Hofacker, Ludwig - Predigt am sechsten Sonntag nach dem Feste der Erscheinung

Hofacker, Ludwig - Predigt am sechsten Sonntag nach dem Feste der Erscheinung

Von der Gnade, daß wir seyn können in dieser Welt, wie JEsus in der Welt war.

Text: Luc. 2,41 - 52.

Und Seine Eltern giengen alle Jahre gen Jerusalem auf das Osterfest. Und da Er zwölf Jahre alt war, giengen sie hinauf gen Jerusalem, nach Gewohnheit des Festes. Und da die Tage vollendet waren, und sie wieder zu Hause giengen, blieb das Kind JEsus zu Jerusalem, und Seine Eltern wußten es nicht. Sie meineten aber, Er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagreise, und suchten Ihn unter den Gefreundten und Bekannten. Und da sie Ihn nicht fanden, giengen sie wiederum gen Jerusalem, und suchten Ihn. Und es begab sich nach dreyen Tagen, fanden sie Ihn im Tempel sitzen mitten unter den Lehrern, daß Er ihnen zuhörete und sie fragete. Und Alle, die Ihm zuhöreten, verwunderten sich Seines Verstandes und Seiner Antwort. Und da sie Ihn sahen, entsatzten sie sich. Und Seine Mutter sprach zu Ihm: mein Sohn, warum hast Du uns das gethan? Siehe, Dein Vater und ich haben Dich mit Schmerzen gesucht. Und Er sprach zu ihnen: was ist es, daß ihr mich gesucht habt? Wisset ihr nicht, daß ich seyn muß in dem, was meines Vaters ist? Und sie verstunden das Wort nicht, das Er mit ihnen redete. Und Er gieng mit ihnen hinab, und kam gen Nazareth, und war ihnen unterthan. Und Seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. Und JEsus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bey Gott und den Menschen.

Aus dem heutigen Evangelium, das uns die liebliche Geschichte von dem zwölfjährigen JEsus-Kinde erzählt, will ich Veranlassung nehmen, zu euch Alten und Jungen zu reden:

Von der Gnade, daß wir seyn können in dieser Welt, wie JEsus in der Welt war.

Ich will zeigen:

  • was es heiße, seyn in dieser Welt, wie JEsus in der Welt war;
  • wie man so werde.

I.

Was heißt seyn in dieser Welt, wie JEsus in der Welt war? Das heißt nicht ein Erlöser seyn, wie JEsus ein Heiland war; es heißt auch nicht ein Wunderthäter seyn, wie Er Einer war; es heißt auch nicht ein Prophet seyn, mächtig von Wort und That; es heißt auch nicht hingehen, und sich für die Sünden der Welt kreuzigen lassen, wie JEsus Sich als der gute Hirte in den Tod hingab. Ich darf euch wohl nicht erst zeigen, daß solches Alles zu dem besondern Auftrage gehörte, den der Herr von dem Vater hatte, den wir aber nicht haben, und nimmermehr bekommen werden. Seyn in dieser Welt, wie JEsus in der Welt war, heißt nichts anders als in die Fußstapfen Jesu treten, die Er uns als Mensch zurückgelassen hat; in unsern Umständen so denken, so fühlen, so reden, so handeln, so uns betragen, wie JEsus , wenn Er in unsern Umständen gewesen wäre, gedacht, gefühlt, geredet, gehandelt, Sich betragen hätte. Seyn in dieser Welt, wie JEsus in der Welt war, heißt mit andern Worten: ein Mensch seyn, in dem das Bild Christi wiederstrahlt, dem man es ansieht, daß er ein Jünger des Heilandes und in Seiner Schule gewesen ist, daß er von Seinem Geist empfangen hat. Der Psalmist sagt: „Deine Kinder sollen dir geboren werden, wie der Thau aus der Morgenröthe“; und so soll es seyn bey Denen, die in der Welt sind, wie JEsus in der Welt war. Wenn ihr nämlich des Sommers auf das Feld hinausgehet, während der Thau noch liegt, so werdet ihr finden, daß in jedem einzelnen Thautröpflein das Bild und die Klarheit der Morgenröthe oder der Sonne sich spiegelt. Wer nun einem solchen Thautröpflein gleicht, in wem die ewige Lebenssonne, JEsus Christus, ihr Bild abspiegelt, wer etwas vom Bilde Seiner Herrlichkeit, Seines Lichtes, Seiner Klarheit, Seiner Liebe in sich trägt, von dem kann man sagen: er ist in dieser Welt, wie JEsus in der Welt war.

