubens aufgeschlossenen Seele ansieht. Viele bleiben dabei gleichsam nur im Vorhof des Heiligthums stehen; sie sehen hier nichts, als einen Schauplatz menschlicher Leidenschaften, satanischer Bosheit, schauderhafter Verworfenheit, weichlicher Nachgiebigkeit, und den Sieg der Ungerechtigkeit über einen Märtyrer der Wahrheit. Und wer wollte leugnen, daß auch dieß hier zu sehen und zu betrachten ist? denn die Passions-Geschichte ist eine Welt-Geschichte im Kleinen; die Welt erscheint da, wie sie ist, ohne Schminke, ohne Verhüllung, in ihrem nichtigen, eiteln und freventlichen Treiben. Aber der Mittelpunkt der Passions-Geschichte ist dieß doch nicht. - Deßwegen gehen andere weiter; sie treten dem Heiligthum näher; sie fassen Christum in's Auge, wie Er als der große Dulder und Kämpfer uns ein Vorbild gelassen hat, daß wir sollen nachfolgen seinen Fußtapfen. Sie machen aufmerksam auf die edle Haltung, die Er überall bewiesen, auf die Hoheit und Majestät, mit welcher Er von seiner Sohnes- und Königs-Würde gezeuget, auf den sanftmüthigen Demuthssinn, den Er unter allem Leiden an den Tag gelegt, und auf die siegreiche Standhaftigkeit, mit der Er bis zum letzten Hauch sich umgürtet hat. Und wer wollte leugnen, daß auch dieß hier zu sehen und zu betrachten ist? wenn irgendwo in seinem Leben, so gewiß in seinem Leiden strahlt die Herrlichkeit des Sohnes Gottes im schönsten und herrlichsten Licht, und wenn irgendwo, so muß man bei der Passions-Geschichte ausrufen: hier ist mehr, als ein Mensch, mehr als ein Prophet, hier ist der Sohn Gottes selbst, der Erstling aller Kreaturen; die Krone und der Stern der ganzen Schöpfung. - Aber auch hiemit können wir uns nicht begnügen. Wir müssen noch weiter gehen, wir müssen hineintreten in das Allerheiligste der Leidens - Geschichte und in diesem Allerheiligsten sehen wir da einen Versöhnungs-Altar aufgerichtet, und ein Opfer dargebracht, das unser Herz zu staunender Bewunderung und flammender Anbetung hinreißt. Hier sehen wir dann in Christo den ewigen Hohepriester, der unsere Schuld getragen, in das Zorngericht des heiligen Gottes hineingetreten, seine bittere Schale getrunken, und eine ewige Erlösung gestiftet hat. Da sehen wir dann nicht mehr blos den irdischen Gerichtsstuhl eines Pilatus; wir gewahren das ewige Tribunal des heiligen Gottes. Da sehen wir nicht mehr blos menschliche Verkehrtheit, satanische Bosheit, - da sehen wir vielmehr, wie unsere Sünde Ihn geschlagen, wie unsere Missethat Ihn verwundet; da sehen wir nicht mehr blos die Werkzeuge der Arglist, der Schlechtigkeit, der Leidenschaft, die Ihn mit Schmach und mit Schmerz überhäuften, - da erkennen wir in ihnen nur die Repräsentanten der ganzen Menschheit, unter deren Giftpfeilen Christus gelitten, durch deren Schuld Christus an's Kreuz geheftet wurde.

Und damit erst sind wir beim Mittelpunkt der Passions-Geschichte angekommen: hier strömen dann erst die rechten Friedensquellen, die unfern dürstenden Geist zu laben vermögen; hier gewahren wir erst die rechten Heils - Fundamente, auf welchen unsere Seligkeit ruht; hier sprossen erst die rechten Frühlings-Blumen einer göttlichen Erkenntniß, deren Duft unfern Geist erquickt im Leben und Sterben. Von dieser Seite wollen wir auch jetzt unser Augenmerk auf die Vorgänge unseres heutigen Passions-Abschnittes richten, und zum Gegenstand unserer Betrachtung machen,

Jesus Christus, das Lamm Gottes, das aller Welt Sünden getragen hat;

und zwar geben wir

  1. zuerst einen Beweis, daß Christus aller Welt Sünde getragen hat;
  2. sodann fragen wir nach der Ursache, warum Er sie getragen hat;
  3. Und dann endlich nach der Absicht, um welcher willen Er sie getragen hat.

