Hofacker, Ludwig - Predigt am vierten Sonntage nach dem Feste der Erscheinung

Hofacker, Ludwig - Predigt am vierten Sonntage nach dem Feste der Erscheinung

Von der großen, bedenklichen, schweren Rechenschaft, die wir an dem Gerichtstage Gottes ablegen müssen wegen der Versäumnisse der Liebe zu unsern Brüdern.

Text: Röm. 13,8-10.

Seyd Niemand nichts schuldig, denn daß ihr euch unter einander liebet; denn wer den Andern liebet, der hat das Gesetz erfüllet. Denn das da gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht tödten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugniß geben; dich soll nichts gelüsten; und so ein ander Gebot mehr ist; das wird in diesem Wort verfasset: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. Die Liebe thut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.

Als der Heiland einmal gefragt wurde: welches das vornehmste Gebot im Gesetze sey? sagte Er: „du sollst lieben Gott, deinen HErrn, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüthe. Dieß ist das vornehmste und größeste Gebot. Das andere ist dem gleich: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. In diesen zweyen Geboten hanget das ganze Gesetz und die Propheten.“ Unter allen Lügen, welcher der Vater der Lügen aufgebracht hat, ist eine der größesten, schädlichsten, am meisten um sich fressenden die Lüge, daß man sich mit einer todten Erkenntniß Gottes und JEsu Christi begnügen zu dürfen glaubt; daß man wähnt, es sey nicht so hoch nöthig, daß man ein Thäter des Wortes sey, und die Liebe durch Handlungen, Gedanken, Worte und Werke ausübe. Es wird an dem Tage des Gerichts eine große Rechenschaft geben über die Versäumnisse der Liebe an unsern Brüdern. Indem ich diesem nachdenke, will ich heute zu eurer und meiner Erbauung und Ermunterung mit euch reden

von der großen, bedenklichen, schweren Rechenschaft, die wir an dem Gerichtstage Gottes ablegen müssen wegen der Versäumnisse der Liebe zu unsern Brüdern.

O Gottes Sohn, Herr JEsu Christ! Du weißest es weit besser als wir, daß Glauben ohne Liebe ein leeres Geschwätz ist, daß der rechte Glaube in Liebe thätig seyn muß. Erwecke uns nun, daß wir mit Ernst betrachten Dein Hauptgebot der Liebe; laß uns in dieser Stunde ermuntert werden, Barmherzigkeit und Liebe zu beweisen an unsern Brüdern. Amen!