Aber, liebe Zuhörer, wenn wir werden sollen, wie Er in der Welt war, so müssen wir vorerst wissen, wie Er gewesen ist. Hierüber gibt uns unser Evangelium die schönste Anweisung. Als Seine Eltern Ihn nach drey Tagen im Tempel gefunden hatten, da sprach Er zu ihnen: „Wisset ihr nicht, daß Ich seyn muß in dem, was Meines Vaters ist?“ Das ist der Grundzug in der Seele unsers lieben Heilandes gewesen, so lange Er auf dieser Erde pilgerte, daß Er seyn wollte und mußte in dem, das Seines Vaters ist. Zunächst geht freilich dieses Wort nur auf den Tempel zu Jerusalem, als wollte Er Seinen Eltern sagen: warum habt ihr Mich so lange und vergebens gesucht? ihr hättet doch leicht denken können, daß Ich nirgends anders bin, als in Meines Vaters Hause; im Tempel, da hättet ihr Mich zuerst suchen sollen. Aber diese Worte des Heilandes haben auch noch eine weitere Bedeutung. Ich muß seyn in dem, das Meines Vaters ist, heißt auch: Was auf Meinen Vater sich bezieht, wo es die Ehre Meines Vaters gilt, das ist mein Element; Mein Geist muß leben, und lebt in der Sache Meines Vaters, ja in Meinem Vater; Ich kennen nichts Höheres auf dieser Welt; Ich weiß von keinem größeren Vergnügen; es dringt Mir nichts so sehr an das Herz; es ist Mein Einziges auf dieser Welt, die Ehre, die Verherrlichung, die Erkenntniß Meines Vaters, der Umgang mit Ihm. Er will eigentlich damit dasselbe sagen, was Er einmal später zu Seinen Jüngern sagte: „das ist Meine Speise, das ist Meine Nahrung, das ist Mein Essen und Trinken, daß Ich thue den Willen Dessen, der Mich gesandt hat.“ Man sieht dabey, wie die Erkenntniß und Liebe des Vaters bey'm Heilande den Ueberschwang hatte. Aus diesem Seinem Sinne heraus, weil der Vater Sein ganzes Herz ausfüllte, ist es auch allein erklärbar, wie der Heiland als ein zwölfjähriges Kind drey Tage im Tempel bleiben möchte, mitten unter den Lehrern, daß Er ihnen zuhörete und sie fragete. Es war Ihm eben ganz allein darum zu thun, den Vater recht kennen zu lernen; der Vater war der einzige Mittelpunkt, um den sich Seine Seele bewegte; der Vater der einzige Magnet, dem Sein ganzes Wesen zugekehrt war.

Liebe Zuhörer, wie JEsus in der Welt war, so sollen auch wir in dieser Welt seyn. Wie Sein ganzes Streben, Seine ganze Liebe, Seine ganze Kraft, Sein ganzer Trieb, Sein ganzes Leben auf den Vater gieng: so soll auch unser Streben mehr und mehr auf den Vater und auf den Heiland selber gehen. Es soll uns zur andern Natur werden, mit dem Vater und mit dem Sohne umzugehen, Ihn in allen Dingen für das höchste Gut zu achten, mit Einem Worte: Ihn zu lieben. Das heißt seyn in dieser Welt wie JEsus in der Welt war.

Vor Jesu Augen schweben,
Ist wahre Seligkeit.
Ein unverrücktes Leben,
Mit Ihm schon in der Zeit.
Nichts können und nichts wissen,
Nichts wollen und nichts thun,
Als Jesu folgen müssen,
Das heißt im Frieden ruh'n.

Liebe Zuhörer, ist es so bey uns? Ach, die Meisten unter uns sind noch gar nicht auf dem Wege dazu. Etwas ganz Anderes ist Vielen unter uns noch zur andern Natur. Wo trifft man die Meisten unter uns den Tag über an? Im Hause des Vaters, mit dem Herzen bey'm Heilande? Sind Viele unter uns, bey welchen, wenn man sie den Tag über suchen würde, aus diesem oder jenem Grunde, man auf die Vermuthung kommen könnte: vielleicht ist er oder sie in der Kammer, vielleicht in einem abgelegenen oder einsamen Winkel des Hauses, und betet und redet mit dem Heilande? Wie Viele sind wohl unter uns, die sich kein Gewissen daraus machen, darauf zu sinnen, wie sie bey'm Handel und Wandel sich ein unrechtmäßiges Vortheilchen zuwenden, oder die mit ihrem Herzen und Gedanken, oft auch mit ihrem Munde und Gliedern, in allerhand Unzuchtshändeln sich umtreiben, oder die den ganzen Tag, ja oft die ganze Nacht über, nirgends anders sind als in ihren Geschäften, in ihrem irdischen Umtrieb, in dem sie mit Herz und Sinn wühlen und sich bewegen? Was würden solche Leute für eine Antwort geben, wenn man ihnen darüber Vorstellungen machte? Was bekommt ein Lehrer und Seelsorger, der solche armen Leute ermahnt und bittet, und ihnen sagt: „Arme, verirrte Schafe, schon so lange sucht euch JEsus mit Schmerzen, und ihr lasset euch nicht finden“ - was bekommt er für eine Antwort? Was denken solche armen Knechte und Mägde des Verderbens in ihrem Herzen, wenn sie um Jesu willen gebeten werden, daß sie doch ihrer Seelen Heil bedenken möchten? Ich will es euch sagen: Was ist's - denkt ein solcher Mensch - daß der Heiland mich sucht? Der da oben auf der Kanzel kann mir lange schwatzen; ich werde es nicht anders machen als andere Leute, die auch selig werden wollen: ich will eben in dem bleiben, in dem ich bisher gewesen bin. Das heißt mit andern Worten: ich will bleiben in dem, das des Teufels ist.

O ihr armen Knechte und Mägde des Verderbens, ihr habt Recht, ihr habt ganz Recht, ihr müßt seyn in dem, das des Teufels ist. Er ist euer Vater, und er hat euch gebunden mit unauflöslichen Ketten der Finsterniß, aus welchen ihr nicht loskommen könnet, wenn ihr euch nicht durch JEsum losmachen lasset. Aber saget mir doch, wann soll denn eure Erlösungs-Stunde schlagen? Wollet ihr denn reifen für das ewige Feuer? Nein, wie euch jetzt der Dienst der Sünden und der Ungerechtigkeit zur andern Natur geworden ist, sehet, so muß euch der Dienst der Gerechtigkeit, so muß euch die Liebe zum Heilande zur andern Natur werden, daß es euch befremdend vorkommt, wenn man euch noch anderswo mit eurem Herzen sucht als bey'm Vater und dem Heiland, wie es euch jetzt befremdend vorkommt, wenn man euch noch anderswo sucht als in den Stricken der Finsterniß und der Sünde. Dann seyd ihr wahrhaftig, wie JEsus in der Welt war, und habet Theil an dem Erbe, das Er im Himmel bereitet hat.

Aber auch ihr unter uns, die ihr bereits etwa auf dem Wege seyd, Jünger des Heilandes zu werden, o liebe Seelen, wie müssen wir uns schämen, wenn wir uns mit dem Sinne des zwölfjährigen JEsus-Kindes vergleichen! Lebt der Heiland immer in unserm Herzen? Kommt Er uns nie aus dem Sinn? Ist es uns jeden Augenblick unwohl im Innern, wenn wir Seiner vergessen? Wird Er nie durch andere sündliche Gedanken, oder durch unnütze Reden, scherze und Narrentheidinge aus unserm Herzen verdrängt? Ist es uns auch anzufühlen, daß wir Leute des HErrn Jesu, daß wir Lichter sind mitten unter einem verkehrten und unschlachtigen Geschlecht? Können wir auch mit dem Apostel Paulus sagen: „Ich achte Alles für Schaden gegen der überschwänglichen Erkenntniß Christi Jesu, meines Herrn: um welches willen ich Alles habe für Schaden gerechnet, und achte es für Koth, auf daß ich Christum gewinne?“ Können wir mit dem Apostel sagen: „Was ich lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben des Sohnes Gottes, Der mich geliebet, und Sich selbst für mich dargegeben hat.“ Ist es so bey uns, wie es doch bey uns werden soll? Ach, liebe Zuhörer, wir müssen wahrlich noch ganz andere Leute werden. Damit ist es noch nicht ausgerichtet, daß man immerfort anerkennt, und immerfort bekennt: ich bin noch nicht bekehrt, ich bin noch nicht wiedergeboren. Nein, wir müssen darnach ringen, und darum kämpfen. Die Stunde ist da, aufzustehen vom Schlafe; denn der Tag ist herbeigekommen, und das Licht leuchtet in die Finsterniß; wir müssen anhalten mit Bitten und Flehen, daß JEsus uns wolle zur Gnade, zur Freiheit der Kinder Gottes durchbrechen lassen; mit dem faulen Geschwätz von seiner Sündigkeit und seinem bösen Herzen ist es nicht ausgerichtet. „Sey nicht so faul“ - sagt Luther - „fall' auf deine Kniee, rufe Gott an um Seinen Heiligen Geist, flehe und bitte, suche, so wirst du finden, und wenn das Suchen nicht hilft, so bitte, und wenn das Bitten nicht hilft, so klopfe an; auf dem Faulbette ist noch Keiner in den Himmel gekommen.“

