Hofacker, Ludwig - Predigt am dreyzehnten Sonntage nach Trinitatis

Hofacker, Ludwig - Predigt am dreyzehnten Sonntage nach Trinitatis

Die besondere Seligkeit und Gnade der neutestamentlichen Zeit

Text: Luc. 10,23-37.

Und JEsus wandte Sich zu Seinen Jüngern und sprach insonderheit: Selig sind die Augen, die da sehen, das ihr sehet. Denn ich sage euch: viele Propheten und Könige wollten sehen, das ihr sehet, und haben’s nicht gesehen; und hören, das ihr höret, und haben’s nicht gehöret. Und siehe, da stund ein Schriftgelehrter auf, versuchte Ihn und sprach: Meister, was muß ich thun, daß ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: wie stehet im Gesetz geschrieben? wie liesest du? Er antwortete und sprach: du sollt Gott, deinen HErrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüthe, und deinen Nächsten als dich selbst. Er aber sprach zu ihm: du hast recht geantwortet, thue das, so wirst du leben. Er aber wollte sich selbst rechtfertigen, und sprach zu JEsu: wer ist denn mein Nächster? Da antwortete JEsus sprach: Es war ein Mensch, der gieng von Jerusalem hinab gen Jericho, und fiel unter die Mörder; die zogen ihn aus und schlugen ihn, und giengen davon, und ließen ihn halb todt liegen. Es begab sich aber ungefähr, daß ein Priester dieselbige Straße hinabzog, und da er ihn sahe, gieng er vorüber. Desselbigen gleichen auch ein Levit, da er kam bey die Stätte, und sahe ihn, gieng er vorüber. Ein Samariter aber reisete, und kam dahin, und da er ihn sahe, jammerte ihn sein, gieng zu ihm, verband ihm seine Wunde, und goß darin Oel und Wein, und hub ihn auf sein Thier, und führete ihn in die Herberge, und pflegete sein. Des andern Tages reisete er und zog heraus zween Groschen, und gab sie dem Wirth, und sprach zu ihm: pflege sein, und so du was mehr wirst darthun, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wieder komme. Welcher dünkt dich, der unter diesen Dreyen der Nächste gewesen sey dem, der unter die Mörder gefallen war? Er sprach: der die Barmherzigkeit an ihm that. Da sprach JEsus zu ihm: so gehe hin und thue desgleichen.

In dem verlesenen evangelischen Abschnitte sind mir für dieß Mal besonders wichtig geworden die Worte des Heilandes, die Er zu Seinen Jüngern sprach: „Selig sind die Augen, die da sehen, das ihr sehet; denn ich sage euch: viele Propheten und Könige wollten sehen, das ihr sehet, und haben es nicht gesehen, und hören, was ihr höret, und haben es nicht gehöret.“ Offenbar stellt der Heiland hier den großen Unterschied zwischen der Alt- und Neutestamentlichen Zeit in das Licht; ja, Er gibt mit diesen Worten sehr deutlich zu verstehen, worin eigentlich die Gnade und Seligkeit bestehe, die man im Neuen Testamente zum Voraus habe. Darüber wollen wir weiter nachdenken, und unter dem Beistande Gottes betrachten:

die besondere Seligkeit und Gnade der neutestamentlichen Zeit.

Ich will zeigen:

  • I. worin diese Seligkeit bestehe;
  • II. wie man sie erlange.

Großer Heiland! Du und Deine Worte sind sehr verdeckt vor den Augen unserer fleischlichen Vernunft; zeige uns Deine Herrlichkeit, so genesen wir; mache meine Worte zu Spießen und Nägeln in die Herzen, damit wir aufstehen, und Dich finden! Amen!

I.

