Hofacker, Ludwig - Predigt am ersten Sonntage nach dem Feste der Erscheinung Christi

Hofacker, Ludwig - Predigt am ersten Sonntage nach dem Feste der Erscheinung Christi

Über die tiefe Erniedrigung des Sohnes Gottes

Text: Lux. 2,41 - 52.

Und Seine Eltern giengen alle Jahre gen Jerusalem auf das Osterfest. Und da JEsus zwölf Jahre alt war, giengen sie hinauf gen Jerusalem, nach Gewohnheit des Festes. Und da die Tage vollendet waren, und sie wieder zu Hause giengen, blieb das Kind JEsus zu Jerusalem, und Seine Eltern wußten es nicht. Sie meineten aber, Er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagreise, und suchten Ihn unter den Gefreundten und Bekannten. Und da sie Ihn nicht fanden, giengen sie wiederum gen Jerusalem, und suchten Ihn. Und es begab sich nach dreyen Tagen, fanden sie Ihn im Tempel sitzen mitten unter den Lehrern, daß Er ihnen zuhörete und sie fragete. Und Alle die Ihm zuhöreten, verwunderten sich seines Verstandes und Seiner Antwort. Und da sie Ihn sahen, entsatzten sie sich. Und Seine Mutter sprach zu Ihm: mein Sohn, warum hast Du uns das gethan? Siehe, Dein Vater und ich haben Dich mit Schmerzen gesucht. Und Er sprach zu ihnen: was ist's, daß ihr mich gesucht habt? Wisset ihr nicht, daß ich seyn muß in dem, das meines Vaters ist? Und sie verstunden das Wort nicht, das Er mit ihnen redete. Und Er gieng mit ihnen hinab, und kam gen Nazareth, und war ihnen unterthan. Und Seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. Und JEsus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bey Gott und den Menschen.

Was in unserem heutigen Evangelium steht, ist das Einzige, das wir vom Heilande nach Seiner Flucht nach Egypten, von Seinem ersten bis zu Seinem dreißigsten Lebensjahre wissen. Es sind zwar in der christlichen Kirche bald Anfangs Erzählungen aufgebracht worden von Wundern und Thaten, die der Heiland als Kind, Knabe und Jüngling verrichtet haben soll, und, wenn ich mich nicht täusche, sind auch unter unserem Volke solche Wunderbüchlein hin und wieder anzutreffen; aber alle diese Erzählungen haben nicht hinlänglichen Grund in der Geschichte; was wir aus dem Leben des Heilandes von Seinem ersten bis dreißigsten Jahre mit Zuverläßigkeit wissen, ist Alles im heutigen Evangelium enthalten.

Mit welchem Blicke sollen wir nun in das heutige Evangelium hineinsehen? Von welcher Seite sollen wir es betrachten? Wohl hauptsächlich von derjenigen, welche dem Apostel Paulus am ganzen Laufe des HErrn durch diese Welt so besonders auffiel, und die er Philipp. Kap. 2. aussprach: „Christus, ob Er wohl in göttlicher Gestalt war (oder seyn konnte), hielt Er es nicht für einen Raub, Gott gleich seyn, sondern entäußerte sich selbst, und nahm Knechts-Gestalt an, ward gleich wie ein anderer Mensch, und an Geberden als ein Mensch erfunden. Er erniedrigte sich selbst, und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuze.“ Wir betrachten also unter Gottes Beistande nach unserem Evangelium in Verbindung mit diesem Ausspruche des Apostels:

die tiefe Erniedrigung des Sohnes Gottes,

daß Er

  • wie ein anderer Mensch und an Geberden als ein Mensch erfunden wurde;
  • daß Er Knechts-Gestalt annahm.

Würdigster JEsu, Ehren-König!
Du suchtest Deine Ehre wenig,
Und wurdest niedrig und gering.
Du wandelt'st ganz ertieft auf Erden
In Demuth und in Knechts-Geberden,
Erhubest Dich in keinem Ding.

HErr, tief erniedrigter JEsus, laß von Deiner Erniedrigung, daß Du ein Mensch, ja ein Knecht warst, heute einen Segen auf uns hochmüthigen Sünder herabfließen! Amen.

I.

Wenn der Heiland nicht der Sohn Gottes wäre, so könnte man nach dem heutigen Evangelium nicht von Seiner Erniedrigung reden. Es kommen Dinge vor im Evangelium, die beweisen, daß JEsus ein außerordentlicher Mensch war; eine besondere Hoheit und Größe des Geistes blickt aus Ihm heraus. Als ein zwölfjähriger Knabe wird Er von Seinen Eltern nach Jerusalem auf das Osterfest mitgenommen; nach Beendigung des Festes verlieren sie Ihn aus den Augen. Sie denken: Er ist wohl mit den Bekannten vorausgegangen. Sie gehen eine Tagreise weit, finden Ihn aber nirgends. Mit großer Angst kehren sie nach Jerusalem zurück, und finden Ihn endlich nach drey Tagen im Tempel, sitzend mitten unter den Lehrern des Volks, daß Er ihnen zuhörete und sie fragete. Gewiß eine sehr auffallende Sache für einen zwölfjährigen Knaben. Aber noch mehr: der Verstand, den Er hier entwickelte, die Antworten, die Er gab, waren so außerordentlich, daß alle Zuhörer sich darob entsetzten, denn so heißt es eigentlich, dem Grundtexte nach. Voll Erstaunen über diese Sache spricht Seine Mutter zu Ihm: „mein Sohn, warum hast Du uns das gethan? Siehe, Dein Vater und ich haben Dich mit Schmerzen gesucht“, und da gibt Er dann die befremdende, für Seine Eltern geheimnißvolle Antwort: „wisset ihr nicht, daß ich seyn muß in dem, das meines Vaters ist?“ Welche Geistesblitze schlagen aus dem zwölfjährigen Knaben heraus! Man muß sagen: wenn der Heiland nicht der Sohn Gottes wäre, so könnten wir bey diesem Evangelium nur von der Hoheit und Größe des Geistes JEsu reden. Aber eine ganz andere Ansicht von diesem Evangelium gibt es, wenn ein Mensch glaubt: dieser JEsus, von dem im Evangelium die Rede ist, ist der Sohn Gottes, der Schöpfer aller Dinge, Der, durch welchen der Vater einst sprach: „es werde Licht“, und es ward Licht; oder wie es im Propheten Jesaias steht: „der Vater der Ewigkeiten, Der, so die Zeit und die Ewigkeiten trägt, und aus sich selbst herausgeschaffen und geboren hat.“ Denn wenn Er das ist - und das ist Er - so können wir nicht anders, wir müssen uns über die Tiefe der Erniedrigung, in die sich der Sohn Gottes hinabgelassen hat, und die auch unser Evangelium predigt, verwundern und entsetzen. Ist Er das, dann müssen wir auch bey diesem Evangelium mit dem seligen Hiller sagen:

Wie tief ließ JEsus sich herunter!
Kein Mensch, kein Engel war so klein;
Vor unsern Augen ist's ein Wunder,
Der Sohn soll so erniedrigt seyn.

„Da JEsus zwölf Jahre alt war“ - heißt es in unserem heutigen Evangelium. Der Gott aller Götter, der Abglanz der Herrlichkeit des Vaters, das Ebenbild Seines Wesens, der Jehovah, der bey dem Vater Herrlichkeit hatte, ehe der Welt Grund gelegt war (Joh. 17,5.), und Dem nun Alles unter Seine Füße gethan ist, alle Herrschaft, alle Gewalt, alle Macht, alle Fürstenthümer und Alles, was genannt mag werden, nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen (Ephes. 1,21.22.), mein Gott und mein HErr - war also einst ein Knabe von zwölf Jahren. Eine erstaunliche Wahrheit! Wir sind in der Sache zu gewohnt; wir haben sie zu oft gehört; wir sind in diesen Begriffen aufgewachsen; man hat sie uns in der Schule und in der Kirche unzählige Mal beyzubringen gesucht! wir fühlen die Kraft und Schwere dieser Wahrheiten nimmermehr. Es geht uns damit wie mit den Werken Gottes in der Schöpfung; man wächst so darin auf; durch die Gewohnheit, durch die Zeit verlieren diese großen Offenbarungen Gottes nach und nach den Reiz der Neuheit und eben damit ihre Kraft an unsern Herzen. Wer unter uns wundert sich darüber, daß die Sonne täglich aufgeht, daß sie Alles erleuchtet und erwärmt? Wer wundert sich darüber, daß, wenn man ein Samenkorn in die Erde legt, ein Halm oder ein Baum daraus entsteht, ob es gleich kein Weiser dieser Erde bis jetzt so weit gebracht hat, diesen großen Prozeß der Natur zu erklären? Es ist eine eigene Kraft Gottes dazu erforderlich; ein jeder Fruchthalm, der aus der Erde herauskommt, ist ein Wort des allmächtigen Gottes an uns, und wahrlich! wir säen und ernten großentheils gedankenlos, weil wir es zu gewohnt sind. Wer wundert sich darüber, daß Gott die Erde mit Schnee bedeckt wie mit Wolle? Wir schreiten gedankenlos auch über diese Offenbarung Gottes hinweg, weil wir es gewohnt sind. Und so geht es auch mit dem Evangelium, mit den großen Wahrheiten der Bibel. ich erinnere mich, in der Beschreibung der Reise eines Engländers in das Innere von Afrika einmal gelesen zu haben, daß der Reisende einem Afrikaner, der in den heißesten Gegenden geboren war, erzählte: in seine, des Engländers, Vaterlande gebe es Zeiten, wo das Wasser so fest werde, daß man es mit einem Hammer zerschlagen müsse. Dieß wollte der Afrikaner durchaus nicht glauben, weil es ihm gegen die Natur des Wassers zu streiten schien. Wie dieser Mensch die Erzählung vom festen Wasser, vom Eise, so höret ihr nun auch heute die große, die erstaunliche, die anbetungswürdige Wahrheit: das Wort, das von Anfang war, und durch das alle Dinge gemacht sind, ist einmal ein Knabe von zwölf Jahren gewesen.

