Harms, Ludwig - Der Psalter - Der 139. Psalm.

Harms, Ludwig - Der Psalter - Der 139. Psalm.

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Dieser Psalm stellt uns die Allwissenheit und Allgegenwart Gottes vor Augen, daß Gott nämlich Alles sieht und weiß, einerlei ob es groß oder klein ist, ob es in der Finsterniß oder am hellen Tage geschieht; und daß Gott allenthalben gegenwärtig ist, ob du auch an den Enden der Erde dich befändest, oder deine Wohnung im Himmel oder in der Hölle hättest. Ist Gott aber allenthalben gegenwärtig, so muß er auch wissen, was an allen Orten geschieht. Das bezeugt der Psalm auf die klarste und deutlichste Weise. Damit nun diese Erkenntniß für David keine unfruchtbare sei, so wendet er sie auf sich selbst an und spricht: HErr, Du erforschest mich und kennst mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt Du es; Du verstehest meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist Du um mich, und flehest alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das Du, HErr, nicht Alles wissest. Was für ein unbedeutendes Ding ist das, ob ich sitze oder stehe, ob ich gehe oder liege; und siehe, Gott weiß mein Sitzen und mein Liegen, Gott weiß mein Gehen und mein Stehen. Meine Gedanken hat noch kein Mensch errathen,. Gott aber weiß sie von ferne.; Er sieht all meine Wege und weiß auch, warum ich sie gehe. Ja das Wort auf meiner Zunge, noch ehe ich es ausgesprochen habe, mein Gott weiß es, ihm kann nichts verborgen bleiben. Wenn wir das bedenken, dann stehen unsere Gedanken still und wir sprechen mit David: Solches Erkenntniß ist mir zu wunderlich und zu hoch; ich kann es nicht begreifen. Nein, das kann auch Keiner begreifen. Vor Gott kann ich nichts verbergen, darum sage ich aus eigener Erfahrung: Wo soll ich hingehen vor Deinem Geist? Und wo soll ich hinfliehen vor Deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist Du da. Bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist Du auch da. Nehme ich Flügel der Morgenröthe, und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch Deine Hand daselbst führen und Deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsterniß möge mich decken; so muß die Nacht auch Licht um mich sein. Denn auch Finsterniß nicht finster ist bei Dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsterniß ist wie das Licht. Allenthalben ist Gott, allenthalben sieht er mich, vor Ihm gibt es weder Finsterniß noch Nacht. Das ist die wunderbare Lehre von der Allgegenwart und Allwissenheit Gottes, die kein Mensch wirklich erfährt, als der sie glaubt. Ich weiß noch aus meiner Kindheit, daß ich, als ich diesen 139. Psalm zum ersten Male gelesen hatte, den ganzen Tag damit beschäftigt war und ihn auf Alles anwandte. Wir wohnten damals noch auf einem Kirchhofe; saß ich dann etwa auf einem Grabe, so sagte ich: der liebe Gott sitzt bei mir, oder ich hob meinen Finger auf und sagte: der liebe Gott sitzt auf meinem Finger. Des Abends, ehe wir Licht ansteckten, dachte ich, Gott ist auch in dieser finstern Stube, darum will ich nichts Böses thun. Mächtig ergreift dieser Gedanke: Gott ist allenthalben und sieht Alles, das Herz eines Kindes. Ist man ein rechtes Kind, das nicht sündigen will, so hat man seine herzliche Freude daran, daß Gott bei einem ist; will man aber sündigen, so ist es die größte Pein, sich dem Auge des allgegenwärtigen und allwissenden Gottes nicht entziehen zu können. Aber sagt mir einmal: Wer glaubt denn noch dieses Wort: Gott ist allgegenwärtig und allwissend? Wenn du Kind, du kleiner Knabe, du kleines Mädchen dich hineingeschlichen hast in die Speisekammer, um zu naschen, z. B. beim Zucker, bei der Milch rc. glaubst du, daß Gott bei dir ist? Glaubtest du das wirklich, du würdest wieder herausgegangen sein ohne etwas anzutasten. Würde der Hurer sich ins Hurenbett legen, wenn er glaubte, Gott steht dabei und sieht es? würde der Dieb in das Haus seines Nachbars steigen, wenn er glaubte, daß Gott es sieht? Die Menschen glauben es nicht, daß Gott allgegenwärtig und allwissend ist. Die Sündenwege, die sie gehen, die sündlichen Werke, die sie thun, die offenbaren und heimlichen Schanden, die sie treiben, beweisen es, daß sie nicht glauben, Gott flehet uns. Da sehet die Bestätigung des Worts: Alle Menschen sind Lügner, sie beweisen e.^ durch Wort und Wandel. Glaube ich wirklich, daß Gott Alles weiß und sieht, so ist davon die nächste Wirkung, daß ich mich vor jeder heimlichen und offenbaren Sünde hüte, vor jeder Sünde zurückschrecke, das ist die Folge davon, wenn der Mensch wirklich glaubt, daß Gott dabei ist. Als Joseph aus dem Munde der Potiphar das scheußliche Wort hörte: Komm schlaf bei mir, ja als sie ihn anfaßte, um ihn zur Hurerei zu reizen, da antwortete er: Wie sollte ich ein solch' großes Uebel thun und wider den HErrn, meinen Gott, sündigen? 