Liebe Zuhörer! Die christliche Religion hat den Hauptzweck, daß es den Menschen wohl durch sie werden soll. Von Natur ist es uns nicht wohl. Bey guten Gesundheits-Umständen, im Rausche des sinnlichen Vergnügens, im äußerlichen Wohlstande, oder wenn die Lust unserer geheimsten Leidenschaften befriedigt wird, da scheint es freilich, als ob es uns wohl wäre; aber es scheint nur so. Es ist eben etwas vorhanden im Menschen, das durch dieses Alles nicht befriedigt wird; es ist ein leerer Raum da, der durch dieses Alles nicht kann ausgefüllt werden, und diese Leere macht innerlich unbehaglich, unzufrieden, mürrisch, unselig. Diese Unseligkeit des Menschen setzen alle Religionen in der Welt voraus; denn sie sagen alle: wenn du dieß und das thust, so wird es dir wohl werden, du wirst selig. Einige versprachen dieses Wohlseyn schon in dieser Welt, Andere erst in der Ewigkeit. Den Türken wird in ihrem Gesetzbuche ein sehr wollüstiges, dem Fleische angenehmes Leben im Paradiese versprochen, wenn sie sich in dieser Welt genau nach den Vorschriften des Propheten richten. Auch im Alten Testamente gab es verschiedene Verheißungen von Wohlseyn; langes Leben, fruchtbare Zeiten, Friede vor den Feinden oder ihre Ueberwindung, zeitliches Glück aller Art war auf den Gehorsam gegen die Gebote Gottes gesetzt. Es gab auch noch andere Seligkeit im Alten Bunde, die höher und geistiger waren. Der herrliche Gottesdienst im Tempel war für die rechtschaffenen Israeliten nach dem 84sten Psalm mit hohem Wonnegefühl verbunden. Die Hauptseligkeit im Alten Bunde bestand aber wohl darin, daß man nach dem 119. Psalm die Wunder im Gesetze des HErrn mit Geistesaugen betrachtete. Dieß ist eine Seligkeit, welche die Kinder des Neuen Bundes auf die heutige Stunde auch noch genießen. Aber im Neuen Bunde gibt es noch eine besondere Seligkeit, die man im Alten Testamente nicht hatte, und die ein Vorzug des nun 1800jährigen Tages ist, der auf die Morgenröthe der Gesetzes-Verfassung folgte. Welches ist diese besondere Seligkeit des Neuen Bundes? oder: worin besteht das höchste Wohlseyn eines Christen?

Wenn ich nun diese Frage an die Neueren stellen würde, die vom Heilande nichts wissen und nichts glauben, als was ihnen selbst davon geschwinde einfällt: so würde ich verschiedene Antworten erhalten. Das sey die höchste Seligkeit, würde der Eine sagen, wenn man an seinem Nebenmenschen Samaritersdienste verrichte; man trage das Bewußtseyn in sich, eine edle, menschenfreundliche That verrichtet zu haben; man ernte den Dank der oder des Geretteten dafür ein; es seyn einem unaussprechlich wohl dabey. – Nein! würde ein Anderer antworten, eine solche That muß man im Verborgenen thun, und keinen Dank dafür empfangen nach Matth. 6,1-4., das ist noch größere Freude für das Herz und eine gute Beilage für die Ewigkeit. – Offenbar, sagt ein Dritter, liegt die größte Seligkeit des Herzens darin, wenn man seinen Beruf treulich verrichtet; da ist einem wohl dabey, auch wenn man keine besondern Thaten aufzuweisen hat. – Ein Vierter faßt die Sache noch allgemeiner und behauptet, ein gutes Gewissen sey die größte Seligkeit, d.h. das inwendige Zeugniß des Herzens, daß man ein ehrbares Leben geführt, keine Schandthaten verübt, nicht gestohlen und Niemand todtgeschlagen habe. – O wie ruhig kann man da, meint er, seinen Kopf zum Schlafe niederlegen, wie ruhig selbst den Stürmen des Schicksals entgegengehen; man bleibt gefaßt, auch da, wo Andere zittern müssen; wie ruhig kann man auf dem Polster seines guten Gewissens selbst im Tode entschlafen! Solcher Meinungen könnte ich noch viele anführen; es ist aber nicht nöthig. Was haltet ihr von diesen Ansichten? Ich will euch sagen, was ich davon halte. Sie sind mir ein neuer Beweis von der Blindheit und dem Zustande des menschlichen Herzens, von der Wahrheit des Wortes Christi: „Ich danke Dir, Vater, daß Du Solches den Weisen und Klugen verborgen hast, und hast es den Unmündigen geoffenbaret! Ja, Vater, denn also ist es wohlgefällig gewesen vor Dir.“