O Lamm Gottes unschuldig,
Am Stamm des Kreuzes geschlachtet,
Allzeit erfunden geduldig,
Wiewohl du warest verachtet!
All Sünd‘ hast du getragen,
Sonst müßten wir verzagen. -
Erbarm dich unser, o Jesu!

Amen.

I.

Daß Jesus Christus das Lamm Gottes war, das aller Welt Sünde zu tragen hatte, davon hat man in unserem heutigen Passions-Abschnitt ein recht anschauliches und lebendiges Gemälde vor sich. Die ganze, damals in Jerusalem befindliche Welt nach ihren verschiedensten Abstufungen und Klassen trat ja an jenem Tage zusammen, um Ihn zur Zielscheibe ihres Angriffs und ihrer Verfolgung zu machen; es fehlte wirklich kein einziger Stand, kein einziges Alter, keine einzelne Menschen-Klasse, die nicht gewetteifert hätte, auch ihren Beitrag zu liefern, um mit ihren Sünden und Freveln das Leidensmaaß des Heiligen in Israel voll zu machen; von oben bis unten und von unten bis oben nahm auch wirklich die ganze Bevölkerung von Jerusalem Theil an diesem furchtbaren Mord- und Verfolgungs-Geschäft. Juden und Heiden, König und Unterthanen, Civil- und Militär - Behörden, Befehlshaber und Soldaten, weltliche und geistliche Beamte, Ungläubige und Jünger, - alle waren geschäftig, die Sünden ihres Standes gegen Christum den Angriff eröffnen und an Ihm sich erschöpfen zu lassen. Da war ein Herodes, der, mit einem Propheten-Mord auf dem Gewissen, nichts besseres zu thun wußte, als den Heiligen Gottes dem Hohngelächter seines frechen Hofgesindes preiszugeben; da war ein Pilatus, der aus Menschenfurcht und aus Menschengefälligkeit seine Amts- und Richter-Pflicht mit Füssen trat; da war eine Soldatenhorde, die ihr Müthlein an einem Wehrlosen sich kühlen ließ; da war ein Priester-Geschlecht, das durch Heuchelei und Arglist sein Heiligthum mit Schmach bedeckte, da war ein Volk, das durch Aufreizung und künstliche Bearbeitung zur Verstoßung seines Retters sich fortreissen ließ; da war ein Pöbel, der in unsinniger Mordlust einmal über das andere: kreuzige, kreuzige, rief; da war endlich ein Jünger, der um ein Paar armselige Silberscherben seinen HErrn und damit seine Seligkeit verkaufte; kurz, alle Stände, alle Klassen, alle Aemter hatten sich an jenem Tage vereinigt, um mit ihren Freveln wie Bluthunde auf Jesus sich zu stürzen und Ihn zu zerfleischen und zu verwunden.

Ja, man kann noch weiter gehen. Alle jene verblendeten Werkzeuge, die damals gegen Christum wütheten, waren nur die unwillkürlichen und unbewußten Repräsentanten, die die Menschheit an jenem verhängnißvollen Tage nach Jerusalem geschickt hat, um in ihrem Namen ihre Sünde auf Christum zu häufen und mit ihrer Uebertretung Ihn zu bedecken. Was unsere Brüder nach dem Fleisch an jenem Tage gegen Jesus gefrevelt haben, das haben wir in ihnen mitgefrevelt; was unser Geschlechts- und Standes-Genosse an jenem Tage gegen Jesus unternommen und gesündigt hat, das hat unsere Sünde mit unternommen und mitgesündigt; und womit jene die heilige Seele Christi betrübt, geängstigt, gemartert und gepeinigt haben, das hat unsere Sünde mit verübt; denn alle jene Sünder und Frevler sind nur gleichsam die Verderbensblüthen am giftigen Menschheits-Baume gewesen, an dem wir so gut wie sie die mitschuldigen Zweige sind; die Riesenschuld ist auf alle Köpfe zertheilt. - Die Menschheit ist Ein Ganzes; was deßwegen einzelne ihrer Mitglieder gegen Christum verübten, das ist zugleich Gesamtschuld Aller.