Ich vermuthe, es werden Manche, vielleicht nicht Wenige, unter uns seyn, die da meinen, das, wovon ich nun zu reden im Begriffe bin, möchte sie nicht treffen; Manche, die sich selbst ein gutes Zeugniß von ihrer Nächstenliebe zu geben wagen; Manche, die selbst an dem großen bedenklichen Rechenschaftstage, an welchem die große Auseinandersetzung der Schulden vorgenommen wird, und diejenigen, welcher Schulden nicht allesammt ausgelöschet und getilgt sind in dem Blute des Lammes, vor dem Angesichte Dessen, der auf dem Stuhle sitzt, nicht werden bestehen können, sondern fliehen müssen, - ich vermuthe, es werden manche unter uns seyn, die selbst an diesem großen Rechenschaftstage mit ihrer Liebe, deren sie sich rühmen, werden hoffen auszureichen, ja die noch gar einen rechten Lohn erwarten. Da gibt es Menschen, die etwa eine gute Erziehung genossen und gehört haben, welch' ein reines Vergnügen es gewähre, wenn man hie und da eine Thräne trockne, und den Dank von Nothleidenden, welchen man Hülfe geleistet habe, einernte; oder Menschen, die sich eine rechte Summe von Liebeswerken auf den zukünftigen Vergeltungstag sammeln wollen, um eine recht hohe Stufe der Seligkeit zu ersteigen; oder Menschen, die da wünschen, den Namen als Wohlthäter der Menschheit oder als Menschenfreunde zu besitzen; oder Leute, die in Wollust leben und in Schwelgerey, und welchen das Gewissen keine Ruhe läßt, wenn sie ihre nothleidenden Brüder sehen; oder Leute, die gesund sind, und in ihrem Gesundheitsgefühle auch Andern etwas Gutes thun; die von Natur eine gewisse Heiterkeit und Aufgereimtheit des Gemüths an sich haben, die deßwegen freundlich sind, die ein schwaches Herz haben, und können Niemand etwas abschlagen, oder was für Triebfedern noch im Spiele seyn mögen, kurz, die hingehen, hin und wieder etwas hergeben von ihrem Ueberflusse, und da und dort eine Noth damit stillen. Das nennen sie Liebe; damit meinen sie sich Schätze für die Ewigkeit zu sammeln; das nennen sie Tugend; damit meinen sie auszureichen auch vor den Augen Dessen, der auf das Herz siehet, der Augen hat wie Feuerflammen, der in das innerste Leben und in die innersten Triebfedern des Geistes, und in das innerste Gewebe der Gedanken, wohin wir selbst nicht sehen, hineindringen kann, vor dem die dichteste Finsterniß und jeder Heuchelschein da liegt wie der helle Mittag. So lange freilich ein Mensch gesund und wohl ist; so lange er in äußerem Wohlstande lebt; so lange man ihn nur betrachtet, wie er sich außerhalb seiner täglichen Umgebungen, außerhalb dem, was täglich in seinem eigenen Hauswesen für Anlässe und Beschwerlichkeiten und Verdrießlichkeiten vorkommen, wie er sich bey dieser oder jener Gelegenheit benimmt, wo er ein gutes Werk vollbringt: so lange kann man freilich glauben, ein solcher Mensch habe viele Liebe; aber ist es denn nicht leidige Erfahrung, daß oft gerade solche Menschen in ihrem eigenen Hauswesen, namentlich gegen ihre Untergebenen, mürrisch, ja oft fast unerträglich und tyrannisch sind? Ist es denn nicht traurige Erfahrung, daß oft gerade solche Menschen nur da Barmherzigkeit üben, wo sie mögen, im Uebrigen aber oft wahrhaft roh und grausam sind, ihren Brüdern ihre Fehler gegen sie nicht vergeben, oder wenn sie es auch zuweilen thun, sich oft leicht ermüden lassen, und die Geduld verlieren und fragen mit Petrus: „HErr, ist's genug sieben Mal?“ Und doch geht man in dem eitlen Wahn dahin, daß man Nächstenliebe übe, und will nicht nur vor den Menschen, sondern vor dem allwissenden Gott, dem Herzenskündiger, als Einer gelten, der Nächstenliebe habe, und täuscht sich selbst bis in den letzten Athemzug hinein, und geht ganz ruhig und mit dem Bewußtseyn, den Willen Gottes in dieser Welt vollbracht zu haben, hinüber in die Ewigkeit vor den Thron Dessen, der alle Werke wird an's Licht bringen, und wird den Rath der Herzen offenbaren, vor welchem den Heuchlern ihr zerrissenes Tugendkleid herunterfallen, und die Schande ihrer Blöße offenbar werden wird. Man hat ja die Ehe äußerlich nicht gebrochen; man hat Niemand todt geschlagen; man hat nicht gestohlen; man hat keinen falschen Eid geschworen; man ist niemals vor Gericht verklagt worden wegen einer offenbaren Ungerechtigkeit; man hat also dem Nächsten gegeben, was des Nächsten ist; man konnte keinem Thier wehe thun: darum hat man das Gesetz erfüllt, und kann ruhig aus der Welt gehen zum großen Offenbarungstage, wie man meint, und nicht bedenkt, daß man sein Lebenlang ein eigenliebiges, hochmüthiges, eigensinniges Geschöpf gewesen ist, das so tief in der Finsterniß lag, daß es nicht einmal wußte, was Liebe heißt.