Worin besteht denn aber nun die besondere Seligkeit der neutestamentlichen Zeit? Antwort: In dem, was der Heiland in unserem Evangelium deutlich ausdrückt: „selig sind die Augen, die da sehen, was ihr sehet.“ Dieß war also die Gnade und Seligkeit, welche die Jünger im Neuen Bunde genoßen, - eine Gnade, die sich viele Könige und Propheten des Alten Testaments sehnlich wünschten, aber nicht empfiengen, daß sie nämlich den Heiland sehen konnten. Und dieß ist noch jetzt das Wesentliche in der neutestamentlichen Seligkeit, daß man den Heiland sieht. Ich will deutlicher hierüber reden.

Vor 1800 Jahren konnte man in Palästina den Sohn Gottes mit leiblichen Augen sehen, mit leiblichen Ohren hören, mit leiblichen Händen betasten; denn Er war im Fleische erschienen, und wandelte als ein wahrhaftiger Mensch unter den Menschen. So sahen Ihn Seine Jünger; aber über diesem leiblichen Sehen preist sie der Heiland nicht selig. Es lebten zur Zeit Christi noch viele Menschen in Palästina, die den Heiland sahen, aber von diesem Sehen nicht den geringsten Nutzen oder Genuß hatten. Da gab es Pharisäer und Sadducäer, Hohepriester und Schriftgelehrte, und eine große Menge Volks, die alle den Sohn Gottes sahen; aber ein großer Theil sahe Ihn mit gleichgültigen, ein anderer mit feindseligen Augen an, und so holten sie von diesem Anblick nicht das Leben, sondern größtentheils den Tod. Von diesen Augen konnte der Heiland nicht sagen: „selig sind sie, denn sie sehen mich.“ Wodurch unterschied sich denn nun der Blick der Apostel von dem Blicke der Andern? Antwort: darin, daß die Jünger den Heiland zugleich mit Geistesaugen betrachteten. Der Anblick des HErrn JEsu, Seine Worte, Seine Werke, Sein ganzes Betragen entzündete durch die Offenbarung des Vaters, die ihnen widerfahren war, ihr Gemüth gegen Ihn, so daß sie Ihn nur mit der tiefsten Ehrfurcht und mit Liebe anschauen konnten. So sahen und erkannten sie nun auch in JEsu einen ganz andern Mann als die Andern. Wo sich die Andern ärgerten, da erkannten sie die Allmacht des Vaters; wo die Andern murrten, da lobten sie; wo die Andern lästerten, da beteten sie an; was den Andern unerträglich war, das war ihnen lieblich; wo die Andern davonliefen, da blieben sie und bekannten: „wir können nicht von Dir weichen, denn Du hast Worte des ewigen Lebens“; kurz, sie erkannten in JEsu den Heiland, den Sohn Gottes, währen die Andern in Ihm nichts als einen gewöhnlichen Propheten, oft ihren Feind, oft einen Schwärmer, sogar einen Besessenen sahen. Und darum wendete Sich der Heiland zu Seinen Jüngern, und pries nur sie selig, weil sie die unaussprechliche Gnade hatten, den Trost Israels, den Sohn Gottes, das Ebenbild des Vaters, den Schönsten unter den Menschenkindern zu sehen, und zwar nicht nur mit leiblichen Augen, sondern mit den Augen des Geistes, d.h. an Ihn zu glauben.

Liebe Zuhörer! Mit Geistesaugen müssen wir den Heiland auf die heutige Stunde noch sehen, wenn wir Kinder des Lichts seyn wollen. Manche denken: wenn ich zur Zeit des Heilandes gelebt hätte, und hätte Seinen Wandel und Seine Wunder und Seine Person gesehen, so wollte ich wohl ein rechter Nachfolger von Ihm geworden seyn; aber bey der Dunkelheit der gegenwärtigen Zeit wird es mir viel schwerer. Lieber Mensch, der du so denkst, vielleicht wärest du damals gar ein Feind des Heilandes geworden, und hättest dich gestoßen an Seiner Niedrigkeit; denn eine jede Zeit hat ihre Aergernisse und eigenthümliche Hindernisse des Glaubens. Das leibliche Sehen macht’s eben nicht aus. Die Geistesaugen müssen uns aufgethan werden; die Finsterniß, die satanische Sündenfinsterniß muß aufgehoben werden; der Heilige Geist muß JEsum verklären im herzen: das macht und stempelt den Menschen erst zu einem Nachfolger JEsu, und dieß mußte damals geschehen wie heute, und heute wie damals; es ist hierin gar kein Unterschied. Den Heiland müssen wir sehen, sonst sind wir keine Christen, sondern, wenn wir doch vom Christenthume zu reden wissen, Heuchler, oder wir haben, wenn auch dieß nicht der Fall ist, wenigstens doch kein seliges Herz. Denn die neutestamentliche Seligkeit beruht darauf, daß man JEsum siehet.

Ich rede nicht aus einer erhitzten Einbildungskraft heraus, ich rede vernünftige, nüchterne Worte. Wie soll ich es auch doch deutlicher machen? – Vielleicht habt ihr schon darauf Acht gegeben, wie wir in unserem Inwendigen ein Bild von uns selber haben. Es siehet jeder Mensch in seinem Inwendigen sich selber. So lange nun der Mensch noch unter der Gewalt des Satans, des Lügners, steht, siehet er sich durch den Spiegel der Eigenliebe; das Bild, das er von sich hat, ist viel schöner, herrlicher, vortrefflicher, als er selbst in der Wahrheit ist. Da sieht er sich als einen klugen, geschickten, treuen, rechtschaffenen, edelmüthigen, frommen, menschenfreundlichen, muthigen Menschen, wenn schon von allen diesen Eigenschaften nicht ein Pünktchen in der Wahrheit bey ihm eintrifft. Aeußere Verhältnisse tragen auch Vieles zur Ausmalung dieses Bildes bey. Ist Jemand reich, so pflegt er sich selber sich vorzustellen als einen gewaltigen Menschen, der sich aus anderer Leute Urtheil nicht viel zu machen, sich um andere Menschen nicht viel zu bekümmern brauche; ist Jemand eine obrigkeitliche Person, die zu befehlen hat, so wird das Bild, das er von sich selber sich macht, gewiß einen Zug von Gewalt, Macht und Ansehen bekommen; ist Jemand arm, so hat er gewöhnlich ein Bild von sich in seinem Inwendigen, in welchem Züge von Drangsal, von, wie er oft meint, unverschuldetem und ungerechtem Drucke und dergleichen eingegraben sind. Die Menschen sind selten, auf deren Bild äußere Glücksumstände keinen Einfluß hätten. Es ist unglaublich, was die Menschen durch die Kraft dieses Bildes ausrichten. Wie Mancher hätte schon sein herz und seine Habe vor seinem dürftigen Mitbruder verschlossen, wenn er nicht vorher auf sein eigenes Bild in seinem Inwendigen hingeblickt, und darauf gelesen hätte mit großen Buchstaben geschrieben: „Menschenfreund!“ Wie mancher Soldat hat schon sogenannte Heldenthaten gethan, zu welchen in ihm weder Neigung noch Muth gelegen wäre, aber auf seinem Bilde war geschrieben: „braver Soldat, Held“ und dieß spornte ihn an. Solche Lügner sind die Menschen, wenn sie nicht Gott durch Seinen Geist zur Einfalt und Geradheit bringen kann. Aber – und das ist die Hauptsache, die ich euch jetzt deutlich machen will, - sehet, wie wir ein Bild von uns selber in uns haben, das uns, so lange wir den Heiland nicht lieben, überall hin begleitet, wie wir uns selbst durch den freilich unwahren Spiegel unserer Eigenliebe sehen, so müssen wir auch den Heiland durch den Spiegel Seines Wortes in der Kraft des Heiligen Geistes vor das innere Gesicht bekommen, und das ist die besondere Seligkeit der neutestamentlichen Zeit.