Kein einziger darf und kann sich deßwegen ausreden, er habe keinen Theil am Leiden und Tode Christi; du magst deßwegen einem Stande und einem Alter und einer Körperschaft angehören, welcher du willst, so mußt du an deine Brust schlagen, und sprechen: auch ich habe an dem Heiligen Gottes mitgefrevelt; magst du ein König oder ein Unterthan, magst du ein Geistlicher oder ein Weltlicher, magst du eine bürgerliche- oder eine Militär-Person sein, magst du selbst ein Gläubiger oder Ungläubiger sein, du hast gegen Christum mitgesündigt und mitgefrevelt; auch deine Uebertretung hast du auf Ihn geworfen und mit deiner Schuld hast du Ihn belastet. Ja man kann noch weiter gehen. Alle Sünden sogar, die es nur gibt auf dem weiten Erdenrunde, alle Uebertretungen, die nur gefunden werden in der ganzen Menschheits-Geschichte, alle haben an jenem Tage ihren Stachel gegen Christum gewendet, alle wurden gleichsam ausgepreßt, um den Wermuthsbecher einzuschenken, den Er an jenem Tage bis zur Neige trinken mußte. Rohheit und Grausamkeit, Zorn und Rachsucht, Hochmuth und Gottesvergessenheit, Niederträchtigkeit und Verschmitztheit, Gleißnerei und Heuchelei, Neid und Mißgunst, Geiz und Habsucht, Haß und Feindschaft, Lüge und Meineid, Mordlust und Schadenfreude, Verrath und Undank, Menschenfurcht und Menschengefälligkeit, Feigheit und Amtstreubruch, kurz alle Sünden, die feinsten und die gröbsten, die geheimsten und die offenbarsten, die erdachtesten und die plumpsten wurden an jenem Tage unter die Waffen gerufen. Das Zeughaus des Teufels wurde an jenem Tage förmlich geleert, um alle Geschosse der Bosheit und der Sünde gegen Ihn zu richten und Ihn von denselben getroffen darniederzuwerfen. Er mußte nicht blos aller Welt Sünde, sondern auch alle Sünden der Welt tragen und auf sich nehmen. Und deßwegen findet auch ein nachdenkender und bußfertiger Sünder in allen jenen Vorgängen am Charfreitag nichts anders, als den furchtbaren und grellen Widerschein seiner eigenen Sünde. In den damals losgelassenen Leidenschaften erkennt er seine eigenen Leidenschaften, in ihrem Zorn seinen eigenen Zorn, in ihrem Christushaß seinen Christushaß, in ihren Lügen und in ihrem Geschrei die Sünde seiner eigenen Zunge; deßwegen erkennt er im Geize eines Judas seinen eigenen Geiz, in der Achselträgerei eines Pilatus sein eigenes Hinken auf beiden Seiten, in der Verleugnung Petri seine eigene Christus - Verleugnung; und wenn auch diese Sünden durch Gottes Gnade zum Theil erst nicht einmal zum Ausbruch bei ihm gekommen waren, - in sich entdeckt er die Wurzel und die Anfänge zu allen, und mit Wehmuth schlägt er an seine Brust und spricht:

Ach ich und meine Sünden,
Die sich so zahlreich finden,
Als wie der Sand am Meer,
Die haben dich geschlagen,
Die brachten diese Plagen
Und diese Martern auf dich her.

Hier, im Spiegel der Leiden Christi kann auch das blödeste Auge erkennen, was im Menschenherzen steckt; im Abgrund der Bosheit und Schalkheit, der so furchtbare Sünde ausschäumt, kann man den Abgrund entdecken, der in uns selber brandet und woget, und in jenem Getümmel der Leidenschaften, das die Luft mit Geschrei und Lärm erfüllte, kann man das Getümmel erkennen, das in uns selber so laut und leidenschaftlich sich zu vernehmen gibt. Kurz, die Geschichte Israels an jenem Tage ist die Geschichte unseres eigenen Herzens und die Erzählung von unserer eigenen Schuld, und es ist Wahrheit: Christus ist das Lamm Gottes, das aller Welt Sünde und alle Sünden der Welt zu tragen bekam; und durch diese Erkenntniß schmilzt dann die Eisrinde der Herzenshärtigkeit; durch diese Erkenntniß bricht die eiserne Ader der Selbstgerechtigkeit, da weicht der Flitter der Hoffarth, da zerstäuben die Vorspiegelungen der Eigenliebe; reumüthig und demüthig sinkt man in die Kniee, und schämt sich nicht mehr, unter den verworfenen Sündern und Mördern erfunden zu werden, die Christum gepeinigt und gemartert haben; und wohl dem! das eben ist der Weg, wie der HErr der Seele die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen läßt mit dem Heil unter ihren Flügeln und sich als den ihr erweist, der die Gottlosen gerecht macht, die Sünder begnadigt, und seine Feinde Mit Barmherzigkeit krönet. Und dieß ist eben der Punkt, der uns zu unserem zweiten Theil hinüberleitet. Da gesteht man dann ein: ich bin nicht besser, als sie waren; - was sie sagten und thaten, das gährt auch in meinem Herzen.

