Hofacker, Ludwig - Predigt am vierten Sonntage des Advents.

Hofacker, Ludwig - Predigt am vierten Sonntage des Advents.

Text: Joh. 1,19-34.

Und dieß ist das Zeugniß Johannis, da die Juden sandten von Jerusalem Priester und Leviten, daß sie ihn fragten: Wer bist du? Und er bekannte, und läugnete nicht; und er bekannte: Ich bin nicht Christus. Und sie fragten ihn: Was denn? Bist du Elias? Er sprach: Ich bin es nicht. Bist du ein Prophet? Und er antwortete: Nein. Da sprachen sie zu ihm: Was bist du denn? Daß wir Antwort geben denen, die uns gesandt haben. Was sagst du von dir selbst? Er sprach: Ich bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Richtet den Weg des HErrn, wie der Prophet Jesaias gesagt hat. Und die gesandt waren, die waren von den Pharisäern, und fragten ihn, und sprachen zu ihm: Warum taufest du denn, so du nicht Christus bist, noch Elias, noch ein Prophet? Johannes antwortete ihnen, und sprach: Ich taufe mit Wasser; aber Er ist mitten unter euch getreten den ihr nicht kennet. Der ist's, der nach mir kommen wird, welcher vor mir gewesen ist, deß ich nicht werth bin, daß ich Seine Schuhriemen auflöse. Dieß geschah zu Bethabara jenseits des Jordans, da Johannes taufete. Des andern Tages siehet Johannes JEsum zu sich kommen, und spricht: Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt. Dieser ist es, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, welcher vor mir gewesen ist, denn Er war eher denn ich. Und ich kannte Ihn nicht; sondern auf daß Er offenbar würde in Israel, darum bin ich gekommen zu taufen mit Wasser. Und Johannes zeugete, und sprach: ich sahe, daß der Geist herabfuhr, wie eine Taube, vom Himmel, und blieb auf Ihm. Und ich kannte Ihn nicht, aber der mich sandte, zu taufen mit Wasser, derselbige sprach zu mir: Ueber welchen du sehen wirst den Geist herabfahren, und auf Ihm bleiben, derselbige ist es, der mit dem Heiligen Geist taufet. Und ich sahe es, und zeugete, daß dieser ist Gottes Sohn.

Der Täufer Johannes war der erste Evangelist des Neuen Bundes. Als solchen hat er sich besonders in unserem heutigen Evangelium bewiesen. Denn als die Juden zu ihm kamen und ihn fragten: ob er Christus, oder Elias, oder ein Prophet sey, so bezeugete er und läugnete nicht; er bekannte: „ich bin nicht Christus, nicht Elias, nicht ein Prophet, sondern ich bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste: bereitet dem HErrn den Weg.“ Wie eine Stimme verhallt und keine Bedeutung hat, so wollte Johannes auch nur eine Stimme, ein Wegweiser seyn auf Christum, der vom alten Bunde hinüberweisen und hinüberleiten sollte auf den Mittler des Neuen Bundes. Darum war es seine große Botschaft an das Volk Israel: „bereitet dem HErrn den Weg; machet die Thore weit, damit der König der Ehren einziehe; dieser ist's, deß ich nicht werth bin, daß ich Seine Schuhriemen auflöse.“ Und des andern Tages, als er JEsum an den Ufern des Jordans herzuwandeln sah, da reckete er seine Hand aus und rief: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.“ So wies er als ein rechter Evangelist auf Christum, das Lamm Gottes; und so will auch ich, was ja das Haupt-Geschäft eines evangelischen Predigers seyn soll, euch auf Ihn hinweisen, indem wir unter dem Beystande Gottes den Ausspruch des Täufers betrachten:

Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.

O Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, erbarme Dich über uns; hilf uns, daß wir Deine große JEsus-Liebe recht betrachten; richte unsere Herzen nur allein auf Dich selber, so werden wir Frieden finden. Amen!

„Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ - so ruft Johannes, der Täufer, seinen Umgebungen zu, als er JEsum Sich ihm nahen sah; so riefen die Apostel der Menschheit zu: so wird noch jetzt nach dem Willen und durch die Barmherzigkeit Gottes den tief gefallenen, aber theuer erkauften Seelen, den Armen und Elenden zugerufen durch das Wort und die Sacramente, durch die Kirche und durch manche gerettete Seele. Der Inhalt dieser Worte ist aber auch der Kern der ganzen heiligen Schrift. Davon zeugt das Gesetz und die Propheten, der Alte und der Neue Bund. Wenn der Heiland zu Seinen Jüngern sagt: „Nehmet hin und trinket, das ist mein Blut, das vergossen wird zur Vergebung der Sünden“, - wenn Petrus in seinem Briefe schreibt: „Er hat unsere Sünden selbst geopfert an Seinem Leibe auf dem Holz, durch welches Wunden ihr seyd heil geworden“; wenn Paulus an die Epheser schreibt: „wir haben an Ihm die Erlösung durch Sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünden“; - wenn Johannes in seinem Briefe sagt: „Er ist die Versöhnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unsern, sondern auch für die der ganzen Welt“; - sehet, so heißen diese Worte alle nichts Anderes als: Er ist das Lamm Gottes, welches der Welt Sünde trägt. Und wie viele Worte des Neuen Testaments, ja auch des Alten Testaments müßte ich sonst noch anführen, wenn ich euch alle die Stellen sagen wollte, worin von JEsu, als dem Lamme Gottes, die Rede ist! Die ganze Gestalt des levitischen Gottesdienstes zeugt davon, und ist ein Schatten dieser großen neutestamentlichen Offenbarung. Das Passah-Lamm, das jährlich geschlachtet und gegessen wurde, war eine Hinweisung auf das neutestamentliche Lamm Gottes. Leset nur die Propheten, leset besonders den Propheten Jesaias, wie herrlich er den Heiland als das Lamm Gottes beschreibt; leset im Neuen Testament, ihr werdet nicht leicht eine Seite finden, in welcher nicht auf nähere oder entferntere Weise darauf hingewiesen wäre, daß JEsus das Lamm Gottes sey, das der Welt Sünde trägt. Allenthalben sucht Gott in Seinem Worte die Menschen auf diese große Wahrheit aufmerksam zu machen, sie darauf hinzuleiten, sie ihrem Herzen eindrücklich zu machen; ja, man kann sagen: diese Wahrheit ist der Mittelpunkt aller Offenbarung Gottes an die Menschen. Und das ist eigentlich das Geschäft der Zeugen JEsu, daß sie dieses bezeugen, daß sie es sich und den Seelen, die ihnen anvertraut sind, zurufen: Hier ist das Lamm Gottes, JEsus Christus; hier ist Immanuel; hier ist Trost; hier ist Kraft; hier ist Friede und Freude; hier ist Vergebung der Sünden und ewiges Leben; hier ist Alles, was dein Herz in Ewigkeit suchen und begehren mag. Unaufhörlich sollen wir bezeugen: Siehe! das ist dein Heiland, dein Erlöser, der dich nicht mit Gold oder Silber erkauft hat, sondern mit Seinem heiligen theuren Blut und mit Seinem unschuldigen Leiden und Sterben. Und so will ich es auch am heutigen Sonntage es wagen, euch und mir das theure Wort der Versöhnung vorzuhalten und zuzurufen: „Siehe! das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.“

Vor allen Dingen müssen wir hier betrachten das Wörtlein: „Siehe!“ Johannes der Täufer erschien endlich nach langem Harren und Hoffen der Israeliten auf einen Messias; er predigte, daß nach ihm Einer kommen werde, deß er nicht werth sey, Seine Schuhriemen aufzulösen; er bezeugte, daß er dieser Christus nicht sey. Als er aber des andern Tages JEsum nahen sah, und Ihn kaum erblickte; da deutete er mit Fingern auf das Lamm Gottes, auf den Trost Israels, auf welchen schon Simeon und Hanna harreten; da rief er den Juden zu: „Siehe, das ist Gottes Lamm, welcher der Welt Sünde trägt, siehe, das ist dein versprochener König!“ Welche Anfassung unter den Menschen, welche dieß höreten, welche heilige Aufmerksamkeit mußte die persönliche Erscheinung, das persönliche Wandeln des Menschen-Sohnes unter den Zuhörern Johannis verursachen! Da durfte Johannes keine lange Beschreibung machen und sagen: So und so ist Er; diese oder jene Gesinnung hat Er; so und so trägt Er sich; Er ist sanftmüthig und von Herzen demüthig, er durfte da nur sagen: siehe, da ist Er; da sehet Ihn selber; hebet eure Augen auf; lernet Ihn selber kennen; das ist der Messias; das ist der Versöhner; Er ist mitten unter euch getreten; lernet Ihn nur kennen! Da konnte gleich durch den Anblick es sich bey einer jeden Seele entscheiden, ob dieses Lamm Gottes ihr anständig sey; ob Liebe oder Abneigung gegen den Heiland sich rege, ob Glaube oder Widrigkeit gegen Ihn der Herzen sich bemächtige.