Ich will euch ein anderes Beispiel geben. Wir haben auch noch andere Bilder in uns. Ein Jedes unter uns hat seine Lieblingssünde, und nach diesen Lieblingssünden gestalten sich die Bilder und Phantasieen, mit welchen wir am meisten umgehen, an welchen unser Herz am meisten Freude findet. Ein geiler Mensch hat geile, schändliche Bilder und Vorstellungen in seiner Seele, und kann auch durch sich selber immer wieder neue Bilder von dieser Art in sich erwecken und zu seiner schändlichen Ergötzung schaffen; ein Geiziger hat Bilder vom Haben, Besitzen, Gewinnen, Erwerben, Reichwerden; eines Jeden Einbildungskraft ist geschäftig nach seiner Hauptleidenschaft. In unbewachten Augenblicken kommt unser armes Herz gerne in Träumereyen hinein, die sich auf unsere Lieblingssünden beziehen; da kann man so dasitzen, und sich in ganze Sündenfelder hineinträumen, und das Herz weidet sich darin, und ist ihm wohl darin, wenn es nichts von etwas Besserem, vom Heilande weiß und erfährt. Wie nun von Natur in uns sich Sündenbilder erzeugen, so muß das Bild Christi in uns lebendig werden; Er muß eine Gestalt gewinnen in uns; Er muß uns zum Hauptgegenstand der Sehnsucht unseres Herzens, zum einzigen Lieblingsbilde werden, das uns überall begleitet, außer welchem die Seele keine Ruhe, keinen Genuß hat, auf welches sie jedes Mal wieder zurückkommt, wenn sie sich verirrt hat, wo sie alle Freude, alle Nahrung findet. Das heißt Christum sehen, und darin besteht eben die neutestamentliche Seligkeit, die wir hienieden im Landes des Glaubens genießen können.

Christus, das Lamm Gottes, muß in das Herz, vor die Augen des Geistes, Sein Geist muß Ihn verklären unserem Geiste; sonst lieben wir Ihn nicht; wer Ihn aber nicht liebt, der ist auch Sein Jünger nicht. Ist es so bey uns? sehen wir Ihn? Ist es wahr bey uns, was jener Vers sagt;

In meines Herzens Grunde
Dein Nam’ und Kreuz allein
Funkelt all’ Zeit und Stunde,
Deß kann ich fröhlich seyn - ?

O lasset uns nicht ruhen, bis der Geist Gottes Ihn uns so in’s Herz eindrückt und einschreibt mit Seinem lebendigen Griffel! Er verklärt den Heiland bey denen, die in innigem Umgang mit Ihm stehen, nach Seiner ganzen Geschichte, wie sie im Worte beschrieben ist. Er bringt dem Gott suchenden Herzen die ganze Geschichte des Heilandes so nahe, wie wenn sie gegenwärtig vor den Augen unsers Geistes vorgienge. Da sieht man den Heiland das eine Mal in der Krippe, das andere Mal als Knaben, als Jüngling, als Mann, man sieht Ihn in seinem ganzen heiligen Lebenswandel auf Erden, man sieht Ihn in Seiner Angst, Marter und Pein, in Seinen Wunden, in Seinem Tode, in Seinem Grabe, nach Seiner Auferstehung; bisweilen wird dem herzen auch etwas Weniges klar von Seiner Herrlichkeit. O was kann oft ein einziges Sprüchlein der heiligen Schrift für einen hellen, erfreuenden Schein auf den Schönsten unter den Menschenkindern werfen durch die Kraft des Heiligen Geistes! Wie kann die Seele in Liebe zu Ihm entzündet werden durch einen einzigen solchen Lichtblick! Wie wohl wird’s dem Herzen bey dem Genusse solcher himmlischen Kräfte! Am liebsten freilich verklärt Ihn der Geist der Wahrheit in dem großen Geschäfte, da Er als Versöhner und Bürge für uns litt und starb. Da kann man unter Seinem Kreuze stehen, wie wenn Er eben jetzt daran hienge; da kann man Sein Blut fließen sehen, wie wenn es jetzt flöße zur Versöhnung für unsere Sünden; da sieht man Ihm in Seine Wunden hinein, wie wenn sie eben jetzt geschlagen wären; man sieht’s, und trinkt Gnade und Erbarmung aus diesem Anblicke für sein heilsbegieriges Herz. – O welche Erquickung! wie wird man hingezogen zu seinem demüthigen, zum erniedrigten, zum zerschlagenen, zum gemarterten, zum verschmachtenden, zum sterbenden JEsus und Mittler, zu seinem allerschönsten Heilande!