Darin besteht die Liebe nicht, liebe Zuhörer, daß man den Nächsten ungekränkt läßt an seiner Ehre, an seinem guten Namen, an seinem Leben, an seinem Vermögen; wiewohl, wer sich selbst darüber redlich prüft, der wird finden, daß er auch in diesem Stücke schuldig sey. Aber das ist noch nicht die Liebe, die der Apostel in unserer Abend-Lection des Gesetzes Erfüllung heißet. O wie Vielen, die da meinen, das Gesetz erfüllet zu haben, wenn sie ihrem Nächsten nichts Böses gethan haben, wird an dem großen Tage der Offenbarung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilandes JEsu Christi aus dem Munde des Richters als eine in die unselige Ewigkeit hinein verweisende Donnerstimme entgegen tönen: „ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeist; ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt; ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet; ich bin krank gewesen, und ihr habt mich nicht besucht; ich bin gefangen gewesen, und ihr seyd nicht zu mir gekommen.“ Oder sind wir etwa damit zufrieden bey uns selber, wenn uns nichts Böses geschieht? Wünscht nicht unser Herz, daß uns Gutes und Barmherzigkeit folge unser Leben lang? Ist es also genug, reichen wir aus vor dem Angesichte des allwissenden Gottes, wenn wir Dem, den wir lieben sollten als uns selbst, nichts Böses gethan haben? Richtet selber: könnten wir von der Liebe Christi predigen und rühmen, wenn Sein ganzes Verdienst um uns sich bloß darauf beschränkte, daß Er uns nichts Böses gethan hat, ob Er gleich mehr Ursache gehabt hätte, uns Böses zu thun, als wir Ursache haben, unsern Brüdern zu schaden, Er, der Reine, der Heilige den Unreinen und Sündern? Aber Er that uns Gutes, Er that an uns Barmherzigkeit; Er sah über alle unsere Mängel und Sünden und Schulden hinaus, und that Etwas an uns, was in Ewigkeit der Gegenstand der Anbetung und des Dankes des ganzen Himmels und der ganzen unzählbaren Schaar Seiner Erlösten seyn wird.

Darin besteht die Liebe auch nicht, daß wir nur denen, die uns gewogen sind, wohlwollen, ob man gleich oft ein großes Rühmen davon macht, wenn ein Mensch in freundlichem Vernehmen mit seinen Hausgenossen und Freunden steht. So ihr liebet, die euch lieben, was thut ihr Sonderliches? Die wahre Liebe umfaßt die ganze Welt, betet für die ganze Welt; von ihr ist kein Mensch, keine Kreatur ausgeschlossen! das Wohl oder Wehe ihrer Mitmenschen ist ihr Wohl oder Wehe; sie weint mit den Weinenden, und freut sich mit den Fröhlichen; sie übt Barmherzigkeit an den größten Sündern, ja an ihren Feinden; denn sie liebet die Feinde, wie Christus sie geliebet hat, wie Er uns geliebet hat, und hat Sein Blut für Seine Feinde vergossen, und hat uns ein Vorbild gelassen, daß wir sollen nachfolgen Seinen Fußstapfen. Das ist Liebe, und wenn wir alle Welten durchlaufen würden, und durchsuchten alle Zeitläufe der Geschichte der Welt - ein besseres, ein herrlicheres, ein treffenderes Urbild der Liebe würden wir nicht finden als das Lamm Gottes, das sich hat schlachten lassen, als den großen JEsus, der die böse, die arge Welt geliebet, mich geliebet, und euch geliebet hat, und aus Liebe zu uns ein Opfer geworden ist. Denn Er war die Liebe, nichts als Liebe.