Es ist nicht zu läugnen, liebe Zuhörer, Johannes hatte in so fern etwas voraus vor den gegenwärtigen Evangelisten, welche den Seelen das Erbarmen Gottes eindrücklich machen wollen, daß sie JEsus annehmen als ihren Heiland, und die freye Gnade in Seiner Versöhnung für sich begehren als ihren Schmuck und ihr Ehrenkleid; - Johannes hatte etwas voraus vor der gegenwärtigen Zeit; denn er konnte mit Fingern auf den persönlich erschienen Christus hinweisen, was zu unserer Zeit unmöglich ist, weil der Heiland nach Vollendung Seines Opfers eingegangen ist in das Allerheiligste, und hat Sich in die Verborgenheit zurückgezogen, bis Er einst wieder hervorkommen, und Sich öffentlich darstellen wird. Bis dahin kann man Ihn nicht sehen. Wenn man daher die Seelen locken will zum Heilande, wie Er selbst befiehlt, und will ihnen zurufen: siehe, das ist Gottes Lamm; kommet zu Ihm; nehmet Ihn an als eure Weisheit; lasset euch durch Ihn versöhnen mit Gott; wenn man ihnen dieses „Siehe, dieser ist's, dieß ist das Lamm Gottes“ will eindrücklich machen: so kann man nichts anders, man muß eine Beschreibung von Ihm vorausgehen lassen, damit die Menschen wissen, von wem man redet. Denn es findet hier das Wort seine Anwendung: „Er ist mitten unter euch getreten; aber ihr kennet Ihn nicht.“

Aber wie soll man Ihn beschreiben? Soll man in den Himmel hinauffahren und Christum herabholen? Soll man Seine unaussprechliche Macht und Majestät; soll man den unermeßlichen Umfang Seines Königreichs und Seiner Herrschaft; soll man den Gottes-Glanz, der Ihn umgibt, vor welchem alle Kreatur anbetet, und einst Himmel und Erde entfliehen werden wie ein eingewickelt Buch; soll man Seine Schöpfers-Macht und Herrlichkeit, und wie Er sitzet über Cherubim zur Rechten Gottes, beschreiben? - soll das der Gegenstand der Beschreibung, dieß das Gemälde seyn, das man von Ihm entwirft? Oder sollen wir hinab in die Tiefe fahren und Ihn von den Todten holen, und den Seelen zeigen, wie Er Alles in Allem erfüllet; soll man Sein Richter-Amt, und wie Er Augen hat wie Feuerflammen, und Alles an das Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, wie Er den Rath der Herzen offenbaren wird, und wie vor Ihm alle Welt wird erscheinen müssen, und Ihn sehen werden alle Augen und die Ihn gestochen haben; soll man Ihn mit großer Kraft und Herrlichkeit wiederkommend in den Wolken des Himmels beschreiben? Allerdings muß man das auch von Ihm sagen; auch Johannes zeugete in unserem heutigen Evangelium von Seiner Gottes-Majestät; auch die Apostel haben mit großer Freudigkeit davon gezeuget, daß Gott einen Tag gesetzet habe, auf welchem Er richten will den Kreis des Erdbodens mit Gerechtigkeit durch einen Mann, in welchem Er es beschlossen hat, und Jedermann vorhält den Glauben, nachdem Er Ihn hat von den Todten auferwecket. Aber dieses sind doch nicht Seine Haupt-Eigenschaften, welche die Apostel herauszuheben pflegen, wenn sie die Seelen zu Seiner Gemeinschaft reizen und locken wollen. Johannes sagt es uns deutlich in unserem heutigen Texte, wie man Ihn beschreiben müsse, nämlich als da Lamm Gottes, als das Versöhnungs-Lamm, das unbefleckte Lamm Gottes, das für die Sünden der Welt geopfert ist. Der Heiland hat nach Seiner Auferstehung Seinen Jüngern selbst die Art und Weise in den Mund gelegt, wie sie von Ihm zeugen und predigen sollten, nämlich: „also mußte Christus leiden“ - sagte Er - „und auferstehen von den Todten am dritten Tage, und predigen lassen in Seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden unter allen Völkern“ (Luc. 24,46.47.). Diese Art haben auch die Apostel überall beobachtet; sie predigten von Christo, dem Gekreuzigten und Auferstandenen; sie verkündigten, daß es eine Liebe gebe, die uns zuerst bis zum Tod am Kreuze geliebt habe; und Paulus rühmt es gegen die Galater, daß er Christum JEsum, den Gekreuzigten, ihnen vor die Augen gemalet habe, und nichts wisse, dessen er sich rühmen könnte, als des Kreuzes Christi. Denn er spricht: „es sey von mir ferne, rühmen, denn allein von dem Kreuz unsers HErrn JEsu Christi, durch welchen mir die Welt gekreuziget ist und ich der Welt.“