O wie ist mir doch so wohl,
Wenn ich knie’n und liegen soll
An dem Kreuze, da Du stirbest,
Und um meine Seele wirbest!

Dieß ist die Hauptkraft der Streiter des Neuen Bundes. In der Kraft dieses Blickes auf JEsum kann man die Sünder überwinden; man kann seine liebste Lust in dieser Kraft zerbrechen; man kann die Reize der Eigenliebe, der tiefsten Sünde, besiegen und ertödten in dieser Kraft; da müssen die Sündenbilder aus dem Herzen weichen, denn JEsus bekommt die Oberhand; ja, da Bild des eigenen Ich’s wird neben diesem Bilde sehr ärmlich, jämmerlich, schmutzig; ein neues Leben, ein neues Ich, eine neue Sonne, JEsus Christus, geht dem Herzen auf. Da schmilzt die Eiskruste der Selbstsucht; da fliehen die Bilder der Wollust, wenn JEsus offenbar wird als der allein Liebenswürdige; da hört das Toben der eingewurzeltsten Leidenschaft auf, weil Der da ist, dem alle Seine Feinde zum Schemel Seiner Füße gelegt werden müssen; da wird das Herz licht und klar, es siehet Vergebung der Sünden, es sieht seine Gnadenwahl in den Wunden des Lammes.

Sehet da die Seligkeit des Neuen Bundes! Die ganze Anstalt der christlichen Kirche deutet darauf hin, es ist Alles darauf berechnet, Christum in’s Herz zu bringen, zu bewirken, daß man Ihn mit den Augen des Geistes sehe. Bey der Taufe singt unsere Kirche: „der Glaube sieht im höhern Licht das Blut des Bundes fließen“; bey dem Abendmahle soll sich der Gekreuzigte, Sein gebrochener Leib, Sein vergossenes Blut, uns sogar durch den von Außen dargereichten Trank und Speise vergegenwärtigen; und die Predigt des göttlichen Wortes – was ist ihr Hauptgeschäft? JEsum vor die Augen zu malen (Gal. 3,1.), zu verkündigen den Gekreuzigten und Auferstandenen, die Tugenden Deß, der uns berufen hat aus der Finsterniß zu Seinem wunderbaren Lichte. Vom Heiligen Geiste aber sagt der Heiland selber (Joh. 16,14.): „Er wird mich verklären.“ JEsus ist der Mittelpunkt der ganzen Religion; Ihn muß man finden, haben, innerlich sehen: sonst sieht, sonst hat, sonst findet man den Himmel, die Seligkeit nicht; denn Er ist die Seligkeit.

Wer diese Seligkeit einmal hat, von dem wird sie nicht mehr genommen, wenn er sie nicht muthwillig wieder selbst einbüßt. Das Herz kann wieder dürr und trocken werden durch eigene Schuld, oder überhaupt nach dem Willen und der Führung Gottes, aber JEsus läßt darum doch die Seinen nicht. Unter der treuen Pflege des Heiligen Geistes bekommt eine suchende und seufzende Seele immer wieder neue Kraft, neue Lichtblicke auf ihren Versöhner, neue Auffrischung und Stärkung; Sein Erbe, das dürre ist, erquicket Er immer wieder mit einem gnädigen Reden. So wird JEsus immer größer, immer unentbehrlicher; die Freude des Herzens an Ihm wird niemals alt, und so geht es fort, bis diese Hütte zusammensinkt, und das Glauben aufhört, und das Schauen anfängt.

O wer wird müssen, wie ihm da geschieht,
Wenn man Ihn endlich von Nahem siehet,
So wie Er ist!
O wie wird’s so wohl thun an Seinen Wunden
Von unsern jetzigen Arbeitsstunden
Sanft auszuruh’n.

II.

Nun habe ich noch kurz zu zeigen, wie wir diese besondere Gnade des Neuen Bundes erlangen können.