Doch was erzählt uns das Evangelium noch weiter? „JEsus gieng hinab mit Seinen Eltern nach Nazareth, und war ihnen unterthan;“ Er trieb die Profession Seines Vaters bis in das dreißigste Jahr. Hier können wir wieder sehen, wie JEsus in der Welt war.

Für's Erste können wir daraus lernen Seine Ergebung in des Vaters Willen. Was meinet ihr? der Heiland, der schon im zwölften Jahre wußte, wer Er war, geht mit Seinen Eltern hinab nach Nazareth, wächst da unter ihnen auf, treibt ein Handwerk bis in's dreißigste Jahr, ist still und lebt im Verborgenen, in dem unschlachtigen Nazareth. Was meinet ihr, ist das nicht ein besonderer Gehorsam gegen Seinen Vater gewesen? Hat Er hier nicht die größte Probe von Ergebung in des Vaters Willen abgelegt? So wollte es der Vater haben, und darum war es Ihm, dem Sohne, auch recht; Er war damit zufrieden, in der Armuth, in der Verborgenheit, in täglicher Selbst-Verläugnung, unter Berufs-Geschäften, im Gehorsam gegen Seine Eltern aufzuwachsen und zu bleiben bis in's dreißigste Jahr, achtzehn Jahre lang, und das Alles nur, weil es der Vater so wollte. Liebe Zuhörer, so müssen wir uns auch in den Willen des Vaters ergeben lernen; so müssen wir auch mit Allem zufrieden werden, was der Vater schickt. Dem Heilande ist gewiß in Seinem verborgenen Laufe auch Manches schwer gefallen; oder glaubet ihr, es werde in jenen achtzehn Jahren bey Ihm Alles ohne Anstoß, ohne Kämpfe vorbeygegangen seyn? Glaubet ihr nicht, es werde mancher saure Tritt für Ihn zu machen, manche Last zu tragen, manches Beschwerliche zu überwinden gewesen seyn? O wie viel haben wir darin von Ihm zu lernen; o wie weit bleiben wir zurück hinter Seinen heiligen Fußstapfen; wie ungeduldig sind wir, wenn uns etwas begegnet, das nicht nach unsern Wünschen und unsern Hoffnungen ist. Ich sage dieß nicht von ungläubigen Menschen, denn diese lassen ihrem Zorne über unangenehme Fügungen Gottes meistens ohnehin ganz Raum, und weil sie sich nicht an Gott vergreifen können, brechen sie über ihre Mitmenschen los. Da darf nicht viel gegen ihren Kopf sich ereignen, so theilen sie zornige Blicke und harte Reden an ihre Nebenmenschen aus, sie seyen schuldig oder unschuldig. In wie manchem Hause ist ja selbst die Armuth, die man sich durch Liebe und Sanftmuth erleichtern und versüßen sollte, der beständige Zankapfel zwischen Mann und Weib, zwischen Eltern und Kindern. Von solchen Höllen-Kindern rede ich nicht, nein, ich rede von solchen, welche schon etwas vom Heilande geschmeckt und erfahren haben. O wie schwer fällt es auch ihnen, sich in allen Stücken kindlich, einfältig und demüthig in den Willen Gottes zu ergeben, und auch bey dem Schweren, das ihnen begegnet, nur um so fester an die Hand des Heilandes sich zu schmiegen. Ach, sehet dagegen unsern HErrn JEsus an, den sanften, stillen JEsus, den gehorsamen und ergebungsvollen JEsus.