Darum, Seele, geh' auch du auf Golgatha,
Setz' dich unter JEsu Kreuze,
Und bedenke, was dich da
Für ein Trieb zur Buße reize,
Willst du unempfindlich seyn,
O so bist du mehr als Stein.

Seele! folge mir einmal auf die Höhen Golgatha's, hier ist das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt; betrachte hier im Geiste das blutige Schauspiel, das sich dort deinen Blicken darbietet. Siehe, da hängt Er am Stamme des Kreuzes; sie haben auf Ihn alle Schmach gelegt, die sie erdenken und ersinnen konnten; der Fürst des Lebens hängt da als ein verfluchter Missethäter, von Gott und Menschen verlassen; es ist nichts Gesundes an Seinem Leibe, von der Fußsohle bis auf das Haupt ist nichts Gesundes an Ihm, sondern Wunden, Striemen und Eiterbeulen, die nicht geheftet, noch verbunden, noch mit Oel gelindert sind; sie haben Ihm eine Dornenkrone in Sein heiliges Haupt hineingedrückt; sie haben Ihn ausgezogen und um Seine Kleider das Loos geworfen; sie haben Ihm Seine Hände und Füße durchgraben; „Er ist ein Wurm und kein Mensch, ein Spott der Leute und Verachtung des Volkes; Er ist ausgeschüttet wie Wasser; alle Seine Gebeine haben sich zertrennet; Seine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe; Seine Zunge klebt Ihm an Seinem Gaumen.“ Er ruft: „Mich dürstet“; da reichen sie Ihm Essig in Seinem großen Durst. Schau' an, o Seele, deinen Bürgen, wie Er um deine Seele wirbt. Siehe, das waren deine Schmerzen; Er duldete sie für dich, für dich, du sündige, du der Hölle werthe Seele. Ach, bedenk' es doch, schreibe es doch in dein Herz mit dem lebendigen Griffel des Geistes, laß es dir doch niemals aus dem Geiste weichen, wie Er dich geliebet hat.

Schaue doch das Jammerbild
Zwischen Erd' und Himmel hangen,
Wie das Blut mit Strömen quillt,
Daß Ihm alle Kraft vergangen.
O wie häufet sich die Noth,
Es ist gar mein Heiland todt.

Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt, das deine Sünden trägt. Ja, in diesem Haupt voll Blut und Wunde, voll Spott und voller Hohn, in diesem Haupt zu Spott gebunden mit einer Dornenkron'; in diesem Angesichte, in diesem bespieenen Angesichte, sonst voll Gottes-Majestät, voll Klarheit und voll Huld, dafür sonst das ganze Welt-Gewichte erschrickt und sich scheuet; in diesem Angesichte, das nun durch die Faustschläge so schändlich mit Beulen zugerichtet ist; in diesem Angesichte, in das der Tod, der Missethäters-Tod, der Tod eines Verfluchten so tiefe, so furchtbare Todesfurchen gezogen hat; in diesem Angesichte, auf dem der Todesschweiß stehet: da erkennt der Glaube seinen Bürgen, seinen Versöhner, den Bezahler aller seiner Schulden, das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt. Ach, daß es dem HErrn gefiele, in meinem und eurem Herzen diese Seine Versöhners-Gestalt recht einzuprägen; so einzuprägen, daß sie unauslöschlich darin lebte; daß in unserem Herzens-Grunde Sein Name, Sein theurer JEsus-Name, Sein Kreuz allein funkeln und leuchten möchte; daß wir zu aller Zeit sagen, daß wir unter den Verführungen zur Sünde, daß wir unter der Angst des Gewissens, daß wir, wenn der Feind das Leben verklaget, im bösen Stündlein, daß wir bey'm Blick und Gang in die Ewigkeit und vor dem Throne des ewigen Richters alle Zeit uns selber sagen und vorhalten könnten: siehe, das ist Gottes Lamm; hier ist Immanuel, der der Welt und deine Sünde getragen, gebüßt, aufgehoben und auf ewig versöhnet hat.