Wenn ein vernünftiger, denkender Mensch, der aber keine geistliche Erfahrung hat, das Bisherige gehört hat: so ist sein nächster Gedanke und Urtheil über alles das, was über das inwendige Sehen des Heilandes gesagt wurde, gewiß kein anderes, als daß er dieses Alles unter die Spiele einer müßigen Einbildungskraft zählt. Dieß sind Träume und Phantasiestücke, Einbildungen ohne Grund; man gaukelt sich etwas vor; man vertieft sich mit seiner Einbildungskraft in diese Dinge, man hält zuletzt seine Träume für Wahrheiten, geräth in einen krankhaften Zustand des Gemüths, wird ein Narr, oder, wenn es gut geht, ein gutmüthiger, aber für die Welt unbrauchbarer Schwärmer. So urtheilt unser Welt- und Zeitgeist über diese geistlichen Dinge, über die Gnaden, die er nicht versteht, von welchen er so weit entfernt ist als die Hölle vom Himmel. Aber dieß darf uns nicht irre machen. „Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes; es ist ihm eine Thorheit, und er kann es nicht begreifen.“ Möchten sich doch diejenigen, welche so schnell besonnen sind, geistliche Erfahrungen dem Spiele der Einbildungskraft zuzuschreiben, auch einmal die Mühe geben, zu versuchen, ob sie auch ein solches Spiel zu treiben im Stande seyen. Sie würden gewiß bald finden, daß solche Phantasiestücke nicht auf unserem Grund und Boden wachsen. Liebe Zuhörer! Der Mensch kann mit seiner Einbildungskraft in Alles, was menschlich und sinnlich ist, eindringen; er kann damit alle, ja die höchsten Dinge, die ein Gegenstand des menschlichen Wissens sind, durchschreiten; er kann Bildung hervorbringen, worüber er selbst erstaunt; er kann damit in den schändlichsten Sümpfen der Wollust, der Eigenliebe, des Eigennutzes, des Neides, der Rachsucht sich wälzen; er kann in seiner Einbildungskraft sündigen, und Sünden ausbilden, vor welchen die Natur zurückschaudert; er kann sogar in himmlische Bilder hineinschwärmen: aber den Heiland, Seine Geschichte, besonders soferne er erniedrigt wurde zum Tode, ja zum Tode am Kreuze, zum Lieblingsgegenstande seiner Phantasie zu machen, das kann der Mensch ohne Gnade nicht; hier liegt ein Riegel vor, den menschliche Anstrengung nicht wegzuschieben vermag. Das muß man zugeben, Leute von einer starken Einbildungskraft können auf Zeiten, auf Stunden, die Geschichte des Heilandes, und besonders Seine Leidensgeschichte wohl auch zum Gegenstande ihrer inneren Anschauung machen; sie können sogar darüber in eine Art sinnlicher Begeisterung gerathen: aber es wird doch dieß immer mit Anstrengung verbunden seyn, und das Herz, das nur mit Widerwillen sich zu einer solchen Arbeit bequemt, wird so bald als möglich sich dazu anschicken, in andern, in eigentlichen Lieblingsbildern wieder auszuruhen. In einem natürlichen Menschen kann Christus niemalen eine Gestalt gewinnen; das Herz wird sich nie an Ihm weiden: denn es ist ein Widerwillen, eine Feindschaft gegen Ihn und Sein Kreuz in uns, und diese Feindschaft können wir nicht wegphantasiren, nicht wegbeten, nicht wegschwärmen, nicht wegwollen; sie ist mit uns verwachsen, sie gehört zur Natur unsers Herzens; unser Wissen und Verstand, der Grund unsers Herzens und die Bildung unserer Gedanken,

Alles ist und bleibt mit Finsterniß umhüllet,
Wo nicht Seines Geistes Hand
Uns mit hellem Licht erfüllet.

Aus dem Bisherigen ist leicht zu erachten, wie wir die besondere Gnade und Seligkeit des Neuen Bundes erlangen können. Sie muß uns von Oben gegeben; Christus muß in uns geoffenbaret werden durch den Heiligen Geist, und wir können nichts dabey thun, als um diese hohe Gnade beten, unter solchem inwendigen Seufzen und Flehen die heilige Schrift, die durchaus von JEsu zeuget, betrachten, ob es etwa dem HErrn gefallen möchte, durch dieses oder jenes Geisteswort unserer Seele Licht zu schenken, und wenn Er solches Licht darreicht, demselbigen unser Herz nicht verschließen.