Wer sein Eigenes, und wenn auch nur auf entfernte Weise, sucht, der ist nicht in der Liebe; wer einen Menschen um dieses oder jenes Fehlers willen gering schätzt, und stellt sich selbst über ihn, und kann noch richtend absprechen über die Fehler seiner Brüder, der ist nicht in der Liebe; wer den ärgsten Bösewicht, weil er ein solcher ist, verachtet und nicht vielmehr mit Barmherzigkeit ansiehet, und die Hoffnung aufgibt, der ist nicht in der Liebe; denn wer nicht mehr hoffet bey einem Menschen, der liebt auch nicht mehr; denn die Liebe hoffet Alles; wer den Geringsten unter den Brüdern Christi um seiner Niedrigkeit willen, um seines noch sehr schwachen und wankenden Glaubens willen verachtet, der ist nicht in der Liebe; wer sich noch am Rocke, und am Stande, und am Amte und an der Sekte aufhält, so daß er den Niedrigen nicht mit demselben Herzen behandelt wie den Höheren, wie bleibet die Liebe Dessen bey ihm, der uns geboten hat, Alle zu lieben, der der rechte Vater ist über Alles, was Kinder heißt im Himmel und auf Erden? So nun Jemand dieser Welt Güter hat, und siehet seinen Bruder neben sich darben, und schließt sein Herz vor ihm zu, in dem ist nicht die Liebe des Vaters; und so Jemand in den Wollüsten dieses Lebens dahin geht, und hat alle Bequemlichkeit, und kann ruhig zusehen, wie sein armer Mitbruder neben ihm ein elendes Leben dahin schleppt, und sucht nicht zu helfen durch Rath und That und Fürbitte, wie mag in einem Solchen die Liebe seyn? O, da magst du noch so fest an das Evangelium glauben, du magst noch so fromme Gefühle haben und vorgeben, du liebest Gott; siehe, es ist dir nichts nütze, du bist doch unter denen, von welchen der HErr sagt: „es werden nicht Alle, die zu mir sagen: HErr, HErr! in das Himmelreich kommen.“ Sollte das ein Gottesdienst seyn, den der HErr erwählet, daß ein Mensch sollte die Gnade Gottes suchen, und der Liebe Gottes und Seines Wortes sich rühmen, und schlöße doch sein Herz zu vor dem Elend seiner Brüder, und wäre zu bequem oder zu geizig oder zu stolz, um wahre Nächsten- und Bruder-Liebe zu üben, und dem Beyspiele Christi nachzuahmen, der Sich selbst gegeben hat, und hat Seiner vergessen? „Das ist ein Gottesdienst, den ich erwähle, spricht der HErr, laß los, welche du mit Unrecht gebunden hast; laß ledig, welche du beschwerst; gib frey, welche du drängest, weiß weg allerley Last; brich dem Hungrigen dein Brod, und die, so im Elend sind, führe in's Haus. So du einen Nackten siehest, so kleide ihn, und entziehe dich nicht von dem Fleische. Alsdann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröthe, und deine Besserung wird schnell wachsen, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HErrn wird dich zu sich nehmen“ (Jes. 68, 6 - 8). Es sey ferne von mir, damit einen neuen Weg in den Himmel machen zu wollen; aber es bleibt doch dabey: „wer seinen Bruder nicht liebet, den er siehet, wie kann er Gott lieben, den er nicht siehet? Und wer seinen Bruder hasset, der ist ein Todtschläger, und wer da sagt, er liebe Gott, und hasset seine Brüder, der ist ein Lügner.“ Das hat der Geist der Wahrheit ausgesprochen, und Er lässet sich nichts davon abdingen. Eher werden die Berge einstürzen und die Welt vergehen, als diese Worte vergehen werden. Ihr Alle, die ihr vorgebet, Liebe zu haben, und habt doch stets immer Etwas, bald dieß bald jenes, wider eure Brüder, ihr seyd Lügner und Heuchler, und werdet der Heuchler Lohn empfahen. Es wird eine Zeit kommen, wo euer ganzer Ruhm, daß ihr Gott liebet, wird zu nichte, und eure ganze Blöße wird offenbar werden. Wie Christus in der Welt war: so sollen auch wir in der Welt seyn, oder das soll wenigstens unser Bestreben, das große Ziel unseres Laufens, unseres Gebets, unseres Flehens, unseres Sehnens, unserer Anstrengung seyn. Christus war aber auf der Welt als die Liebe; wo war eine Noth, die Er nicht gehoben hätte; wo war ein Sünder, dessen Er sich nicht erbarmt hätte; wo war ein Feind, den Er nicht geliebt hätte; wo war ein armer, niedriger Mensch, dessen Er sich geschämt hätte? Wann hat Er sich durch Bequemlichkeitsliebe, oder durch Geiz, oder durch Eigenliebe, oder durch gekränktes Ehrgefühl abhalten lassen, die Sünder, die arge Welt zu lieben? Wer hätte mehr Ursache gehabt, uns zu verachten, als Er? Er that es aber nicht. Wer hätte mehr Ursache gehabt, an Seinen Feinden und an Seinen Jüngern, die Ihn nicht verstanden, müde zu werden? Mußte Er doch ja einmal selbst zu ihnen sagen: „Schon so lange bin ich bey euch, und ihr kennet mich noch nicht!“ Er hatte Geduld mit ihnen; mild und sanftmüthig blieb Er bis an das Ende; als ein Lamm bewies Er sich bis in Seinen peinlichen Tod hinein; die Liebe blieb Er durch Sein ganzes Lehramt hindurch; die Liebe blieb Er durch Sein Leiden und Sterben hindurch; ja die treue Liebe ist Er noch jetzt; noch jetzt liebt Er mich und dich.

Das heißt Liebe, ach! man hätte es ja vergessen auf dieser argen, durch so manches Bruderblut entweihten und gefärbten Erde, was Liebe heißt, wenn Er nicht unter uns als die lautere Liebe gewandelt wäre. Wer aber nun sich Ihm ergibt, in den wird die Liebe Christi ausgegossen, und in der Liebe zum Heilande und in Seiner Kraft kann er auch den Bruder lieben, um Deß willen, der uns zuvor geliebet hat. Ja, Er hat uns die Kraft erworben, daß wir unsere armen Mitbrüder als Kinder desselben Vaters, als Miterlöste, als solche betrachten können, die Theil haben an derselben Verheißung, die, wie wir, dem Heilande Sein Blut gekostet haben, und sind Ihm sauer geworden, und haben Ihm Arbeit gemacht mit ihren Sünden wie wir, und sind Gegenstände Seines Erbarmens, solange sie noch in der Gnadenzeit leben, so gut als wir. O, was gibt das für einen geschmeidigen, demüthigen Sinn! was gibt das für eine Sorgsamkeit für das Heil der Miterlösten, wenn man sie um Christi willen und in Christo liebt! Ja, wenn man also Barmherzigkeit erlanget hat, und hat die Gnade und Wahrheit erkannt, die über uns selbst waltet, dir aus ihrer unerschöpflichen Fülle auch uns, die elendesten und unwürdigsten Sünder, angesehen und begnadiget hat, und man stellt sich gerne unter den schlechtesten seiner Brüder hinunter; und hat Barmherzigkeit mit ihm, da vergeht das elende Richten, das Afterreden; da demüthigt man sich selber und bückt sich. Man siehet durch Gottes Gnade so wenig Gutes an sich selber, daß man den Nächsten höher hält als sich, und wer sich so hat in die Liebe Christi hineinziehen lassen, der achtet auch die Seele seiner Brüder hoch und theuer. O, der wird sich hüten, durch ein Wort oder eine Miene oder Geberde seinen Brüdern ein Aergerniß zu geben, und die Seele seines Nächsten zu verderben, für den doch der Heiland Sein Leben gelassen hat. Aber freilich, so lange man das ungöttliche Wesen, so lange man Geiz und Neid und irdischen Sinn und hoffärtiges Wesen in sich herrschen läßt: so lange wird auch die Pflanze der Nächstenliebe in unserem Herzen nicht gedeihen können. Christus und Belial taugen ja nie zusammen. Was dünket euch nun, liebe Zuhörer, seyd ihr noch so bald fertig mit dem Selbstruhme, daß ihr Liebe habt? Ja, wenn eine geschwinde Aufwallung, ja, wenn ein Paar elende Werke bereits Liebe wären; ja, wenn es genug wäre, daß man einem Nothleidenden von seinem Ueberflusse geschwinde etwas hinwirft; ja, wenn es hinlänglich wäre, daß du von Natur ein gutes Gemüth hast, das den Frieden liebt und nicht gerne Streit und Zank beginnt, das deßwegen Niemand beleidigt und im Frieden auszukommen sucht mit allen Menschen; wenn das Liebe wäre: dann wollt' ich es gelten lassen. Aber das sind nicht Gottes Gedanken; Gott richtet nicht nach Menschenweise; Er siehet das Herz an; Er siehet das innerste Gewebe der Gedanken, Er siehet auf des Herzens Grund, und durchschauet, ob Geiz oder Eigenliebe oder Trägheit oder Ehrfurcht, oder was es seyn mag, dein Herz leitet und deine Hand regiert, oder ob Liebe in dir ist. Nach deines Herzens Grunde aber wird Er dich richten. Ach, großer Gott! wie Mancher wird glauben, sich einen großen Schatz gesammelt zu haben auf den Tag des Gerichts, und er wird zu leicht erfunden werden auf der Waage Gottes, und wird offenbar werden die Tücke seines Herzens und die Schande seiner Blöße; wie wird er erschrecken vor ich selbst und wird den Wurm in sich spüren, den er pflegt und gepflegt hat, den Wurm, der nicht stirbt; er wird von dem HErrn das entsetzliche Wort hören müssen: „Weiche, Uebelthäter, weiche, ich weiß nichts von dir, ich habe dich nie erkannt; du gehörst nicht zu den Meinen; gehe hin in das Feuer.“ Denn wohin gehet die satanische Art des Geizes, und des Hasses und der Eigenliebe, die du nicht lassen willst; wohin gehet sie anders als zu den Teufeln, welche die Liebe verlassen haben und aus Gott gefallen sind, und denen daher das ewige Feuer bereitet ist von Anbeginn der Welt?

Liebe fordert der HErr von uns, uneigennützige, thätige, aufopfernde, sich selbst vergessende, reine Liebe, die den Nächsten liebt als sich selbst, eine Liebe, die nicht säumet, ihr Bestes herzugeben für die Brüder, ja, eine Liebe, die das Leben lässet für die Brüder! das ist Seine Forderung an dich, und da Er weiß, daß du dazu untüchtig bist, daß du kalt und todt bist von Natur, so zeige Er dir Seine Liebesfülle in Christo, und gibt dir die Erlaubniß, um Liebe zu bitten. Aber weichen von Seiner Forderung an dich - das wird Er nicht in alle Ewigkeit.

Schon im Alten Testamente war das Gebot der Liebe ein Hauptgebot, und als der Heiland von Seinen Jüngern schied, so wollt Er, daß man sie daran kennen sollte, daß sie sich dadurch von der Welt unterscheiden sollten, daß sie Liebe haben gegen einander. „Daran wird Jedermann erkennen“ - sprach Er - „daß ihr meine rechten Jünger seyd, so ihr Liebe unter einander habt.“ Wer also nicht in der Liebe lebt, der lebt nicht als im Tage des Neuen Testaments; der ist ein Kind der Finsterniß; der kommt nicht dahin, wo das Reich der Liebe blühet, nicht in die ewigen Hütten, die Gott den Genossen Seiner Liebe, Seinem priesterlichen Volke aufbehalten hat um Christi willen.