Ach, drückten JEsu Todes-Mienen
Sich meiner Seel' auf ewig ein!
O möcht' der Blick auf Sein Versöhnen
In meinen Blicken sichtbar seyn.
Denn ach! was hab' ich Ihm zu danken?
Ich koste Ihm Sein theures Blut;
Das heilt mich, Seinen armen Kranken,
Und kommt mir ewiglich zu gut.

O wenn der HErr nach Seiner Gnade JEsum, den Gekreuzigten, in meinem und eurem Geiste also verklären wollte, daß es uns die lieblichste Gewohnheit würde, unsern Versöhner und Bürgen in Seiner Todespein, für die Sünden Seiner gefallenen Brüder, und in Seiner Liebesgluth, die Ihn in den Rachen des furchtbaren Todes getrieben hat, zu betrachten: da würden wir nicht mehr da- oder dorthin denken; da würde der Sünde und dem Gesetze ihr Stachel genommen seyn in uns; da würden wir Tag und Nacht nur darauf bedacht seyn, nur Den, der uns zuerst und also geliebet hat, unsern Blutbräutigam zu lieben, Ihm zu leben, Ihm zu leiden, Ihm zu sterben; da würde Er Ehre an uns haben, und die Liebe würde völlig bey uns werden, und eine vollkommene Freudigkeit schaffen auf den Tag des Gerichts.

„Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.“ Dieser verspottete, dieser an's Kreuz erhöhete Heiland ist das Lamm Gottes, von welchem Johannes predigte, von welchem wir heute reden. Laß den Andern den Ruhm an Menschen, und an den Götzen dieser Welt; laß sie gaffen nach den eiteln Dingen dieser Welt; laß sie ihrer Seelen Heil um Linsengerichte, wie Esau seine Erstgeburt, verscherzen; laß sie spielen und tanzen und springen, und so fortfahren, bis der Tag des Herren kommt; betrachte du diesen deinen Blutbräutigam, betrachte deinen Bürgen, deinen JEsus, ergib dich, Den zu lieben, der Immanuel heißt. Er, der Sich für dich hat erwürgen lassen; Er, dem kein Blutstropfen zu theuer war, den Er nicht hingegeben hätte für dich, Er ist's allein werth, daß du Ihm dein Herz schenkest; Er hat's verdient; Er hat's erworben, Er hat das Recht daran sich erkauft, nicht mit Silber oder Gold, sondern, da Er das Lamm Gottes wurde, das der Welt Sünde getragen und versöhnet hat.

In den Zeiten des Alten Bundes gab es auch Gelegenheiten, wo Lämmer geopfert wurden. Ja das Lamm, das Passah, mit dessen blute die Thürpfosten der Israeliten in Aegypten bestrichen wurden, verhinderte ja den Einbruch des Würgengels, als er die Erstgeburt der Aegypter schlug. Aber alle diese Opfer und auch das Blut des Passahlammes hatte nur seine Bedeutung und seinen Werth in dem Opfer des neutestamentlichen Lammes, in dem Opfer JEsu Christi. Dieses ist das wahrhaftige Opferlamm, von Gott dazu ausersehen vor den Weltzeiten, erschienen in der Fülle der Zeit, auf daß Er eine ewige Erlösung erfände; Opfer und Gaben hatte der Vater nicht gewollt, aber den Leib hatte Er Ihm bereitet, um ein Opfer zu werden für das Leben der Welt. Da gieng denn JEsus Christus hin, rein und ohne Sünden, und ließ Sich williglich würgen für die Sünden Seiner Brüder; Er that Seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, das verstummt vor seinem Scheerer. Er war ein Bild der Sanftmuth und der Demuth, ein Muster der Geduld und Langmuth; sie schlugen Ihn, Er litt es; sie höhneten Ihn, Er hörete es und schalt nicht wieder; sie logen gegen Ihn, Er ließ es geschehen: denn Er wußte, all' dieß Leiden war nothwendig zum Heile Seiner Brüder; sie schlugen Ihn an's Kreuz, Er betete für sie: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun“, - sie thaten Ihm alles Uebel, Er liebete sie und erlösete sie mit dem Blute, das durch ihre Mißhandlungen floß, Seinen Peiniger selber: denn es floß auch für sie, ohne daß sie es wußten.