Wie die zarten Blumen willig sich entfalten,
Und der Sonne stille halten,
Daß wir so, still und froh,
Seine Strahlen fassen,
Und Ihn wirken lassen.

Gewiß, liebe Zuhörer! der Heiland ist sehr bereit, unsere armen Herzen aller Seligkeiten, die ihnen zum gläubigen Genuß auch schon in diesem Pilgerleben von Ihm erworben worden sind, theilhaftig zu machen, sobald Er ihnen beikommen, und dieselben ihnen schenken kann. Die Liebe, die in ihrem Laufe durch diese Welt die Leidenden aller Art, die Mühseligen und Beladenen, welche sich an sie wendeten, immer und ohne Verzug so herzlich tröstete, die Liebe, welcher, eben um Menschenherzen zu beseligen, ihr Blut, ihr Leben nicht zu theuer war, - diese Liebe wird keine Viertelstunde länger warten, als nöthig ist, um einem armen, seufzenden Menschen den ganzen Reichthum ihrer Erbarmungen zu offenbaren. Aber wir stehen Ihm eben oft im Wege; wir lassen Sein Licht nicht durchdringen in unsere Herzen, oft aus heimlicher Bosheit des Herzens, oft aus guter Meinung. Da will man etwa noch eine heimliche, tiefverborgene Gemeinschaft mit der Sünde unterhalten, oder man will aus guter Meinung seine eigenen Gerechtigkeiten, seine Thürme, die man gebauet hat, um in den Himmel zu steigen, die der Heiland nach Seiner Gnade immer wieder umwirft, doch nicht ganz zerstören lassen; oder man baut neue, wenn die Grundlosigkeit der alten erkannt worden ist; und so bleibt man denn freilich arm ohne Christus, ohne den Genuß Seiner Gnade, unselig und finster. Einer Seele, die Ihn lauterlich sucht, einem armen Herzen, das nichts, gar nichts mehr auszuweisen hat von eigener Gerechtigkeit, das sich ganz unter die Verdammung des Gesetzes gebeugt hat, und auf keiner Ecke mehr seine Blöße decken kann oder will, dem offenbart sich JEsus, und zwar zu der nämlichen Stunde, wo das Herz in diese Niedrigkeit herabgesunken ist.

Die arm sind und elend, und gar nichts mehr haben,
Für die ist ein Opfer die Gabe der Gaben.

Diese Gnade wünsche ich euch und mir.

Eines wünsch' ich mir vor allem Andern,
Eine Speise früh und spät;
Selig läßt es sich durch's Leben wandern,
Wenn dieß Eine mit uns geht:
Unverrückt auf einen Mann zu schauen,
Der im blut'gen Schweiß und Todesgrauen
Auf Sein Antlitz niedersank,
Und den Kelch des Vaters trank.

Ewig soll Er mir vor Augen stehen,
Wie Er als ein stilles Lamm
Dort, so blutig und so bleich zu sehen,
Hängend an des Kreuzes Stamm,
Wie Er da gekämpft um meine Seele,
Daß sie Ihm zu Seinem Lohn nicht fehle,
Und dann auch an mich gedacht,
Als Er rief: „es ist vollbracht!“

O großer Bürge, Bischof und Hirte Deiner Schafe, Deiner verirrten und Deiner gefundenen Schafe, bring' es dahin, bey uns, bey mir, bey diesen, die Dein Eigenthum sind, daß Du unser Ein und Alles werdest, daß Dein Leiden und Sterben, Deine Liebe bis zum Tod uns mit unauslöschlichen Zügen in unser armes Herz eingedrückt werde. Wahrlich! wir haben Dich lange genug vergessen, lange genug an dem Nichtigen unsere Freude gehabt!

Geh' auf in uns, Glanz der Gerechtigkeit,
Erleuchte uns, ach HErr! denn es ist Zeit!

Amen!

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