Ich weiß wohl, der Mensch hat verschiedene Ausflüchte, warum er die Liebe nicht so ausübt, wie sie der HErr, sein Gott, von ihm fordert. Das eine Mal ist's weise Klugheit, wie er sagt, im Grunde aber steckt eine böse Leidenschaft dahinter; das andere Mal hat man Anderes zu schaffen; das dritte Mal wälzt man die Schuld auf die gegenwärtigen Zeiten; der Druck ist zu groß, und die Leute sind zu schlecht geworden, man darf ihnen nicht mehr trauen; das vierte Mal ist es gegen den Stand und Beruf, und mit diesem Allem entschuldigt und beschönig man sein liebloses, bequemes Herz, und zieht einen schönen Schleyer her über die Schlangenbrut, die man im Herzen trägt.

Aber wenn einmal unsere Schuld an dem großen Tage des Gerichts zusammen gerechnet und zusammen summirt wird, und wird uns offenbar werden, was wir versäumet haben; wenn der Richter der Welt die ärmlichen Kleider uns Lappen der guten Werke, die wir über die Schande unserer Blöße hereinziehen, wegreißen, und uns unsere wahre Gestalt zeigen wird; wenn einmal alle die Seufzer, die du den Brüdern ausgepreßt, oder vor welchen du dein Ohr verschlossen hast, da du sie hättest stillen können; wenn einmal dieß Alles und noch viel mehr gegen dich zeugend und verklagend auftreten wird: wirst du dann auch noch deine Schande beschönigen können?

Die Greu'l in Finsternissen,
Die Brandmaal' im Gewissen,
Die Hand, die blutvoll war,
Das Aug' voll Ehebrüche,
Das frevle Maul voll Flüche,
Das Herz des Schalks wird offenbar.

Wo wird man sich verstecken,
Was wird die Blöße decken,
Wer schminkt sich da geschwind,
Wen kann die Lüge schützen,
Was wird dein Werkruhm nützen? Da sind wir Alle, wie wir sind!

Ja du Wollüstling, der du, wenn auch nur mit einem buhlerischen Auge, den Keim der Sünde in dieser oder jener Seele angefacht oder vermehrt hast; du arge Brut, der du dem oder jenem ein Aergerniß gegeben, daß Er Schaden nahm an seiner Seele, die doch Christus bis in den Tod geliebet hat, und hast dem treuen Hirten Sein Eigenthum, Sein Schaf, entrissen; du Geiziger, der du das Seufzen deines Bruders nicht gehöret, und dein Geld oder den schnöden Gewinn lieber gehabt hast als die Seele deines Bruders; du Schlemmer, der du dich voll gefressen und gesoffen hast, und deinen Bruder neben dir darben ließest; ihr Alle, die ihr die Liebe mehr oder weniger verletzt habt, wie wollet ihr bestehen an dem schrecklichen Tage des HErrn, wo alle eure Lüste, Freuden, Güter und Genüsse hinter euch lieben werden wie ein längst schon zerflossener Nebel? Wie wollet ihr gut machen, was ihr versäumet habt? Was wollt ihr machen, wenn der große Richter Sein Auge zornig auf euch wendet, - und wir wissen, daß Sein Zorn unerträglich ist, und hinunter brennt bis in die unterste Hölle, - was wollt ihr machen, wenn Er zu euch spricht: dein ganzes Christenthum war ein Geschwätz, elendes, leeres Geschwätz; denn du hast deine Brüder nicht geliebet, für welche ich doch mein Leben gelassen habe.

Es ist wahrlich hohe Zeit, daß wir aus dem Maulglauben ausgehen; es ist Zeit, daß wir hienieden bekennen, wer wir sind, und unsere Sünden bereuen, und durch die Kraft des Heilandes zu lieben suchen. Es ist hohe Zeit, daß wir zu den Wunden fliehen, die uns ausgesöhnet haben, die uns Kraft zum Leben gaben, damit nicht erst der große Tag der Offenbarung unsere Schande darstelle, und nicht ewige Beschämung uns treffe! Amen.

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