Wo ist ein Freund, der je, was Er gethan,
Der so, wie Er, für Feinde sterben kann.

„Siehe, da ist das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt.“ Mit dieser Seiner Aufopferung, mit Seiner Geduld, mit Seinem Harren auf Gott, mit Seiner Liebe bis zum Tode, mit Seinem Todeskampf und blutigen Schweiß hat Er die Welt versöhnet, die von Gott abgefallene Welt, die Welt, auf welcher der Zorn Gottes ruhte: denn Er, der Mittler zwischen Gott und den Menschen, trag unsere Sünden, und hat den ganzen Zorn Gottes gegen die Sünde auf Sich genommen. O schreckliche Last, die Sünden aller Sünder! Aber, Gott Lob! das Lamm hat gesiegt; es hat ausgehalten; es hat sie getragen; das Opfer ist vollendet; es bedarf keines Opfers mehr, dem Uebertreten ist gewehret; die Sünde zugesiegelt, und die Missethat versöhnet, und die ewige Gerechtigkeit gebracht (Dan. 9,24.). Er hat eine ewige Erlösung erfunden; JEsus Christus hat die Sünden getragen und aufgehoben; also, daß ihrer ewiglich nicht mehr gedacht werden soll vor dem Angesichte des Vaters. O es ist ein gar schöner, bezeichnender Ausdruck, den Johannes davon gebraucht: „das der Welt Sünde trägt“, oder vielmehr durch Sein Tragen wegnimmt. Sie sind also nicht mehr vorhanden; sie sind also in's Meer der Ewigkeit versenkt; sie dürfen also nicht mehr zwischen mich und meinen Gott hineintreten; sie sind begraben, bedeckt, verhüllet, versöhnet in den Wunden des Lammes.

O Abgrund, welcher alle Sünden
In Christi Tod verschlungen hat!
Das heißt die Wunden recht verbinden,
Da findet kein Verdammen Statt,
Weil Christi Blut beständig schriet:
Barmherzigkeit, Barmherzigkeit!!

Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünden wegnimmt, der Welt Sünden. Wie allgemein, wie weit umfassend! Also nicht nur die Sünden Seiner Landsleute, nicht nur die Sünden des Volkes Gottes, nicht nur die Sünden dieses oder jenes frommen Menschen, nicht nur die Sünden Seiner ausgezeichneten Knechte; ach nein, der Welt Sünden hat Er weggenommen; also aller Menschen Seelen sind erworben, gewonnen, erlöst und versöhnet; die Sünden aller Nationen in der Welt, der schwarzen, der braunen, der weisen Menschen hat unser Heiland getragen. Seele, betrübte Seele! das sind frohe Worte, das ist eine frohe Botschaft, daß die Sünden der Welt hinweggenommen wurden. So geht es also auch auf dich, auch auf mich; auch ich bin mit hineingerechnet; auch an meine arme, sündige Seele hat der treue Heiland gedacht, als Er Seinen schweren Gang nach Gethsemane und Golgatha antrat. Ist es möglich, auch an mich? und doch ist es so! Johannes bezeugt es, die Apostel rufen es aus: „Dieser ist die Versöhnung für die Sünden der Welt.“ Das sagen sie getrost. Es ist ein allgemeines Erbarmen, es ist eine allgemeine Gnade, die also auch über mich gehet, frey und ganz. Das ist etwas zum Anbeten, das ist zum Loben, das ist ein Gegenstand zum ewiglichen Preisen. Nun darf kein Sünder mehr verzagen; wer verzagt, der verkleinert Gottes Ehre; wer Buße thut, und er sey, wer er wolle, der soll zu Ehren kommen; ob seine Sünden blutroth wären, sie sollen schneeweiß werden, und ob sie wären wie Scharlach, sie sollen doch weiß werden wie Wolle im Blute des Lammes.

„Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.“ - Ey, wie sollte uns das Herz hüpfen und springen; wie sollten wir ganz Liebe und Dank und Anbetung werden bey dieser frohen, seligen Botschaft vom Lamme Gottes. Aber man hört diese Botschaft Jahr aus Jahr ein; man ist daran gewöhnt; man glaubt, es müsse so seyn; man ist nicht verlegen über seine Sünden; sie drücken einen nicht; darum ist es den Meisten gleichgültig, ob sie vorhanden oder weggenommen sind. O liebe Brüder und Schwestern! lasset uns doch aus diesem Kaltsinn, aus dieser Gleichgültigkeit ausgehen; denn dieß ist die größte Schmach, die wir dem Heiland anthun können; lasset uns doch auch einmal anheben zu rühmen von dem Lamme, das geschlachtet ist; lasset uns doch auch einmal Ihm die Ehre geben.

Kommt, Sünder, und blicket dem ewigen Sohne
In's Herz, in die Nägelmaal', unter die Krone,
Und sucht euch noch Mehrere zuzugesellen,
Die sich mit euch vor den Gekreuzigten stellen.

Wer aber dieses verwirft, wer die Erlösung durch Christum verachtet, wie soll dem geholfen werden? Wem es entweder zu unbequem, oder zu abgeschmackt ist, ein Nachfolger Christi zu werden, wie soll dem geholfen werden? Wer um der Augenlust, Fleischeslust, um des hoffärtigen Wesens willen, wer aus Anhänglichkeit an das Irdische JEsum verwirft, wie soll dem geholfen werden? Wer nur für sich selbst vor Gott erscheinen will, da doch Christus allein uns Sündern den Weg bereitet hat, wie soll dem geholfen werden? Ach, seine Sünde bleibet über ihm; der Zorn Gottes, der hinunterbrennt bis in die unterste Hölle, der Zorn des Heiligen, der der Sünde ernstlich feind ist, bleibet über ihm. Oder sollte eine Seele unter uns seyn, die da in dem deutlichen oder dunkeln Wahne stände, der Heiland sey für die Langeweile gemartert worden, und habe für die Langeweile die Sünden der Welt gebüßt: die mag die Folgen ihres Irrthums auf sich selber haben. Nein, liebe Brüder und Schwestern, der HErr fordert von uns Seinen Schmerzenslohn, welches wir selber sind. Er fordert für diese Seine Aufopferung nichts als uns selber, unser Herz ganz und ungetheilt. Seele, zärtle nimmer länger; gib's Ihm, Er hat's verdient.

O was wird es einst seyn, zu Seinen Füßen Ihm zu danken in der frohen Ewigkeit mit den Schaaren der vollendeten Gerechten?

Die Augen, Seinen Mund,
Den Leib für mich verwund't,
Da wir so fest d'rauf bauen,
Das wird' ich Alles schauen,
und innig herzlich grüßen,
die Maal' an Händ' und Füßen.

O was wird es für ein Tag seyn, wenn eine Seele auf dem Berge Zion neben der andern steht, und ihr den Erlöser zeigen und sagen wird: „siehe, das ist Gottes Lamm!“ Doch keine Seele wird dieß nöthig haben; jede Seele wird das Lamm Gottes Selber sehen: denn Er wird selbst die Sonne seyn, und die Sonne wird man doch dann auch kennen. Ja, da wird man Ihm Ehre geben.

Denn das wird' ich zu JEsu Füßen
Mit ew'ger Beugung bekennen müssen,
Weil's Wahrheit ist:
Lamm! Dein Blutvergießen und bitt'res Leiden,
Und Dein am Kreuze für mich Verscheiden
Hat mir's verdient.

Ja, das werd' auch ich sagen, wenn ich an den Thoren des neuen Jerusalems bin:

Eins nur hat mich durchgebracht,
Lämmlein, daß Du wardst geschlacht't.

Ach, liebster Heiland! laß uns doch das recht fassen, daß uns Dein Blut durchbringen kann; führe uns hinein in die ewigen Friedens-Auen, in's himmlische Canaan, wo Du Alle hineinbringen willst, die hinein wollen. Amen!

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/h/hofacker/hofacker-predigt_am_vierten_sonntage_des_advents.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain