Hofacker, Ludwig - Predigt am ersten Sonntag des Advents
Text: Matth. 21,1-9
Da sie nun nahe bey Jerusalem kamen gen Bethphage an den Oelberg, sandte JEsus Seiner Jünger zween, und sprach zu ihnen: gehet hin in den Flecken, der vor euch liegt, und bald werdet ihr eine Eselin finden angebunden, und ein Füllen bey ihr; löset sie auf, und führet sie zu mir. Und so euch Jemand etwas wird sagen, so sprechet: Der Herr bedarf ihrer; so bald wird er sie euch lassen. Das geschah aber Alles, auf daß erfüllet würde, das gesagt ist durch den Propheten, der da spricht: saget der Tochter Zion: siehe, dein König kommt zu dir sanftmüthig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen der lastbaren Eselin. Die Jünger giengen hin, und thaten, wie ihnen JEsus befohlen hatte; und brachten die Eselin und das Füllen, und legten ihre Kleider darauf, und setzten Ihn darauf. Aber viel Volks breitete die Kleider auf den Weg; die Andern hieben Zweige von den Bäumen, und streuten sie auf den Weg. Das Volk aber, das vorgieng und nachfolgete, schrie und sprach: Hosianna dem Sohne Davids; gelobt sey, der da kommt in dem Namen des HErrn! Hosianna in der Höhe!
Gott sey Dank in aller Welt,
Der Sein Wort beständig hält
Und der Sünder Trost und Rath
Zu uns her gesendet hat.
Was der alten Väter Schaar
Höchster Wunsch und Sehnen war
Und was sie geprophezeiht:
Ist erfüllt mit Herrlichkeit.
In diesen zwey Versen ist die ganze Bedeutung unseres heutigen Festes ausgesprochen. Advent ist ein lateinisches Wort und heißt auf deutsch: Ankunft. Wir feiern heute das Fest der Ankunft des Herrn. Daß der Messias gekommen ist; daß Er noch kommt im Worte, in den Sacramenten, durch den Geist; daß Er wieder kommen wird in der Herrlichkeit; mit andern Worten, daß es eine Anstalt zur Errettung und Beseligung der Sünder, ein Reich Gottes gibt, auf dessen völligen Anbruch man von dem Falle der Menschen an fast 4000 Jahre lang warten mußte, das in Christo offenbar geworden ist, das noch fortbesteht und fortbestehen wird, bis es durch die nochmalige Erscheinung Christi wird in ein Reich der Herrlichkeit verwandelt werden; - dieß, liebe Zuhörer, ist die große Wahrheit, welche in der Adventszeit unsern Herzen zum Dank, zur Freude und zum Genusse werden soll.
Der Messias ist gekommen. Der Mann, auf den die Väter des alten Bundes sehnsuchtsvoll warteten, der Mann, auf welchen die Juden bis auf die heutige Stunde noch warten, weil die Decke Mosis vor ihren Augen hängt; - Dieser ist gekommen. Lasset uns freuen und fröhlich seyn; wir dürfen nun keines andern mehr warten; der Immanuel ist da, Sein herrliches Gnadenreich ist da. Dieß haben wir im verflossenen Kirchenjahr an unsern Herzen erfahren; dieß sollen wir auch in diesem neuen Kirchenjahre auf's Neue inne werden, und heute, gleich am Anfang desselbigen eben diese große Wahrheit in's Auge fassen, daß der Messias erschienen sey. Wir wollen zu dem Ende den fünften Vers unseres evangelischen Abschnittes näher betrachten, und ich werde reden über die Worte:
“Saget der Tochter Zion: siehe, dein König kommt zu dir sanftmüthig, und reitet auf einem Esel, und auf einem Füllen der lastbaren Eselin.“
O Immanuel, Du Sonne der Welt, laß es nicht umsonst seyn an uns, daß Du aufgegangen bist und scheinest. Treibe uns auf aus den finstern Löchern, wohin wir uns allezeit wieder verkriechen möchten, weil wir finster sind von Natur. Du kennest unsere Finsterniß. Oeffne uns die Augen, und durchscheine uns bis auf den Grund; sonst bleiben wir Kinder der Nacht! Amen.