So unbegreiflich jenem Afrikaner die Erzählung vom Eise war, weil Festigkeit ihm gegen die Natur des Wassers zu streiten schien: so unbegreiflich, ja noch widersinniger für die natürlich, unerleuchtete Vernunft ist das, daß der Ewige, der vor aller Zeit ist, soll ein Knabe von zwölf Jahren gewesen seyn. Aber, wollte Gott! diese Wahrheiten fielen euch nur einmal als recht widersinnig auf, daß ihr recht stutzig darob würdet; so kämet ihr doch aus eurer Gedankenlosigkeit heraus, und in ein vielleicht ewig heilsames Nachdenken hinein. Nun höret weiter - ist Er ein Knabe gewesen, so ist Er vorher ein Kind gewesen, und nachher ein Jüngling und ein Mann geworden; so hat Er sich's also gefallen lassen, alle Entwickelungs-Stufen des Menschen hindurch zu gehen, nach Leib und nach Seele. Man hat meistens falsche Gedanken hierüber, wenn man sich den Heiland auch vorstellt als einen Knaben dem Körper nach; wenn man sich Ihn auch denkt als so klein, wie ein Knabe ist: so denkt man sich doch Seinen Geist nicht als knabenhaft; man stellt sich die Sache nicht so vor, wie wenn in diesem kleinen Körper ein Manns-Verstand, ja noch mehr, göttliche Allwissenheit und Allmacht, göttliche Eigenschaften gelegen hätten. Ist's nicht so, liebe Zuhörer? habt ihr nicht solche Gedanken von eurem Heilande? ich frage die, welche überhaupt schon über das Evangelium nachgedacht haben, nicht diejenigen, welche an den großen Wahrheiten des Evangeliums bis jetzt vorübergegangen sind wie ein Lastthier, das an dem schönsten Kunstwerke vorübergeht, und dabey nach seinem Futter seufzt. Die Nachdenkenden unter uns frage ich: haben nicht wenigstens Einige unter euch bis jetzt sich den Heiland so gedacht, daß Er ein Knabe gewesen sey dem Körper, aber nicht so dem Geiste nach? Allein sehet, dieß ist weit gefehlt. JEsus war in Seinem zwölften Jahre ein Knabe, wie hier zwölfjährige Knaben sind; Er mußte wachsen an Körper und Geist, wie wir wachsen müssen; Er mußte lernen, wie wir lernen müssen; Er wußte nicht Alles zum Voraus; wir sehen es in unserem heutigen Evangelium, wie Er im Tempel drey Tage lang lernte; Er saß da unter den Lehrern des Volks, ihnen zuzuhören und sie zu fragen; es war Ihm darum zu thun, etwas von ihnen zu lernen. Zwar kann man nicht läugnen, daß schon in diesem Kindes-Alter etwas Besonderes aus Ihm herausgeblickt und gesprochen habe; eine besondere, für Knaben von Seinem Alter ungewöhnliche Weisheit, Einfalt und Liebe zur Wahrheit, Blicke in die Wahrheit, wie sie nur in einem Menschen entstehen können, der nicht, wie wir, in Sünden empfangen und geboren ist, bey welchem keine verborgene Lust noch Liebe zur Sünde das Auge von seiner Einfalt und Klarheit verrücken, und den Blick in die Wahrheit verdunkeln könnte. Aber von göttlichen Eigenschaften war nichts zu sehen; Er hatte sich derselben entäußert; Er hatte sie vor sich und Andern verborgen; der Heiland war eben ein Knabe und hatte alle übrigen Eigenschaften eines Knaben an sich bis auf die Sünde, - ein heiliger Knabe; aber ein Knabe.

Liebe Zuhörer! lassen wir nun an unserem Blicke vorübergehen den Sohn Gottes in Seinen verschiedenen Entwicklungs-Stufen. Das muß vorausgesetzt werden, daß der Sohn Gottes aus Liebe zum gefallenen Menschen-Geschlechte beschlossen hatte, Mensch zu werden, sich in unser armes Fleisch und Blut einzukleiden. Diesen Entschluß vorausgesetzt, hätte Er können sogleich als vollkommener Mensch in diese Welt eintreten wie Adam, nicht als Kind, sondern als Mann. Aber das wollte Er nicht, das lag nicht im Rathschlusse des Vaters. Er beschloß, alle Entwicklungs-Stufen der Menschheit zu durchgehen; Er wollte sich in allem Seinen verlornen Brüdern gleichstellen! Er wollte geboren werden wie wir, ein Kind werden wie wir, ein Knabe werden wie wir, ein Jüngling werden wie wir, ein Mann werden wie wir; Er wollte die Zeit eines ganzen Menschenalters (denn zu einem Menschenalter rechnet man 33 Jahre und etwas darüber, und so lange lebte der Heiland gerade auf der Welt) auf dieser Erde durchleben, auf daß Er ein in Allem wohl versuchter Hoherpriester würde, der Mitleiden haben könnte mit unserer Schwachheit, mit unserer Kinder-Schwachheit, mit unserer Knaben- oder Mädchen-Schwachheit, mit unserer Jünglings- oder Jungfrauen-Schwachheit, mit unserer Männer- oder Weiber-Schwachheit; damit Er die Sünden aller Alter und aller Geschlechter trüge; damit Er für alle Alter und alle Geschlechter Kraft erwürbe, zu seyn in dieser Welt, wie Er in der Welt war; damit Er Ihm ein Volk zum Eigenthum heiligte aus allen Altern und Geschlechtern. So kam Er auf die Welt auf dem nämlichen Wege wie wir; so lag Er an Seiner Mutter Brüsten, wie wir an unserer Mutter Brüsten gelegen haben; so war Er ein eben so schwaches und Pflege-bedürftiges Kind wie andere Menschen in ihren ersten Lebens-Monaten; so erwachte Er nach und nach zum Bewußtseyn; so lernte Er Anfangs einige Worte aussprechen, sodann reden; so mußte Er lesen lernen wie wir; so wurde Er ein Knabe; entwickelte sich, wurde ein Jüngling, ein Mann wie andere Menschen: nur ohne Sünde. Er wollte ganz unsern Gang durch diese Welt machen; was Paulus von sich sagt (1. Kor. 13,11.), ist ganz auf den Sohn Gottes anwendbar: „da ich ein Kind war“ - sagt Paulus - „da redete ich wie ein Kind, und war klug wie ein Kind, und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, that ich ab, was kindisch war“, so auch der Sohn Gottes, doch ohne Sünde. Mit andern Worten: JEsus Christus war ein wahrer Mensch, so gewiß ein Mensch, als wir Menschen sind.

O Tiefe! da wir uns entsetzen,
Wir sehen dir nicht auf den Grund,
Doch füllt mit zitterndem Ergötzen
Der Glaube unsern schwachen Mund;
In solche Tiefe stieg der Sohn;
Gott Lob! wir leben jetzt davon.

Liebe Zuhörer! wer das recht bedenkt und glaubt, der kann nicht anders, er muß in rechtes Staunen über diese tiefe Erniedrigung des eingebornen Sohnes vom Vater hineinversinken. Das beugt nieder; das beugt auf die Kniee vor Ihm; das zerschmelzt und zerbricht alle Härtigkeit unseres hochmüthigen Herzens. Sieh', liebe Seele! das Kind, das in Windeln gewickelt in der Krippe liegt in Bethlehem; das Kind, das nicht denken, keine Begriffe zusammenfassen kann, endlich lallen, endlich Worte herstammeln, endlich reden lernt; der Knabe, den du in Jerusalem siehest, dieser wahrhaftige Knabe, der Jüngling, der Mann JEsus, der wahrhaftige Mensch, siehe, das ist dein Gott, der Gott aller Götter. Das ist Der, so die Sterne herausführet nach ihrer Zahl, das ist Der, vor den David hinsteht und spricht: „was ist der Mensch, daß Du seiner gedenkest, und des Menschen Kind, daß Du Dich seiner annimmst?“ das ist Der, zu dem Abraham sagt: „Ich habe mich unterwunden, mit Dir zu reden, ob ich gleich Erde und Staub bin;“ das ist Der, vor dem alle Engel anbeten, und zu Dessen Füßen die Aeltesten, die um Seinen Thron sind, ihre Kronen hinwerfen, weil Er allein der Krone und der Ehre würdig ist. Und woher diese Verwandlung? Woher dieses tiefe Herabsteigen in unsere Menschheit? Dieß hat die Liebe gethan, die Liebe zu uns.

Dieß hat Er Alles uns gethan,
Sein' große Lieb' zu zeigen an:
Deß freu' sich alle Christenheit.
Und dank' es Ihm in Ewigkeit.

Aber o welche harte Rede für die unerleuchtete Vernunft! Darüber stutzt und flucht die Natur; es ist ihr unerträglich; es ist ihr ein Geruch des Todes zum Tode, ein tödtlicher Todten-Geruch, vor dem sie eckelt, darüber sie sich entsetzt, den sie nicht in ihrer Nase leiden mag. Man darf sich gar nicht wundern, wenn in unsern, wie sie sagen, erleuchteten Tagen dieß große Wort von der Menschwerdung Gottes, daß Gott ein Mensch und uns in Allem gleich geworden sey, als Unsinn, als thörichter Unsinn, als die strafbarste Verletzung des gesunden Menschen-Verstandes ausgeschrieen und ausposaunt wird, mündlich und schriftlich. Man darf sich nicht wundern, wenn es auf den großen Zorn Satans hinausliefe, so bliebe es nicht bey'm Schelten und Schimpfen; es käme zu Beil und Feuer: denn dieß letztere ist seine Lust (Joh. 8,44.); aber er darf noch nicht; der es aufhält, ist noch nicht hinweggethan.

Es ist immer noch das Nämliche wie zu der Zeit des Heilandes; es sind die nämlichen Herzen wie damals. Als JEsus, der Mensch JEsus, mit Seinem Menschenkörper im Tempel stand und zu den Juden sagte: „Ich und der Vater sind Eins,“ da hoben sie Steine auf, Ihn zu tödten; und da Er sprach: „ehe Abraham war, bin Ich“, da hoben sie wieder Steine auf, und so gelüstet sie es noch jetzt, Steine gegen Ihn, oder wenigstens gegen Seine Zeugen aufzuheben, wenn sie nur dürften. Aber was ist denn der Grund dieser Feindschaft, dieses Widerwillens gegen das Wort von der Menschwerdung Gottes? Antwort: „der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes, es ist ihm eine Thorheit, und kann es nicht erkennen, denn es muß geistlich gerichtet seyn“ (1. Kor. 2,14.). Aber warum vernimmt er nichts davon? Antwort: „will er den Geist Gottes nicht hat.“ Aber warum hat er den Geist Gottes nicht? „Gott will ja, daß allen Menschen geholfen werde, und sie Alle zur Erkenntniß der Wahrheit kommen.“ Antwort: weil er widerstrebt. Aber warum widerstrebt er? Antwort: weil der Geist Gottes ein Geist der Wahrheit ist, der in alle Wahrheit leiten will, der allen Trug, alle Lügen, alle Einbildungen des eigenen Herzens in ihrer Thorheit aufdeckt, dessen Arbeit darauf hingeht, dem Menschen zu zeigen, was er ist, daß er nämlich ein fluch-, ein höllenwürdiger Sünder ist, das heißt, dem Menschen die Wahrheit zu zeigen. Sehet, dieß will man nicht gelten lassen; diese Wahrheit liegt, wie das Herz wohl fühlt, auch in der Lehre von der Menschwerdung Gottes, und daher diese Empörung. So lange ein Mensch in einer, wenn auch nur stillen, verborgenen Einbildung von sich selbst stehet, so lange ist er im Grunde seines Herzens ein Feind Dessen, der Mensch wurde, um Sünder selig zu machen; er mag es glauben oder nicht, so lange ist ihm das Evangelium ein Geruch des Todes zum Tode. O Seelen! gehet doch nicht so gedankenlos dahin! besinnet euch doch, wie ihr mit dem wunderbaren JEsus stehet; denket darüber nach, was für Bewegungen in eurem Herzen während dieses Vortrages schon entstanden sind. Das sage ich: nur ein armer, ein recht blutarmer Sünder faßt, was ich bisher gesagt habe.

O ich Sünder; ich Verdammter!
Ich von Sündern Abgestammter!
Was wollt' ich von Troste wissen,
Wäre dieses weggerissen,
Daß ich einen Heiland habe,
Der vom Kripplein bis zum Grabe
Auf dem Thron, da man Ihn ehret,
Mir, dem Sünder, zugehöret!

Ja, ich muß es bekennen: wenn ich sollte gerettet, wenn mein sündiges Leben sollte gut gemacht, und eine ewige Gerechtigkeit mir erworben werden, so war der ganze Lauf des Heilandes, meines Mittlers und Bürgen, von der Krippe bis zum Kreuz, die nothwendigste Sache von der Welt; so ist kein Tritt von Ihm zu viel; keine Erniedrigung zu groß, um die Größe meiner Schmach auszuwischen.

O was für ein Trost liegt in dem Worte, das wir betrachtet haben, für einen armen Sünder! was für eine Kraft liegt darin!

So hat also JEsus durch Seine Kindheit meine Kindheit, durch Sein Knaben-Alter mein Knaben-Alter, durch Sein Jünglings-Alter mein Jünglings-Alter, durch Sein Mannes-Alter mein Mannes-Alter geheiligt; so ist Er also durch alle Alter hindurch mir für den Riß gestanden, so hat Er mir für jedes Alter die Kraft erworben, in Seine Fußstapfen zu treten, daß ich nicht mehr ein Knecht der Sünde seyn muß, sondern sie überwinden kann durch die Kraft Seines Verdienstes. Ein alter, erfahrner Christ sagte einmal in seiner Einfalt zu mir: „es ist mir darum zu thun, daß mir alle die Kapitalien, die mir durch Seinen dreyunddreyßigjährigen Wandel der Sohn Gottes auf Erden erworben hat, auch ausbezahlt werden möchten.“ Ein großes Wort! Der Reichthum Christi ist unerschöpflich; wer klug ist: nimmt daraus Gnade um Gnade.

II.

Lasset uns nun aber auch noch kurz nach unserem Evangelium betrachten: wie der Heiland ein Knecht ward.

Was wir aus dem Leben des Heilandes von Seinem zwölften bis zum dreyßigsten Jahre wissen, das ist Alles beschrieben im heutigen Evangelium. Aus einer Stelle im Evangelium Marci (6,3.) läßt sich noch einiges Weitere schließen. Dort sagen nämlich die Einwohner von Nazareth, wie sie den Heiland lehren hören: „woher kommt Diesem solche Weisheit? Ist Er nicht der Zimmermann, dessen Vater und Mutter und Anverwandte wir kennen?“ So haben wir also die Nachricht vom Heilande, daß Er von Seinem zwölften bis zum dreyßigsten Jahre in Nazareth gelebt, Sich im Gehorsam gegen Seine Eltern geübt, und das Handwerk Seines Vaters getrieben habe.

Liebe Zuhörer! lasset uns noch ein wenig bey dieser Nachricht verweilen.

Die spitzige Vernunft sagt: warum ist mir nicht mehr von dem Leben des Sohnes Gottes beschrieben? Ich dächte doch: wenn Er der Sohn Gottes ist, so sollte Seine Geschichte nicht so leicht über achtzehn Lebens-Jahre hinüberspringen. Warum ist also nicht mehr von Ihm geschrieben? Antwort: weil Er in dieser Zeit sonst nichts Merkwürdiges gethan hat. Aber, sagt die spitzige Vernunft, warum hat Er sonst nichts Merkwürdiges gethan? Gab es denn keine Zimmerleute mehr in der Welt, die den Nazarenern ihre Häuser und Hütten bauen konnten? Was ist dieß für eine Beschäftigung für den Menschgewordenen Schöpfer der Welt? Antwort: So war's der Wille des Vaters. - So war also die ewige Liebe achtzehn Jahre in der Welt, im verachtetsten Städtchen von Galiläa, in der Stille, in der Verborgenheit, als ein armer Handwerksmann, als ein Seinen Eltern gehorsamer Mensch; - wo Ihn Sein Vater hinschickte, da gieng Er hin; was Ihm aufgetragen ward, das verrichtete Er getreulich; - so lebte Er dahin unbemerkt, unbekannt, unerkannt; vielleicht kein Nazarener erkannte Ihn; selbst Seine Brüder glaubten nicht an Ihn (Joh. 7.); so sehr verbarg Er Seine Herrlichkeit: - da möchte Einem der Verstand stille stehen.