1. Mose 39. Damit lieferte er den Beweis, daß er wirklich glaubte: Gott ist allgegenwärtig und allwissend. Für den Frommen ist dies so tröstlich, denn er will nicht sündigen und weiß nun: Dem HErrn ist es bekannt, Er sieht es, daß ich nicht sündigen will. Es ist meine Freude, daß Gott bei mir ist Tag und Nacht, wo soll da die Furcht herkommen? Ich habe ja den Gott bei mir, der alle Furcht austreibt. Darum, wie diese Lehre von der Allgegenwart und Allwissenheit Gottes der köstlichste Trost den Frommen ist, so ist sie den Gottlosen der größte Schrecken und Abscheu. Daß sich diese Erkenntniß Gottes nun auch auf alles andere bezieht, davon spricht David weiter: Es war Dir mein Gebein nicht verhohlen, da ich im Verborgenen gemacht ward, da ich gebildet ward unten in der Erde. Deine Augen sahen mich, da ich noch unbereitet war; und waren alle Tage auf Dein Buch geschrieben, die noch werden sollten, und derselben keiner da war. Da sehen wir, wie Alles in Gottes Hand ist. Als du noch im Mutterleibe warst und von dir selbst kein Bewußtsein hattest, war Gott um dich; Er hat dir Leben und Gesundheit gegeben und das Ziel Deiner Lebenstage bestimmt. Wenn du das recht bedenkst, mußt du da nicht ausrufen: Solches Erkenntniß ist mir zu wunderlich und zu hoch; ich kann es nicht begreifen. Aber wie köstlich sind vor mir, Gott, Deine Gedanken? Wie ist ihrer eine so große Summe? Sollte ich sie zählen, so würden ihrer mehr sein, denn des Sandes. Wenn ich aufwache, bin ich noch bei Dir. David kommt ins Nachdenken und Lustrieren über seinen treuen Gott, und davon ist sein Herz so wunderbar ergriffen, daß er nicht einschlafen kann. Wohl legt er sich nieder zum Schlafen, aber der Schlaf bleibt ferne, sein Herz ist in Anbetung versunken, und als die Morgenröthe anbricht, ist er noch nicht damit fertig, sondern ist noch fortwährend mit Gott beschäftigt. Haben wir gesehen, welch ein Trost diese Lehre dem Frommen ist, so merket nun weiter, daß man mit denjenigen Leuten, die nicht glauben an die Allgegenwart und Allwissenheit Gottes gar keine Gemeinschaft haben kann, denn David betet: Ach Gott, daß Du tödtest die Gottlosen, und die Blutgierigen von mir weichen müßten. Denn sie reden von Dir lästerlich; und deine Feinde erheben sich ohne Ursache. Ich hasse ja, HErr, die Dich hassen, und verdrießt mich auf sie, daß sie sich wider Dich setzen. Ich hasse sie in rechtem Ernst; darum sind sie mir feind. Wie ewige Feindschaft ist zwischen Gott und dem Teufel, so ist auch ewige Feindschaft zwischen den Kindern Gottes und den Kindern des Teufels. Die Kinder des Teufels müssen die Gotteskinder hassen und verfolgen, das liegt in ihrer Natur; und die Gotteskinder suchen die Kinder des Teufels zu bekehren, das liegt ebenfalls in ihrer Natur. Wenn ein gläubiger Christ viel Verkehr und Umgang hat mit den Kindern des Teufels, so muß ich ernstlich daran zweifeln, ob er auch ein Christ ist. Denn daß Freunde und Feinde Gottes mit einander auf du und du stehn, daß sie zusammen scherzen und lachen, auch wohl essen und trinken und wohl gar Arm in Arm gehen, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ich kann, ja ich muß es versuchen die Weltkinder zu bekehren, aber Gemeinschaft kann ich nicht mit ihnen haben. Will sich Jemand wider meinen Gott und HErrn setzen, so ist der mein bitterster Feind; und mit dem, der meinen Gott antastet, sollte ich Gemeinschaft haben, den sollte ich in den Arm nehmen und ihm die Wangen streicheln? Nimmermehr! In dem allem aber ist erforderlich die allergrößte Aufrichtigkeit, darum schließt der Psalm mit dem Worte: Erforsche mich Gott, und erfahre mein Herz; prüfe mich, und erfahre, wie ich es meine. Und siehe, ob ich auf bösem Wege bin; und leite mich auf ewigem Wege. David will sagen: Es ist leider oft schlimm, daß die Menschen sich selbst täuschen, darum will ich mich nicht mit dem begnügen, was ich selbst von mir halte, sondern prüfe Du mich, mein Gott, erforsche und erfahre, wie ich es meine, und was Du dann als Wahrheit befunden hast, das offenbare mir. Wenn man mit solchem Gebet vor Gott tritt, dann wird es einem gelingen, denn es steht geschrieben: Dem Aufrichtigen läßt Gott es gelingen. Amen.

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Vorlesung am Sonntag nach Weihnachten 1863.
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