II.

1) Wenn wir nun weiter fragen, warum denn auf diese Weise nicht nur die ganze Welt sich an Christo versündigt habe, sondern warum auch alle Sünden und Uebertretungen der Welt ihren Stachel an Ihm versucht und ihre Kraft an Ihm erschöpft haben, so ist die Antwort: das ist vom HErrn geschehen, und ein Wunder vor unsern Augen. Aber es ist geschehen nach dem vorbedachten Rath Gottes, auf daß wir Friede hätten, und durch seine Wunden geheilt würden.

Hätte Christus die Sünden Eines Standes, Einer Menschen-Klasse, Eines Alters nicht getragen, so wäre hiemit dieser Stand, diese Menschen - Klasse ausgeschlossen vom Reiche Gottes und ferne von der Bürgerschaft des geistigen Israels; und hätte an Christus nur Eine Sünde ihren Stachel nicht versucht, so wären ebendamit alle diejenigen, die diese einige Sünde begangen haben, ohne Trost, ohne Hoffnung, ohne Vergebung, sie müßten im Todesfluch dieser Sünde liegen bleiben in Ewigkeit. Ja wir müssen die Weisheit Gottes bewundern, die es so zu fügen und zu leiten wußte, daß auch nicht Eine Sünde zurückgeblieben ist, die nicht auf Christum sich geworfen, und wie eine Hornissenbrut Ihn verwundet und gemartert hat; dadurch eben hat Er auch eine vollkommene Versöhnung gestiftet, so daß am Lösegeld, das entrichtet werden mußte, kein Pfennig, kein Scherflein zurückgeblieben ist, das noch nachzuholen wäre. Du magst deßwegen das große Schuldbuch der Menschheit durchgehen vom Könige herab bis zum gemeinsten Bettler, ja du magst dein eigenes Sündenregister durchblättern vom Anfang deines Lebens an bis auf diesen Augenblick, du wirst keine Schuld, keine Sünde finden, die nicht ihre Bezahlung und Löschung gefunden hätte im Blute des Lamm's, das mit unserer Sünde belastet, gemartert und gepeinigt den Weg zur Schlachtbank zurückgelegt hat ohne Murren und Zagen. Ja alle deine Sünden, die Sünden vor der Bekehrung und nach der Bekehrung, deine Sünden bei Nacht und bei Tag, deine Sünden in Gedanken und in der That, in Wort und in Gebärden, in der Verborgenheit und vor der Welt, deine Sünden vom schwächsten Versuchungshauch bis hinauf zur schwindelnden Höhe des Vorsatzes und der Ausführung, - sie sind nicht zu groß, zu viel, zu schrecklich, daß sie dir nicht vergeben werden könnten um Christi willen, du darfst nicht vor ihnen erschrecken und erzittern, du darfst nicht wähnen, als ob die Versöhnungs-Gnade zu klein und zu schwach wäre, um sie zu decken und zu tilgen, - nein!

All Sund' hat Er getragen,
Sonst müßten wir verzagen.

Alle Sünden hat Er getragen; auch die Sünde, die dich am schwersten kränkt, auch die Uebertretung, die dich am schmerzlichsten verwundet, auch die Schuld, die am gewichtigsten auf dir lastet, auch die Missethat, die dir die heissesten Thränen entlockt, auch diese kann vergeben werden, auch über diese kannst du zum Frieden und zur Ruhe kommen, auch sie hat der HErr aus den Mitteln gethan, auch ihren Fluchbrief hat Er zernichtet, und an sein Kreuz geheftet, auch dafür eine ewige Erlösung gestiftet. Suche Jesum zu gewinnen, trachte in Ihm erfunden zu werden, ringe einzudringen in die Gemeinschaft seines Todes und seines Lebens; fasse Ihn beim Saum seines Gewands mit Weinen und mit Flehen, und rufe:

Sich her, hier lieg ich Armer,
Der Zorn verdienet hat;
Gib mir, o mein Erbarmer,
Den Anblick deiner Gnad.'

