Harms, Theodor - Das Hohelied - Sechstes Capitel.

Gesang: Jesus schwebt mir in Gedanken -

Mein Freund ist hinab gegangen in Seinen Garten, zu den Würzgärtlein, daß er sich weide unter den Gärten, und Rosen breche. Mein Freund ist mein, und ich bin Sein, der unter den Rosen sich weidet. Du bist schön, meine Freundin, wie Thirza, lieblich wie Jerusalem, schrecklich wie Heeresspitzen. Wende deine Augen von mir, denn sie machen mich brünstig. Deine Haare sind wie eine Heerde Ziegen, die auf dem Berge Gilead geschoren sind. Deine Zähne sind wie eine Heerde Schafe, die aus der Schwemme kommen, die allzumal Zwillinge tragen, und ist keines unfruchtbar unter ihnen. Deine Wangen sind wie ein Riß am Granatapfel zwischen deinen Zöpfen. Sechzig sind der Königinnen, und achtzig der Kebsweiber, und der Jungfrauen ist keine Zahl; aber eine ist meine Taube, meine Fromme; Eine ist ihrer Mutter die liebste, und die Auserwählte ihrer Mutter. Da sie die Töchter sahen, priesen sie dieselbige selig; die Königinnen und Krebsweiber lobten sie. Wer ist, die hervor bricht, wie die Morgenröthe, schön wie der Mond, auserwählt wie die Sonne, redlich wie die Heeresspitzen. Ich bin hinab in den Nußgarten gegangen, zu schauen die Sträuchlein am Bach, zu schauen, ob der Weinstock blühte, ob die Granatäpfel grünten. Meine Seele wußte es nicht, daß Er mich zum Wagen Amminadabs gesetzt hatte. Kehre wieder, kehre wieder, o Sulamith, kehre wieder, kehre wieder, daß wir dich schauen. Was sehet ihr an Sulamith? Den Reigen zu Mahanaim.

In den letzten Versen des vorigen Capitels ist uns eine Seele beschrieben, die sich aufrichtig zum HErrn bekehrt hat, aber wegen ihrer Sünden und Thorheiten Ihn verloren. Menschen können ihr nicht helfen, Ihn wieder zu finden; sie ist allein angewiesen auf ihren Heiland; durch den heiligen Geist allein muß die Seele zu Ihm getrieben werden. Das Einzigste, wodurch ihr Menschen helfen können, ist deren Fürbitte. Die kann die Angriffe des Teufels fern halten. Nun folgt V. 1. Der Garten, von dem die Seele spricht, ist nicht ihr Garten; sie ist sich ja ihrer Liebesgemeinschaft mit Ihm nicht bewußt. Der HErr windet sich Sträußlein aus den Seelen, die von der Welt verachtet, sich zu Ihm gefunden haben, und die Er immer mehr und mehr einführt in Sein Paradiesesgärtlein. Was hier Sulamith spricht, ist ein groBes Wort, es ist ein Wort der tiefsten freudigsten Demuth. Der Christ fühlt es oft schmerzlich, wenn er sich von seinem lieben Heiland gegen Andere zurückgesetzt sieht, denn er hat auch seine Eifersucht: er beneidet es Andern, wenn sie in Freuden ihres Heilandes genießen, während seine eigne Seele bis in den Tod betrübt ist; er fragt sich traurig: warum haben denn diese es so viel besser als ich? Wenn in einer Seele, wie hier bei Sulamith, der Liebesverkehr zwischen ihr und dem Herrn unterbrochen und es dahin mit ihrer Glaubenskraft gekommen ist, daß sie das Glück Anderer neidlos tragen, wenn sie, obgleich sie sich des Glaubenstrostes nicht erfreut, wenn sie dennoch sagen kann V. 2, dann ist sie zu einer seltenen Klarheit durchgedrungen. Die Rosen, oder besser übersetzt Lilien, sind die andern begnadigten Seelen, die von dem Gnadentrost des HErrn überschüttet sind, während Sulamith einsam irrt. In der tiefen neidlosen Demuth ihres unerschütterlichen Glaubens ist sie eine ganz seltene Erscheinung, steht am höchsten unter den Christen, und dahin will der HErr Christus die Seele haben; die findet V. 3 Er am schönsten, anmuthig wie Thirza. Das war ein Lustschloß der israelitischen Könige und bedeutet „Anmuth“; lieblich wie Jerusalem, lieblich um seines Tempels willen, wo die Rauchopfer des Gebets unaufhörlich zu Ihm emporstiegen. Eine solche ununterbrochene Glaubensfestigkeit, wie die Sulamiths, ist nur möglich bei solcher Demuth. Eine solche Seele gehört zu den Mächtigsten