Sechs Tage vor Seinem blutigen Tode zog der Heiland feierlich als der König Israels in Jerusalem ein. Die näheren Umstände dieses letzten feierlichen Einzugs beschreiben uns die Evangelisten sehr umständlich. In Bethphage, unweit Jerusalem, sendete Er zwei Seiner Jünger in einen benachbarten Flecken, daß sie Ihm von dort ein Eselsfüllen bringen sollten, auf welchem noch nie ein Mensch gesessen hatte. Als sie Seinen Befehl ausgerichtet hatten: so setzten sie Ihn auf dieses Eselsfüllen, und so fieng er an, Sich Jerusalem reitend zu nähern. Das Volk aber, das dabey gewesen war, da Er Lazarum von den Todten auferweckt hatte, gieng mit Ihm und rühmte die That. Aus diesem freudigen Rühmen entstand bald durch die Anregung des Heiligen Geistes eine noch größere Bewegung. Sie breiteten ihre Kleider auf den Weg, auf welchem JEsus einherritt; sie hieben Zweige von den Bäumen, und streueten sie auf den Weg und endlich brach die ganze Menschenmenge, die vorgieng und nachfolgete, in ein lautes, freudiges Jauchzen aus: sie schrieen und sprachen: „Hosianna dem Sohne Davids (HErr, hilf dem Sohne Davids, daß Er nämlich Sein Reich einnehmen kann); gelobet sey, der da kommt im Namen des HErrn! Hosianna in der Höhe!“ Sie erkannten den Heiland als den Messias, als den König Israels; aber sie fühlten auch, daß Sein Reich nur vermöge besonderer göttlicher Hülfe durch alle entgegenstehenden Schwierigkeiten, besonders hinsichtlich Seiner Feinde, durchbrechen könne. Auch eine große Menge Kinder gesellte sich zu den Alten, und sie schrieen, als Er schon durch die Thore eingeritten und im Tempel angekommen war, unaufhörlich fort: „Hosianna dem Sohne Davids!“ Ueber dieser Sache kam die ganze Stadt Jerusalem in große Bewegung und Aufregung. Wer ist Der? fragt Einer den Andern; und da war die Antwort: das ist JEsus, der Prophet von Nazareth in Galiläa. So ist JEsus Seinem Volke als sein König, sein längst verheißener König, dargestellt worden. Dieß Alles aber ist geschehen, setzt der Evangelist Matthäus hinzu, auf daß erfüllet würde, das gesagt ist durch den Propheten (Sacharja 9,9), der da spricht: „Saget der Tochter Zion: siehe, dein König kommt zu dir sanftmüthig, und reitet auf einem Esel, und auf einem Füllen der lastbaren Eselin.“ Oder, wie es eigentlich im Propheten heißt: „du Tochter Zion, freue dich sehr, und du Tochter Jerusalem jauchze! siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm, und reitet auf einem Esel und auf einem jungen Füllen der Eselin.“
Schon lange hatte die Tochter Zion, d.h. die Kirche Gottes vor Christo, nach der Erscheinung ihres Königs geseufzt. Sie hatte die Verheißung, daß Er kommen werde; aber Er kam lange nicht. Im Paradiese schon war den gefallenen Menschen der Weibessame versprochen worden, der der Schlange den Kopf zertreten sollte. Sie wartete mit Sehnsucht auf ihn. Als Eva ihren ersten Sohn gebar, da meinte sie, dieser schon werde der verheißene Sohn Gottes seyn; sie nannte ihn deßhalb „Kain“ - „denn, sprach sie, ich habe einen Mann (einen männlichen Nachkommen) erlangt, nämlich den Herrn (1. Mos. 4,1.).“ Aber Kain war so wenig der Schlangentreter, daß er vielmehr zum Samen der Schlange gehörte. Lamech, der Vater Noah's; hieß seinen Sohn - Noah, d. h. Trost, „denn, sprach er, dieser wird uns trösten in unserer Mühe und Arbeit auf Erden, die der Herr verflucht hat (1. Mos. 5,29).“ Offenbar hoffte er, dieser sein Sohn werde der verheißene Erlöser der Menschen seyn. Aber Er kam noch nicht. Das alte Menschengeschlecht wurde durch Wasser verderbt, und ein neues Geschlecht kam auf aus den Söhnen Noah's. Von nun an wurden die Verheißungen bestimmter. Abraham erfuhr, daß Der, durch welchen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden sollten, aus seinen Nachkommen seyn werde (1. Mos. 22,16-18.). Jakob, als er seine Füße zusammenlegte auf's Bett, um zu sterben, und vorher seine Söhne segnete, sahe im Geiste den Messias aus dem Stamm Juda emporsteigen, den Helden, den Friedensfürsten, dem die Völker anhangen werden, und weissagte von Ihm (s. Jos. 49,10.). Moses weissagte von dem großen Propheten, den der HErr erwecken, und dem Er Seine Worte in dem Mund geben werde (Apg. 3,22. 5. Mos. 18,18.19.), und verstand darunter den Heiland. David schlug seine Harfe gar oft zu Ehren seines großen Enkels und Nachfolgers auf seinem Stuhle, wie in den Psalmen zu lesen ist. Alle Propheten weissagten von Ihm, und nicht nur die Propheten, sondern das ganze alte Testament. Da war das Gesetz, durch welches man nicht konnte gerecht werden; da war die Schattenanstalt des levitischen Gottesdienstes, wo unter mancherley Bildern und Gestalten die Herrlichkeit des neutestamentlichen Hohenpriesterthums abgebildet war, welche aber doch die Gewissen nicht vollenden konnte; da war so mancher innere und äußere Druck, so, daß sich durch die ganze alttestamentliche Zeit hindurch immer lauter und lauter in den Herzen der wahren Israeliten der Seufzer entwickelte: „ach! daß der HErr käme, und sein gefangen Volk erlösete.“ Aber der HErr kam lange nicht. Ein Jahrzehend um das andere, ein Jahrhundert, ja ein Jahrtausend um das andere liefen ab, ohne daß Er erschien. Vielen Propheten und Königen, die Ihn zu sehen begehrten (Luc. 10,24.), wurde dieß nicht zu Theil; sie mußten dahinfahren, ohne die Verheißung zu sehen, darum, daß Gott etwas Besseres für uns zuvor versehen hatte, damit sie nicht ohne uns vollendet wurden. Endlich kam Er, der längst Ersehnte, und darum bricht der Prophet in so große Freude aus, wie er Ihn im Geiste kommen sieht: „du Tochter Zion, freue dich sehr, und du Tochter Jerusalem, jauchze; siehe, dein König kommt zu dir.“ Oder, wie es im heutigen Evangelium heißt: saget es der Tochter Zion, saget es ihr, verhehlet es ihr nicht, verkündet es ihr doch, die große und angenehme, die herrliche Nachricht: „dein König kommt zu dir“, oder wie Jesajas seine unaussprechliche Freude über dieses frohe Ereigniß kund werden läßt: „Zion, du Predigerin, steige auf auf den hohen Berg; Jerusalem, du Predigerin, hebe deine Stimme mit Macht, hebe auf und fürchte dich nicht; sage den Stämmen Juda: siehe, da ist euer Gott“ (Jesaj. 40,9.)
Liebe Zuhörer! dieses Wort des Propheten: „siehe dein König kommt zu dir“, geht auch uns an. Die Tochter Zions ist nicht nur die Kirche des alten Testaments, sondern auch die Kirche des neuen Testaments; und nicht nur einmal ist der Heiland zu Seinem Zion als König gekommen, sondern Er bietet sich seit 1800 Jahren, seit Er sich zur Rechten des Vaters gesetzt hat, den Menschen immerwährend als König an, will Seinen königlichen Einzug immerwährend in die Herzen halten. Wie Er hier Jerusalem sagen läßt, daß Er zu ihr komme: so läßt Er in der ganzen neutestamentlichen Zeit durch Seine Apostel und die nachfolgenden Zeugen und Knechte den Menschen sagen, daß Er gerne in ihr Herz als ihr König einziehen möchte; wie Er sich hier Jerusalem nähert: so nähert Er sich seit 1800 Jahren den herzen Derer, die Sein Wort hören; wie Er hier zu den Thoren von Jerusalem voll Sanftmuth und Liebe als der König des Friedens einzieht: so macht Er Wohnung in allen Herzen, die Ihm sich aufschließen. So ist's geschehen am ersten Pfingsttage an den Aposteln und vielen Andern; so ist's geschehen schon an vielen Millionen Seelen, die bereits vor dem Throne Gottes und des Lammes stehen; und so soll es auch geschehen an uns. Wer Ihn als den rechtmäßigen Herzens-König anerkennt, wer Ihm eben darum willig die Thüre aufthut. zu dem geht Er ein, und hält das Abendmahl mit ihm. Was hier in Jerusalem geschah, das ist ein Bild und äußere Darstellung Seines unsichtbaren Kommens in die Herzen; es gilt seit 1800 Jahren, und wird gelten, bis Er kommen wird in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit - bis dahin wird der Ausspruch des Propheten gelten: „saget der Tochter Zion, siehe, dein König kommt zu dir!“ Ja, was sage ich? Heute, heute, gilt es; heute darf ich es predigen, und meine Stimme getrost erheben, und darf mir und euch sagen: Seelen, unser König kommt zu uns, und will Einzug in unsere Herzen halten; Seelen, freuet euch und jauchzet; JEsus steht vor der Thür.
O! was ist es doch für eine Gnade, daß Er zu uns kommt, daß Er die Verbindung anknüpft, daß Er uns die Hand reicht; wenn Er nicht zu uns käme, zu Ihm könnten wir nimmermehr kommen. Wir sind Sünder; und die Sünde hat eine Scheidewand gezogen zwischen uns und unserem Gott; sie hat uns von Seinem Angesichte hinweggescheucht; sie hat die Gemeinschaft zwischen uns und Ihm zerrissen; wir könnten dieselbige nicht mehr anknüpfen, wenn Er es nicht thäte; wir sind Sünder, und das ist viel gesagt. Sind wir Sünder: so sind wir dem Fluche des Gesetzes verfallen; so ist der Fluch des Gesetzes, der Heiligkeit Gottes uns in das Herz geschrieben; so haben wir also nur Furcht und Schrecken vor Gott in unserem Herzen, nicht die Liebe und Vertrauen und Hoffnung zu Ihm. Dieß muß man erfahren, ehe man es glauben kann; der Grund des Herzens muß vorher aufgerührt werden; die Lügenbilder der Eigenliebe und der fleischlichen Weichlichkeit, die auf der Oberfläche des Herzens schwimmen, müssen vorher weichen; es muß der Seele Ernst werden, zur Gemeinschaft ihres Gottes zurückzukehren; dann erst glaubt und weiß sie es, daß Gott dem Sündern ein schrecklicher Gott ist, und daß eine Scheidewand daliegt, welche keine Creatur durchbrechen kann. Aber das ist nicht Alles. Wir mögen auch nicht zu Ihm kommen; wir haben keine Freude an Ihm, keine Lust zu Ihm; wir haben andere Götter, und diesen fröhnen und dienen wir lieber als dem lebendigen Gott. O liebe Zuhörer, bedenket es doch, wie weit wir von Gott weggekommen sind durch die Sünde; wie wir so gar verwirrt und verdunkelt und verloren sind in das, so nicht Gott ist. Da ist der Eine verloren in das, der Andere in etwas Anderes; der Eine macht Dieß, der Andere Das zu seinem Götzen; der Eine sucht die Freude seines Herzens an seinen Feldern und Gütern, der Andere an seinem Gelde, ein Dritter an seinem Gewerbe; ein Vierter liebt sein Weib, ein Fünfter seine Kinder mehr als Gott und den Heiland; ein Sechster hat seine Freude am Fressen und Saufen; ein Siebenter an der Ehre bey Menschen, ein Achter an schönen Kleidern, ein Neunter an hoher Erkenntniß, ein Zehnter an seinen natürlichen Gaben und Anlagen, ein Elfter an allerhand Tugenden und Gerechtigkeiten, welche er sich zu eigen gemacht zu haben glaubt; ein Zwölfter sogar an geistlichen Gaben, die ihm JEsus geschenkt hat; und dieser letztere Götzendienst ist noch der gefährlichste. In diesen und andern Dingen treiben sich die Menschen um; darin weiden sie sich; darin gefallen und spiegeln sie sich; und gewöhnlich hat ein Mensch nicht bloß Einen Götzen, sondern zehn und hundert und noch mehrere. Sehet, so elend sind wir; wir könnten nicht zu Gott kommen, und möchten auch nicht zu Ihm kommen, wenn Er nicht zu uns käme. Da müßten wir bleiben verlorene und verirrte Schafe, verloren und verirrt in unsere eigenen Wege, eingeschlossen und verbannt in die Sünde, hineingebunden mit Ketten in die Werke der Finsterniß, unter der Herrschaft der Sünde, des Teufels, des Todes und der Hölle. Dieß wäre unser Loos, wenn Er nicht zu uns kommen wäre und käme.
Dieß glauben viele Menschen nicht, hauptsächlich zweierley Menschen. Dieß glauben nicht die todten Sünder, die aber ehrbar sind und einen guten Namen vor der Welt haben, die hingehen, und machen sich einen Vorsatz, dieß und das zu lassen oder zu thun, und führen diesen Vorsatz auch aus. Solchen Leuten dünkt es, daß sie durch sich selbst einen offenen Weg zu Gott haben, daß unser HErr Gott eher vor ihrer Rechtschaffenheit und Tugend erschrecken und Sich entsetzen müsse, als sie sich vor Seiner Heiligkeit. Die Thüren des Himmels müssen einmal sich weit und geschwinde öffnen, wenn ein solcher Ehrenmann kommen wird. So träumen sie. Und da sind viele neuere Lehrer dazugekommen, und haben aus diesem Wahne der menschlichen Thorheit und Eigenliebe eine Lehre gemacht. Sie haben den Willen des Menschen unmäßig herausgestrichen oder erhoben, und den Menschen eine natürliche Kraft und Anlage zu allem Guten zugesprochen; ja auf gute Werke der stinkenden Eigenliebe, auf natürliche Tugenden den Himmel gesetzt. Aber wir haben nichts mit ihnen zu schaffen; wir lassen sie fahren; sie sind blinde Leiter der Blinden. Es gibt aber noch eine andere Art Menschen, die das, was ich oben gesagt habe, nicht glauben. Das sind erweckte Seelen, die im Anfange der Bekehrung stehen. Wenn ein Mensch die große Entdeckung an seinem Herzen macht, daß eine Scheidewand zwischen ihm und seinem Gott liege durch die Sünde; - wie greift er es gewöhnlich an, um diesen Uebelstand zu heben? Er will die Scheidewand niederreißen, er zerarbeitet sich elendiglich daran, er will durch sein Wollen und Wirken in den Himmel und in die Gemeinschaft Gottes hineinsteigen. Aber das hilft nichts. Mit unserem Thun können wir es nicht erlangen. ich wüßte nicht, wozu der Heiland geboren wäre; ich wüßte nicht, wozu Er Seinen Lauf, Seinen Leidenslauf bis Golgatha, und von da in's Grab, und von da in die Herrlichkeit des Vaters gemacht hätte; ich wüßte nicht, warum wir eine solche erbarmungsvolle Anstalt hätten, die man das Reich Gottes nennet; ich wüßte nicht, warum es in unserem Texte hieße: „dein König kommt zu dir“; ich wüßte überhaupt nicht, was ich aus der ganzen Bibel machen sollte, wenn wir es thun könnten, wenn es an unserem Rennen und Laufen läge! Nein! Er muß es thun, Er muß es anfangen, fortsetzen und vollenden; und wir haben uns nur dazu herzugeben und es uns gefallen zu lassen. Das ist unsere ganze Sache. Steige deßwegen nur herunter von deinen selbstgebauten Thürmen und Thürmlein, - sie sind Heuchelgebäude und mögen vor Seinen Augen nichts taugen, - laß dich nur in die Niedrigkeit herunter; je weniger du kannst, desto mehr kann Er; je weniger du wirkst, desto mehr wirkt Er; je weniger du hilfst, desto mehr hilft Er; je tiefer du herabsteigst, desto näher bist du deinem Heiland, desto gewisser kommt Er zu dir.
O! wer ein offenes Herz für Ihn hätte, und Ihn einließe, wie selig wäre ein solcher Mensch! Wie viel Ursache zur Freude hätte ein solches Herz, nicht nur an Seinen Festtagen, nicht nur in der Kirche, sondern zu Hause, in seiner Kammer, in seinen Geschäften, in seinen täglichen Umständen; denn allenthalben begegnet Er den Seinigen. Er kommt immer; Er kommt seit 1800 Jahren zu der Tochter Zion; Er kommt in Seinem Worte; Er kommt in Seinem Geiste; Er Kommt in Seinem Abendmahle; Er kommt zu den verschiedensten Zeiten, bey den verschiedensten Gelegenheiten; Er kommt in guten und bösen Tagen, durch Leiden und durch Freuden; Seine Gnadenstimme ist überall hörbar, auf der Gasse, auf dem Felde, wenn du im Schweiß deines Angesichts dein Brod issest, so gut, als wenn du auf deinem Lager ausruhest; Er begegnet uns oft in den geringsten Umständen; Er kommt immer: aber Er kann nicht immer beykommen. Die Thüren sind Ihm oft verschlossen, weil Sein Feind in dem Herzen haust; Sein Anklopfen, der Fußtritt des Kommenden wird überhört; das inwendige Geräusch ist zu groß, das Geschrey ist zu groß, der Markt, der Sündenmarkt, der Markt mit Dingen dieser Erde ist zu groß im Herzen; der Sündenschlaf ist zu schwer, man kann Ihn nicht hören; das Herz ist zu irdisch, zu stolz; es will den demüthigen Menschensohn, der als Friedenskönig in der Niedrigkeit einziehen will, nicht anerkennen. Jerusalem hatte einen herrlichen Tempel, und schöne Gottesdienste darin, und vornehme Priester und Hohepriester, und einen großen Stolz; darum verachtete es den JEsus von Nazareth, Der nicht mit Heereskraft und Herrlichkeit, sondern in Niedrigkeit kam; einen solchen König und ein solches Messiasreich wollten sie nicht. Und so geht es jetzt noch den armen Menschenherzen. Aber werde nur still; laß dich nur klein machen, und dein Herz in den Staub beugen, verabscheue nur Alles in dir, was sich aufblähen will, und dem Sinne Jesu entgegen ist, so wirst du den Ruf des Geistes: „dein König kommt zu dir“ vernehmen, und Ihm mit Freuden dein Herz öffnen, und dein König wird zu dir kommen und herrschen in deinem Herzen.
„Dein König kommt zu dir.“ In der Welt gibt es auch Könige: aber sie sind Menschen wie ihre Untergebenen; es kommt eine Stunde, wo der, so über Millionen geherrscht hat, um nichts besser daran ist als der, welcher nicht hatte auf dieser Welt, wo er sein Haupt hätte hinlegen können. Im Tode fällt Krone und Scepter und Würde und Ehre und Alles, was glänzet in dieser Welt, zusammen; und der Mensch, welcher am höchsten gestanden ist, muß hinaus in die Ewigkeit und vor den Richterstuhl eines gerechten Gottes sowohl als ein Bettler: denn er ist ein Mensch. Aber nicht also der König, welcher zur Tochter Zion kommt. Er ist ein König, dem kein König gleichet, ein König aller Könige, ein HErr aller Herren. Als noch nichts da war von all' dem, was da ist, als noch Alles im tiefen Schlaf der Ewigkeiten ruhete: da war Er, und hatte Herrlichkeit bey dem Vater. „Er hat die Erde geschaffen und die Himmel sind Seiner Hände Werk. Er sprach: es werde Licht, und es ward Licht.“ Er hat die Sterne, die in ungemessenen Bahnen über uns hinziehen, geschaffen; Er hat diese Weltkugeln in Seine starke Hand genommen, und sie wie eine Handvoll Sand hinausgestreut in die unendliche Leere; Er hat ihnen ihre Bahn angewiesen; sie stehen Alle vor Ihm wie ein Scherflein, so in der Wage bleibet; Sein Vermögen und starke Kraft ist so groß, daß es nicht an Einem fehlen darf. Er erhält den Weltbau, daß er nicht aus seinen Angeln weiche; Er träget alle Dinge mit Seinem Kraftwort; wenn er Seine Kraft zurückzöge, so würde in Einem Augenblicke die ganze Welt in das Nichts zurücksinken, aus dem sie hervorgegangen ist; alles Wesen, alles Leben und alle Kräfte sind in Seiner Hand. Wer hat das Band der sieben Sterne zusammengebunden? Wer führt den Morgenstern herauf zu seiner Zeit? Wer regieret den Himmel? Ist's nicht Der, so da heißet A und O, Anfang und Ende, der da ist, der da war, und der da kommt, JEsus Jehovah? Siehe Zion, das ist der Mann, von welchem der Prophet sagt: „dein König kommt zu dir.“
Es müssen wichtige Ursachen vorhanden seyn, daß Er zu uns gekommen ist, und noch zu uns kommen will. Diese Erde ist ein sehr unbedeutender Punkt in Seiner großen Schöpfung, und was sind wir auf dieser Erde, wir armen Staubmenschen? - „was ist der Mensch, die Made und das Menschenkind, der Wurm?“ (Hiob 25,6.) Wenn Er von dem Throne Seiner Herrlichkeit herab auf uns geblickt hätte, so müßten wir wichtige Ursachen vermuthen; wie viel mehr nun, da Er Seinen Thron verlassen hat, und ist zu uns gekommen, und bietet Sich uns als unser Herzenskönig an! Wenn unser irdischer König seine Residenz verlassen, und in unser armes Dörflein kommen, und eine bestimmte Familie hier heimsuchen würde: wir würden ja wichtige Ursachen vermuthen, die ihn zu diesem Schritte bewogen hätten; aber sehet, diese Vergleichung ist noch viel zu schwach; denn was ist der größte irdische Monarch gegen den Gott aller Götter! Warum ist Er denn zu uns gekommen? Und warum kommt Er noch zu uns? Hat Er von uns lernen wollen? Haben wir Ihm Heimlichkeiten zu offenbaren gehabt? Hat er einen besondern Nutzen von uns erwarten können? Sind wir Seine Freunde gewesen, und sind wir es noch? Nein, von dem Allem nichts, gar nicht das Mindeste. Er ist die selbstständige, die allgenugsame Weisheit, und wir sind Seine Feinde; so verhält es sich. Welches waren und sind denn die Gründe, die Er hatte zu diesem unbegreiflichen Schritte? Ich will es euch sagen. Die Elendesten waren und sind wir in Seinem ganzen Reiche. Die Allerbedauernswürdigsten, die Allerkränksten, die Allerhülfsbedürftigsten. - Dieß hat Seine Blicke vorzüglich auf uns gerichtet, dieß hat Sein Herz aufgeregt, und gegen uns besonders entzündet; dieß hat den Reichthum Seiner ewigen Gottes-Erbarmungen geöffnet, und gegen uns ausbrechen lassen.
Nichts, nichts hat Dich getrieben zu mir vom Himmelszelt,
Als Dein unendlich Lieben, womit Du alle Welt
In ihren tausend Plagen und großer Jammerlast!
Die kein Mensch kann aussagen, so fest umfangen hast.
Dieses unendliche Lieben hat Ihn in's Fleisch getrieben; dieses hat Ihn in Noth und Tod getrieben; dieß treibt Ihn, daß Er heute uns sagen läßt: „dein König kommt zu dir“, daß Er heute vor unserem Herzen steht und begehrt eingelassen zu werden, nicht um Seinetwillen, denn Er bedarf unser nicht, sondern bloß lauterlich um unsertwillen.
Siehe, dein König kommt zu dir, Zion, Seele! Er will nichts bey dir holen, außer etwa deine Sünden; Er will nicht reich werden durch dich; Er will Alles selber mitbringen; Er will dich reich machen; Er will dich selig machen; Er will dich herrlich machen. JEsus kommt zu dir, der Mann, der allen Kummer stillt; der Mann, der das innerste Verlangen deines Geistes befriedigt; der Mann, nach welchem du, vielleicht dir unbewußt, aus der Tiefe deines Herzens schon oft geseufzet hast; denn auf Ihn geht das Verlangen der ganzen Kreatur. Siehe, was du schon lange begehret und nicht gefunden hast; was du in der Welt und ihrem Wesen gesucht, aber nicht gefunden hast; was du in deiner selbstgemachten Tugend, in deinen unzähligen guten Vorsätzen, die du dir gemacht hast, gesucht, aber nicht gefunden hast; was du mit großer Anstrengung, mit unmäßiger Arbeit gesucht, aber nicht gefunden hast; siehe, das soll dir nun auf einmal zu Theil werden; denn JEsus beut Sich dir an. Was treibet die Menschen um in dieser Welt, was macht ihnen so viel vergebliche Unruhe? Was jagt sie mitten in den Strudel der Sünde und der Welt hinein? Was scheucht ihnen oft den Schlaf aus den Augen? Was suchen sie? Sie suchen etwas, das ihr Herz zufrieden stellen soll: aber sie finden es nicht. Es ist ein leerer Raum in uns, liebe Zuhörer, den wir allezeit ausfüllen wollen; aber mit Zeitlichem, mit Eigenem kann man ihn nicht ausfüllen. Man wirft in diesen leeren Raum Augenlust, aber sie füllt nicht aus; man wirft hinein Fleischeslust, aber sie füllt nicht aus; man wirft hinein hoffärtiges Wesen, aber es füllt nicht aus; man müht sich sehr ab, diese Dinge hineinzuwerfen, aber es hilft Alles nichts, er wird nicht voll; man wirft hinein Geld, aber es füllt nicht aus; man wirft hinein Berufstreue, man wirft hinein die besten Vorsätze, man wirft hinein Rechtschaffenheit und Tugend, man wirft hinein Geschwätz von der Gottseligkeit, aber es füllt Alles nichts aus. Man denkt: wenn ich nur mein tägliches Brod ohne Nahrungssorgen hätte, dann wäre ich glücklich, und wenn man es hat, so ist man erst nicht zufrieden; man denkt, wenn ich diese oder jene sündliche oder unsündliche Freude genießen könnte, dann würde mir nichts zu wünschen übrig bleiben, und wenn man sie genießt, so findet man erst nicht darin, was man gesucht hatte, nämlich Befriedigung und Sättigung des armen Herzens. So tappt der arme Mensch nach Schatten, wird oft alt und grau über diesem Tappen, und muß wieder bey jedem neuen Versuche erkennen, daß er sich getäuscht hat. O liebe Zuhörer, dieses unbekannte Etwas, daß wir bis jetzt gesucht, aber nicht gefunden haben; dieses Etwas, das unsern innersten Geist stillen, unsere Leere ausfüllen kann, dieses Etwas verkündige ich euch heute, es ist JEsus; und dieser JEsus steht vor eurer Thüre und will eingelassen werden.
Wollen wir Ihm die Thüre nicht öffnen, wir, die wir ohne Ihn die Elendesten sind? Er hat ein Recht an uns, liebe Leute, Herzen. Nicht der Mammon ist dein König und Herr; nicht deine Aecker und Güter sind's, nicht der Teufel ist's oder die Welt; JEsus ist's! sonst Niemand als JEsus! Du gehörtest Sein, als du noch in deiner Mutter Leibe lagest; du gehörtest Sein, als du auf diese Welt hineingeboren wurdest; du gehörtest Sein in den Tagen, da du ferne von Ihm nur deinem eigenen Willen und Lust folgtest; heute, heute gehörst du Sein; und ob dich Satan mit tausend Stricken gebunden hätte, du bist doch ein Unterthan und Eigentum Jesu; denn Er hat dich geschaffen, und noch mehr, Er hat dich erlöst, erworben und gewonnen von allen Sünden, vom Tod und von der Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit Seinem heiligen theuren Blut, und mit Seinem unschuldigen Leiden und Sterben, auf daß du Sein eigen seyest. - Er ist dein König. Wer will Ihm dieses Recht streitig machen? Wer will mit ihm streiten? Arme Creatur, du wirst es doch nicht wollen?
Ja, liebe Zuhörer, wenn Er mit dem Donner Seines Gerichts vor unserem Herzen stünde; wenn Er in der Offenbarung Seiner Gottesherrlichkeit uns heimsuchte: so würden sich freilich alle Herzen vor Ihm verschließen, und wir müßten vor Seinem Angesichte fliehen, wenn wir auch nicht wollten. Aber: dein König kommt zu dir sanftmüthig, als der sanftmüthige Menschensohn, als das sanftmüthige Lamm Gottes. So ziehet Er zu den Thoren von Jerusalem ein, nicht als Der, welcher gekommen ist zu richten, sondern als der Seligmacher; nicht auf einem streitbaren Pferde, sondern reitend auf einem Eselsfüllen als der König des Friedens. Man sieht es Ihm an, daß Er nicht verderben, sondern heilen, stillen und erfreuen will; man sieht es Ihm an, daß Er gesandt ist, den Elenden zu predigen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu predigen den Gefangenen eine Erledigung, den Gebundenen eine Oeffnung; das zerstoßene Rohr wird Er nicht zerbrechen und das glimmende Tocht wird Er nicht auslöschen, bis daß Er das Gericht ausführe zum Siege: das siehet man Ihm gar wohl an. Denn die Strahlen Seiner Gottesmajestät sind gebrochen in Seiner Menschheit; aus Seinem Angesichte leuchtet die Leutseligkeit und Freundlichkeit des Vaters. Siehe! das ist dein König, und in dieser Gestalt steht Er vor der Thüre deines Herzens. So du Ihm aufthust, so wirst du Ihn also erfahren; ja noch besser, als dir alle Worte beschreiben könnten.
So du Ihm aber nicht aufthust, so bleibest du elend. Ja, was sage ich? Wenn wir den sanftmüthigen Menschen-Sohn verachten; wenn wir das Wort verachten, das durch Seine Propheten und Apostel, ja durch Ihn selbst geprediget ist: was bleibet uns dann übrig? Nichts als ein schreckliches Warten des Gerichts und des Feuereifers, der die Widerwärtigen verzehren wird!
Verachtet man Gottes ein'gen Sohn,
So ist ja der verdiente Lohn,
Daß man muß unter dem Zorne bleiben;
Denn Denen nur, die an JEsum gläuben,
Ist Heil bereit.
Er wird wiederkommen. JEsus wird wiederkommen. Aber nicht mehr, wie das erste Mal, in der Niedrigkeit, sondern in der Herrlichkeit; nicht mehr, um die Sünder zu locken, sondern um zu richten; nicht mehr auf einem Eselsfüllen, sondern auf einem Streitrosse. - „Und ich sahe den Himmel aufgethan“, - sagt Johannes (Offenb. 19.), - „und siehe ein weiß Pferd, und der darauf saß, hieß Treu und Wahrhaftig, richtet und streitet mit Gerechtigkeit.“ Wer wird aber den Tag Seiner Zukunft erleiden mögen, den Tag, der brennen wird wie ein Ofen? Ja, sie werden Ihn sehen, Alle, die Ihn gestochen haben; werden Ihn sehen und werden heulen.
O Du HErr aller Herren, Du Richter alles Fleisches, Du sanftmüthiger Menschen-Sohn! davor bewahre uns! Hilf uns, daß wir Dich jetzt in unsere Herzen aufnehmen, und Deine Gnade darin durchwirken lassen, damit, wenn Du erscheinen wirst, wir Freudigkeit haben, und nicht zu Schanden werden vor Dir in Deiner Zukunft! Amen.