Du wirst dann erfahren, daß nichts Verdammliches an denen mehr haftet, die in Christo Jesu sind, daß Niemand sie beschuldigen, Niemand sie verdammen darf, dieweil Christus da ist, der gestorben ist; ja, wie sie dort den HErrn von Herodes wegschickten mit einem weißen Mantel zum Spott und zum Hohn, so wird Er dich selber, entlassen mit dem weißen Ehrenkleid seiner Gerechtigkeit, gekleidet in die reinen Linnen seiner Unschuld und dich darstellen vor das Angesicht seines und deines Vaters unsträflich und untadelich zum Preise seines ewigen und unvergänglichen Priesterthums.

2) Christus hat alle Sünden getragen und alle unsere Schulden getilgt. Diese Wahrheit muß auf gutem und ewiggültigem Fundamente ruhen, wenn unser Gewissen zum Frieden und unser Herz zur Ruhe kommen soll; denn der Glaube bedarf ihrer in den heißesten Kämpfen und in 'den erschütterndsten Anfechtungen. Wo an diesem Fundamente gerüttelt wird, da kann es zu keinem Frieden des Gewissens und keiner Ruhe der Seele kommen. Kein einziger Sünder könnte sich zur Bekehrung anschicken, wenn diese Zuversicht nicht wenigstens als eine stille Hoffnung in seiner Seele läge, oder aus dem Gewirre aller seiner Labyrinthe immer wieder auf's Neue die Hoffnung ihm entgegen käme: all' deine Sünde wird dir vergeben, alle deine Schuld getilgt werden. Er würde unter dem Todesbann seiner Sünde fortwandeln, er würde seine Flucht vor dem heiligen Gott fortsetzen, er müßte sich verzehren in der Unruhe seines Innern, wenn er sich nicht selber zurufen dürfte:

All' Sünd' hat Er getragen,
Drum darfst du nicht verzagen;
Erbarm' dich meiner, o Jesu!
Gib mir deinen Frieden, o Jesu!

Es würde auch kein einziger Sünder durch die enge Pforte der Bekehrung in's Reich Gottes eindringen, wenn nicht aufrichtend und tröstend der Glaube ihm Vorschub thäte an das allgenugsame Versöhnungsopfer Jesu Christi. O durch welch' ein scharfes Gericht geht es meistens, wenn das Gewissen recht aufwacht, wenn seine Stimme uns verklagt, wenn das Geschrei des großen Sündenhaufens, das wider uns aufsteht, überhandnimmt; wie Pilsen schießen da aus dem aufgelockerten Boden unseres erwachenden Gewissens Sünden und Uebertretungen auf, und sie wachsen uns über das Haupt, und auf der weiten Sandwüste unseres vergangenen Lebens müßten wir elend verschmachten, wenn der Quell des Friedens sich nicht vor uns aufthäte, aus dem wir schöpfen dürfen Gnade um Gnade. Ja im Tode selber, wo das ganze vergangene Leben mit seinem richterlichen Ernste an unserem brechenden Auge vorüberzieht, wo die Wagschale des ewigen Heiligthums aufgehoben und wir darauf nach unserem wahren und ewigen Werth gewogen werden, - o wir müßten da alle zu leicht erfunden werden, und federleicht mit unserem Werth in die Höhe steigen, wenn nicht das theure Blut Jesu Christi, in unsere Wagschale gelegt, der Schale des Gerichts das Gleichgewicht hielte; und selbst im ewigen Gerichte würden wir vor dem Sonnenauge des Heiligen und Wahrhaftigen nackt und bloß erfunden, wenn nicht seine Gerechtigkeit uns schmückte, sein Ehrenkleid uns zierte und sein ewiges Mittler- und Priester-Amt uns verträte.

So viel, meine Lieben, hängt davon ab, daß Christus alle Sünde getragen, und alle Schulden getilgt hat. Und es ist wahr, was jener Dichter sagt:

Ach mein HErr Jesu, wenn ich dich nicht hätte,
Und wenn dein Blut nicht für die Sünder red'te,
Wo sollt' ich Aermstes unter den Elenden,
Mich sonst hinwenden?