im Reiche Gottes; sie ist ein Held, eine Macht; darum sagt auch der HErr V. 3 von ihr: sie ist schrecklich, wie Heeresspitzen. Mit solchen demüthigen, glaubenskräftigen Seelen kann der HErr ein Großes thun in Seinem Reich. Darum, weil sie Heeresspitzen sind, hat es auch Satan ganz besonders auf sie abgesehn; in seinen fortwährenden Anfechtungen bewähren sich solche Seelen immer mehr, und werden immer tiefer in den Staub gebeugt. Sie sind es aber auch, von denen der rechte Segen weit hin fließt; sie sind es, die der HErr liebt. Aber warum spricht Er V. 4? Meint Er, daß Seiner Liebe zu viel werde? O nein: Er kann nur ihre Augen nicht ansehn, weil sie noch feucht sind von den Thränen der Buße und des Jammers; Er liebt sie so herzinniglich, daß ihr Schmerz Ihm so sehr leid thut, und Er beeilt Sich, ihre Thränen zu trocknen; Er sagt es ihr wieder, wie schön Er sie finde in ihrer thränenschweren Glaubenskraft; Er wiederholt, was Er schon Cap. 4, V. 1, 2, 3 ihr gesagt hat. Die Haarlocken sind ein Bild der Tugenden, die der heilige Geist wirkt, gerade darum so schön, weil sie Geisteswirkungen sind. Das Bild ist hergenommen von den langen weichen Haaren der Angoraziegen, die, (richtig übersetzt) geschoren haben, nämlich das Gras. V. 5 ist ein Bild der Worte, die wie die Zähne eine Hauptzierde des Mundes sind. Worte aus dem heiligen Geist geredet, müssen Frucht schaffen; sie kommen nie leer zurück, ja sie tragen Zwillinge, predigen immer beides Gesetz und Evangelium, wirken zugleich Buße und Glauben. Solche Worte kommen aus solchem Munde, der kein unnützes Wort reden mag. V. 6 spricht wie schon früher von der ewigen Jugendfrische der Seele, die sich mit ihrem Heiland eins weiß. V. 7 ist nun merkwürdig, und vielen anstößig, ist auch schwer zu verstehen und schwer zu erklären. Der heilige Geist spricht hier von dreierlei Art Seelen, die in verschiedenem Verhältniß zu dem HErrn Christo stehen. Zwar ist das Bild von Salomos Hofe und dessen traurigen Verhältnissen hergenommen, aber es ist kein Beweis von der Gültigkeit der Vielweiberei daraus herzuleiten. Der HErr Christus lebt im Ehebunde, wie mit der Kirche, so auch mit den Seelen, die Er zu Seinen eignen gemacht hat. Die ersten nun, die Ihm am nächsten stehen, sind die, welche in der Demuth und Liebe bewährt, in so innigem Verhältniß mit Ihm wie möglich stehn. Sie sind so gründlich gedemüthigt, so ausgeleert von allem Eignen und von der Creatur, daß sie nur eine Liebe haben: den HErrn! Das sind die Königinnen. Sechzig ist eine symbolische Zahl. Sieben ist die Vollendung, und siebzig würde ein vollkommnes Verhältniß bedeuten, würde auch sagen, daß die Zahl der Königinnen voll sei, und keine neue mehr hinzu kommen könnten. Sechzig bedeutet also alles Unfertige, und unvollkommen und mangelhaft ist Alles hier auf Erden, auch das allerinnigste Verhältniß einer Seele mit ihrem HErrn. - Die zweite Art der begnadigten Sünderseelen steht auch in einem gewissen ehelichen Verhältniß mit dem HErrn Christus, und sie haben vielfach in hohem Maaße Seine Liebesbeweise erfahren, aber sie sind noch nicht fest gegründet im Glauben; sie können noch nicht sagen: ich habe nur eine Liebe. Die können auch nicht mit Ihm regieren. Ihre Liebe ist noch zu schwach; sie hängen noch an der Welt, und können sich in ihrem begnadigten Zustand noch nicht recht zurecht finden. Die Königinnen sind hindurch gedrungen, die Herrlichkeit mit dem HErrn zu theilen, ohne sich zu überheben. Die Kebsweiber brennen wohl im Glauben und in der Liebe, aber es fehlt noch so viel an allen Seiten. Die Jungfrauen sind ohne Zahl. Das sind die Seelen, die zwar in den Gnadenstand eingetreten sind, aber gar noch nicht wissen, ob sie sich rechts oder links hinwenden wollen. Aber Eine Seele, V. 8, bevorzugt der HErr vor allen. Wer ist die? Das ist eine Seele, die nach mancherlei