O stiller Jesu! wie Dein Wille
Dem Willen Deines Vaters stille
Und bis zum Tod gehorsam war;
Also mach' auch gleichermaßen
Mein Herz und Willen Dir gelassen!
Brich meinen eig'nen Willen gar!
Mach' mich Dir gleich gesinnt,
Wie ein gehorsam Kind,
Sanft und stille:
Jesu: ey nu,
Hilf mir dazu,
Daß ich gehorsam sey wie Du!

Ferner ist der Heiland in Seinem achtzehnjährigen Wandel in Nazareth auch ein großes Muster von Herzens-Demuth und Berufs-Treue. Der Vater hat Ihm den Beruf angewiesen, Seinen Eltern zu gehorchen, und das erfüllte Er ganz. Der Evangelist sagte von Ihm: „Er war ihnen unterthan“; Er fügte sich dem Willen Seiner Eltern, und als Sein Pflege-Vater Ihn zu seinem Handwerk anhielt, war Er euch in diesem Stücke gehorsam. Glaubt ihr wohl, Er habe gemurrt, wenn Ihm Sein Pflege-Vater etwas befahl; Er habe gezögert, wenn Seine Mutter Ihm etwas auftrug? Glaubt ihr wohl, wenn Er im Tagelohn arbeitete, habe Er die Leute, welchen Er arbeitete, durch Nichtsthun um eine oder zwey Stunden zu bestehlen gesucht? Glaubt ihr wohl, Er habe nur auf den Lohn gesehen, und nicht auf die Arbeit, oder Er habe nur den Dienst vor Augen versehen, und nicht vor dem Angesicht Seines himmlischen Vaters? Oder glaubt ihr, Er habe im Unglauben gearbeitet, und durch allerley Handwerks-Vortheile getrachtet, noch etwas Weiteres zu erwerben? Oder meinet ihr, Er habe unter den Geschäften des Tages Seines Vaters vergessen, und nachher keine Zeit mehr gefunden zum Umgang mit Ihm? O nein, Er sah nur auf den Willen Seines himmlischen Vaters; in friedsamer Stille aß Er Sein tägliches Bord; Er arbeitete auch im Schweiß Seines Angesichtes, aber nicht mit der unruhigen Hastigkeit, mit der aufgeregten Heftigkeit, wie wir es oft thun, wenn wir befürchten, dieser oder jener Vortheil möchte uns entwischen. Nein, mit der größten Einfalt und in friedlicher Stille des Herzens that Er, was Ihm befohlen war, im Namen Seines himmlischen Vaters.

So wuchs der Heiland auf in Nazareth; so wurde Er ein Jüngling und ein Mann. Hat Er wohl da Seine einzige Erholung im Umgang mit Seines ausgelassenen Alters-Genossen gesucht? Hat Er wohl an unehrbaren Volks-Gesängen Theil genommen? Hat Er sich wohl bey den jährlichen Volks-Gebräuchen als den Ersten hervorgethan? Darin steht ja der Ruhm der jetzigen Jugend: im Fressen und Saufen, im Tanzen und Springen der Vorzüglichste, in schandbarem Geschwätz und Gesang ein Meister, und in gottlosem Leben ein Held zu seyn! Hat wohl der Heiland uns ein solches Vorbild gelassen? Man muß so fragen, weil Diejenigen, welche in der Christenheit und auf Seinen Namen getauft sind, meinen und wähnen, alle jene argen Ausbrüche einer wilden Natur gehören zum Ruhme einer glücklich verlebten Jugend; ja, man möchte wohl glauben, wenn man das Treiben und Toben der jetzigen Jugend betrachtet, der Heiland habe uns kein heiliges, sondern ein satanisches Vorbild gelassen.

O keuscher Jesu! all' Dein Wesen
War züchtig, keusch und auserlesen,
Von tugendvoller Sittsamkeit;
Gedanken, Reden, Glieder, Sinnen,
Geberden, Kleidung und Beginnen
War voller laut'rer Züchtigkeit:
O mein Immanuel!
Mach' mir Geist, Leib und Seel'
Keusch und züchtig:
Jesu, ey nu, hilf mir dazu,
Auch keusch und rein zu seyn wie Du!

Oder glaubt ihr wohl, der Heiland sey ein aufgeblasener junger Mensch gewesen, und habe das Recht dazu, Seinen Eltern den Gehorsam aufzukündigen? Wahrlich, Er hätte Ursache gehabt, höher von Sich zu denken als von Andern. Wenn je ein Mensch Ursache gehabt hätte, sich über Andere hinweg-, und sie hintanzusetzen, so wäre es gewiß Er gewesen. Aber Er war sanftmüthig, einfältig von Herzen und demüthig. O, wie müssen wir uns schämen und beugen vor der selbstständigen Weisheit, vor Dem, in welchem verborgen lagen alle Schätze der Erkenntniß und Weisheit, wenn wir von Ihm lesen, daß Er Sein Leben einrichtete nicht nach eigenem Gutdünken, sondern unterthan war Seinen Eltern in kindlicher Einfalt, nicht Seinen eigenen Willen behauptete und durchsetzte, der doch heilig war und unsträflich, sondern im Gehorsam sich beugte unter den elterlichen Willen in allen Stücken.

Würdigster JEsu, Ehrenkönig!
Du suchtest Deine Ehre wenig,
Und wurdest niedrig und gering;
Du wandelt'st ganz ertieft auf Erden,
In Demuth und in Knechts-Geberden,
Erhubst Dich Selbst in keinem Ding:
HErr, solche Demuth lehr'
Mich auch je mehr und mehr
Stetig üben:
JEsu, ey nu, hilf mir dazu,
Daß ich demüthig sey wie Du!

Sehet, das ist unser Gott! das ist unser Heiland, und wie viel hätte ich noch von Ihm zu sagen; es mag aber damit genug seyn. So sollen wir aber auch werden, wie Er in der Welt war. Entschuldige sich doch Keiner mit der Schwachheit des Fleisches! Diese Entschuldigung möchte etwa wohl gelten, wenn Er nicht gekommen wäre, wenn Er nicht gekämpft und uns damit die Kraft erstritten hätte, daß wir nachfolgen können Seinen Fußstapfen. Aber Er ist selbst vorangegangen, und hat Gaben empfangen, Gaben zur Ueberwindung, Gaben zum Wandel in der Welt, wie Er in der Welt war, und diese Gaben theilt Er aus - Allen, die Ihn darum bitten.

II.

Aber, liebe Zuhörer, wie bringt man es denn dahin, daß man aber so in der Welt ist, wie JEsus in der Welt war? Wenn sich heute unter uns Einer den Vorsatz steckte, und mit aller Anstrengung darnach trachtete, eben so zu werden in der Welt, wie JEsus in der Welt war, eben so ergebungsvoll, eben so still, eben so gehorsam gegen den göttlichen Willen, eben so züchtig, eben so gerecht, eben so demüthig; und wenn er nun glaubte, mit diesem Vorsatz sey es gethan, jetzt wolle er mit Ernst an die Ausführung gehen: der würde einen gar verfehlten Weg einschlagen.

Wer der Heiligung nachjaget,
Und hat kein versöhntes Herz;
Wen's Gewissen noch anklaget,
Daß die Sünd' ihm noch kein Schmerz;
Wen der Glaub' an JEsu Wunden
Noch nicht froh und frey gemacht,
Und zur wahren Ruh' gebracht,
Der hat das noch nicht gefunden,
Woraus nach den Schrift-Ideen
Wahre Menschen Gott's entstehen.

Auf dem Weg des eigenen Wissens und Könnens werden die Füße gar bald matt; man nimmt einen Anlauf um den andern, wagt es immer wieder auf seine eigene Kraft; aber bleibt doch ohne Frieden, ohne wahren Trost, ohne wahre Kraft.

Ich will euch einen andern Weg zeigen, einen Weg der Demüthigung, aber einen Weg der Stärke, die von Gott dem Glauben dargereichet wird.

Frage dich, liebes Herz, kennst du dich
In der Natur so recht jämmerlich?
Kennst du dein Elend und JEsu Wunden,
Hast Du Vergebung gesucht und gefunden
Durch ihren Verdienst?

Siehe, das ist die Hauptsache; denn „der Glaube ist der Sieg, der die Welt überwindet.“ Durch den Glauben an JEsu Wunden wirst du in das Ebenbild des Sohnes Gottes verklärt werden von einer Klarheit zu der andern; durch Sein Blut kannst du nach Leib und Seele genesen, und dich reinigen, gleichwie Er rein ist, auf daß du dich darstellest in der Welt, gleichwie Er in der Welt war. Dazu helfe uns Gott um Seines Namens willen. Amen!

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