Und deßwegen ist das Evangelium der Charwoche ein so großes und herrliches Evangelium, das die Kranken gesund, das die Verwundeten heil, das die Traurigen fröhlich, das die Zagenden getrost, das die Schwachen kräftig, das die Sünder gerecht, das die Elenden herrlich machen kann durch die überschwängliche Barmherzigkeit dessen, der alle Sünde getragen hat, und dadurch Allen, die Ihm gehorsam sind, eine Ursache geworden ist ewiger Seligkeit. Ja, deßwegen darf auch das Amt, das die Versöhnung predigt, in dieser Woche mit besonderer Freudigkeit auf die Zinne der Verkündigung treten und sprechen: kommt zur Hochzeit, es ist Alles bereit;

Gott ist versöhnet, die Sünde getödtet,
Weilen dieß Blut in dem Himmel jetzt redet.

III.

Aber nun noch die letzte Frage: welches ist die Endabsicht, um derentwillen Christus als das Lamm Gottes aller Welt Sünde getragen hat? Laßt mich darauf mit den Worten des Apostels Paulus (Tit. 2, 14.) antworten: auf daß Er uns erlösete von aller Ungerechtigkeit, und sich selber reinigte ein Volk, das fleißig wäre zu guten Werken.

Die letzte Endabsicht seiner Leiden und seines Sterbens ist unsere Erlösung von allen Stricken und Banden der Sünde, unsere Reinigung von allen Flecken und Gebrechen und unsere Darstellung vor das Angesicht des Vaters, als einer Gemeinde, die nicht hätte einen Fleck oder irgend eine Runzel, sondern die heilig und unsträflich vor Ihm wäre in der Liebe (Eph. 5, 27.). Deßwegen dringt der HErr auch in unserem Passions-Abschnitt so sehr darauf, daß Er ein König sei und dazu geboren und in die Welt gekommen sei, von dieser Wahrheit zu zeugen. Christus ist ein König, und obwohl Er dort stand auf Gabbatha, und alle seine Unterthanen waren im Aufruhr und in der Empörung gegen Ihn begriffen, und riefen: wir haben keinen König, denn den Kaiser; obgleich keine Stimme sich für Ihn erhob, kein Fürwort für Ihn gut sprach, so hat Er sich doch gerade dadurch erkauft ein Volk zu seinem Eigenthum, das fleißig ist zu guten Werken, das Ihm nach seinem Sieg williglich opfert im heiligen Schmuck (Psalm 110, 3.). Wo ein König ist, da ist auch ein Volk, ein Volk des Eigenthums. Christus hat ein Volk, unter dem Er wandelt, ein Volk, das Er regiert, ein Volk, das Er beglückt und beseligt, ein Volk, das Ihm huldigt, ein Volk, das seine Stimme hört, ein Volk, das Ihm lebt und Ihm dient, und getreu ist bis zum Tod. Dieses Volk ist zerstreut durch alle Lande und durch alle Zeiten, es hat keine Gleichheit der Sprache, und an der Gleichheit der Bekenntnisse fehlt noch Mancherlei; aber Er kennt sie an Einem, an dem entschiedenen Haß gegen die Sünde, die ihr König getödtet, an dem heiligen Eifer, zu verkündigen die Tugenden deß, der sie berufen hat aus der Finsterniß zu seinem wunderbaren Licht (1. Ptr. 2. 9.). - Gehörst du, lieber Zuhörer, zu diesem Volk? Du gehörst dazu, wenn du aus der Wahrheit bist und hörst seine Stimme; du gehörst zu Ihm, wenn du mit der Sünde gebrochen, und unter seine Fahne dich gestellt hast; du gehörst zu Ihm, wenn du der Welt den Rücken kehrst, und seine Schmach höher achtest, als die Schätze Aegyptens; du gehörst zu Ihm, wenn du dein Kreuz auf dich nimmst, und Menschen-Tage nicht achtest; du gehörst zu Ihm, wenn du den HErrn liebst, und die Sünde hassest, wenn du dem HErrn dienst, und die vergängliche Lust dieser Welt fliehst.

Wer wirklich zu Ihm und seinem Volk gehört, der gehört Ihm an mit dem Herzen, mit dem Munde, mit der That; Er will Christo leben, Ihm dienen, Ihm sterben; Christus ist sein Leben und Sterben ist sein Gewinn.

Darnach erforsche dich, prüfe dich und sieh zu, ob du auf rechtem Wege bist, und laß dich leiten auf ewigem Wege. Denn, wie der Apostel sagt (2 Timoth. 2, 19.): der feste Grund Gottes bestehet und hat folgendes Siegel: der HErr kennet die Seinen; und: es trete ab von der Ungerechtigkeit, wer den Namen Christi kennet.

Amen.

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