Verirrungen sich an nichts kehrt, sie mag die Gnade fühlen oder nicht; sie mag schwelgen im Genuß ihres Heilandes, oder Ihn schmerzlich entbehren; sie kehrt sich an nichts, und wartet still im festen Glauben, daß der HErr sich wieder zu ihr wende. Des HErrn Auserwählte, Seine Liebste ist aber nicht nur Eine Seele; das ist eine jede, die wie der verlorne Sohn reu- und demüthig wieder zurückkehrt in des Vaters Haus. Eine solche Seele ist dem HErrn in diesem Augenblick viel lieber, als die darin Gebliebenen, das verlaufene und wiedergefundene Schaf weit lieber, als die, welche die Heerde gar nicht verlassen haben. Diese beiden Gleichnisse wiederholen sich immer wieder, und Jeder unter uns kann diesen Auserwählten gleichen, die ihrer Mutter, dem himmlischen Jerusalem, die Liebsten sind, wie ja unter den Engeln mehr Freude ist über Einen Sünder, der Buße thut, als über neun und neunzig, die der Buße nicht bedürfen. - Wenige ringen sich durch Trübsale und Anfechtungen hindurch zu einer klaren Stellung zu ihrem Heilande; die meisten gehören zu den Jungfrauen, deren keine Zahl ist. V. 9 bringt uns noch mehr Worte der Liebe des Herrn an eine Auserwählte, und wir sehen aus all diesen Liebeserklärungen, wie treu Sein Herz zu solchen tief gedemüthigten, fest gegründeten Seelen steht. Er sieht in ihnen die Morgenröthe, denn der Schein der ewigen Gnadensonne geht durch sie hindurch; er sieht in ihr nicht die Sonne selbst, nur die Vorboten davon; eine solche Seele steht nur im Schein des HErrn Christi; an ihr selbst ist noch viel Unwürdigkeit. Wie in der Offenbarung das Weib mit der Sonne bekleidet, den Mond unter ihren Füßen hat, so auch Sulamith, denn wie die Sonne das Sinnbild der himmlischen, so ist der Mond das Sinnbild der irdischen Herrlichkeit. Und wie sie Creatur in irdischer Herrlichkeit, so prangt für den HErrn Jesu eine Seele, die sich eben so klar ihrer Unwürdigkeit, wie ihres Gnadenstandes bewußt ist. Sie prangt so herrlich vor Seinem Angesicht, daß selbst Kinder der Welt aus ihrer demüthigen Stille ihre Herrlichkeit herausfühlen, obgleich sie kein Verständniß dafür haben. Eine solche Seele ist mit der himmlischen Gerechtigkeit, wie mit der Sonne bekleidet, und ist so eine Welt im Kleinen. - Wird denn nun eine Seele nach solchen Lobpreisungen nicht schläfrig im Kampf, oder überhebt sich? Nein. 18 sie diese Liebe des HErrn erfährt, und sich ihrer bewußt wird, da sieht sie, V. 10, in ihrem Garten nach, ob sie nicht Früchte finde. Ach sie weiß wohl, daß sie keine hat. Was wird sie wohl gefunden haben? was sieht sie mit ihren Augen? Lauter Unfertiges, kaum Begonnenes. Eben darum, weil sie so gering von sich denkt, daß sie in ihrem Garten keine Früchte findet, eben darum kann der HErr sie gebrauchen in Seinem Reich, und im Dienst der Mission. Solche Seelen sind Amminadibs, d. h. freiwilliges Volk, auserwählte Werkzeuge in des HErrn Hand. Daß durch eine solche Seele etwas zu des HErrn Ehre geschieht, das darf sie selbst nicht wissen, nicht wissen, daß sie Gaben hat, die gebraucht werden; sie staunt nur, daß der HErr Christus sie überhaupt lieb hat, und sich in Gnaden zu ihr bekennt. - V. 12. Die Töchter Zions, die Gläubigen haben Sulamith herzlich lieb gewonnen, und sehnen sich nach ihr, um sich an ihrem Glauben zu stärken. Ein so tief gemeinschaftlich getragenes Leid ist es, was die Gemeinschaft der Gläubigen immer enger knüpft. Der heilige Geist bringt die arme angefochtene Seele immer wieder mit denen zusammen, die für sie gebetet haben; solche Begegnungen gehen nie spurlos vorüber. Mahanaim sind die Doppelheere, die Jakob sahe, die Engel, die für deß HErrn Reichssache kämpfen. Die Gläubigen sehen Sulamith nicht als Mahanaim, sondern sie sehen es an ihr, sehen die Engel ihr zur Seite stehen und kämpfen. Amen.

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