Ja, stehe nur still, Verstand! du aber, Herz, staune, bete an, beuge dich zu den Füßen des Demüthigsten unter allen Menschen-Kindern. O was sieht aus diesem Betragen des Heilandes heraus? welch' ein Gehorsam gegen Seinen Vater im Himmel, welch' eine Demuth, welch' eine Liebe zu den Menschen! Er wußte schon in Seinem zwölften Jahre, woher Er kam, und wer Er war; Er sah diese achtzehn Jahre lang das Elend Seines Volkes; Er mußte Gotteskräfte in sich fühlen, und doch schweigt Er; doch verhält Er sich still und ruhig, und arbeitet auf Seinem Handwerke, wie wenn Er nur dazu geboren wäre, und ist Seinen Eltern gehorsam, ob Er sie gleich unendlich weit übersieht. Es ist erstaunlich. Dieser Gehorsam, diese Demuth geht über alles menschliche Denken weit, weit hinaus. Was sind wir dagegen? Wie müssen wir uns schämen vor Ihm! Kaum glauben wir etwas besser zu wissen als unsere Umgebung oder Mitmenschen, so können wir unsere Weisheit schon nicht mehr zurückhalten; sie muß heraus; sie muß der Welt vor Augen gelegt seyn; das Herz oder der Kopf will uns zerspringen, bis unsere Weisheit ausposaunt ist. Er aber, der Weiseste unter Allen, schweigt achtzehn Jahre, wie wenn Er nichts wüßte, weil es der Wille des Vaters so ist.

O stiller JEsu! wie dein Wille
Dem Willen Deines Vaters stille,
Und bis zum Tod gehorsam war:
So mache Du auch gleichermaßen
Mein Herz und Willen Dir gelassen;
Ach! stille meinen Willen gar,
Mach' mich Dir gleichgesinnt
Wie ein gehorsam' Kind,
Stille, stille! JEsu, ey nu,
Hilf mir dazu,
Das ich fein stille sey wie Du.

Da sieht man, daß Er nicht Seine Ehre gesucht hat, sondern die Ehre des Vaters, der Ihn gesandt hatte. Denn hätte Er das gethan, so hätte Er wohl anders gehandelt. O wie hat Er dadurch unsern Hochmuth gebüßt! Welch' Beispiel der reinsten Demuth hat Er uns gegeben! Wie hat Er uns zur Treue im Kleinen angewiesen! Welche wahre, unschwärmerische Liebe zu den Seelen der Menschen hat Er hier an den Tag gelegt, indem Er eben auf dem Ihm vom Vater vorgeschriebenen Wege das Werk der Erlösung Seiner gefallenen Brüder vollenden wollte!

Wie gefällt euch dieser Mann, liebe Seelen? Wie gefällt euch dieser gehorsame, dieser stille, dieser niedrige Nazarener? Wie gefällt euch dieser Zimmermann? Besinnet euch wohl, denn es kommt Alles darauf an, in Zeit und Ewigkeit, wie euch dieser Mann gefällt. „Siehe, Dieser ist gesetzt zum Fall und Aufstehen Vieler, und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird.“

O wie Viele haben sich schon an Seiner Niedrigkeit geärgert! Wie Vielen ist schon dieser Zimmermann aus Nazareth zum Anstoße geworden, worüber sie auf ewig gefallen sind! Und wie Viele haben sich schon an Ihm aufgerichtet!

Lamm, Du bist's werth für Deine Todes-Müh', für Deinen Gehorsam gegen Deinen Vater, für Dein verborgenes und verachtetes Leben, für Deine Treue im Kleinen, dafür, daß Du ein Mensch, ja ein Knecht wurdest um unsertwillen, dafür bist Du's werth:

Daß Dich jeder Blutstropf' ehre,
Daß das Herz stets nach Dir glüh',
Jeder Pulsschlag Dein begehre,
Und das Herz stets für und für
Hange ganz allein an Dir.

Amen!

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