Harms, Claus - Winter- und Sommer-Postille - Am Sechs und zwanzigsten Trinitatis.

Harms, Claus - Winter- und Sommer-Postille - Am Sechs und zwanzigsten Trinitatis.

Hauptgesang: Nr. 157.

Treu ist Gott, nehmts doch zu Herzen. Im Hause des Herrn wird solches Wort, dieß herrliche Wort von Gottestreu und Gottestrauen erst recht gehört. Wer es auch in seiner Wohnung lieset für sich, o nicht wahr, meine Brüder, hier, von Allen ausgesprochen, findet er, daß es doch einen viel tiefern Eingang hat. Es kommt über die Seele mit dem Wohlgefallen Aller begleitet und mit der großen Empfehlung, welche Ding es an Andrer Seelen thut. Da giebt sie williger sich hin und völliger, und hierauf mit beruht die Liebe einer frommen Seele für das Gotteshaus. Wie von Hunger und Durst getrieben eilet sie auf die Weide, da Gott - Hirt ist, und zu den frischen Wassern, mit welchen er die Seelen erquicket, — und aus dem finstern Thal des Kummers und der Verfolgung eilt sie zu Gott, daß er Stecken und Stab ihr gebe, welches ist sein heiliges Wort. Meine Lieben, sollte es wol dahin kommen unter uns zu Solcher Allgemeinheit der Gottesliebe, daß Jedermann spricht, wie David: Ich halte mich, Herr, zu deinem Altar, da man höret die Stimme des Dankes und da man predigt alle deine Wunder! Herr, ich habe die Stätte deines Hauses lieb?! Sollte es wol dahin kommen unter uns, daß Jedermann spräche wie David in einem andern Psalm (27) das schöne Wort: Eins bitt' ich vom Herrn, das hätt' ich gerne, daß ich in seinem Hause möge bleiben mein Lebelang, zu Schauen die schönen Gottesdienste des Herrn und seinen Tempel besuchen? Sollte es wol dahin kommen unter uns, daß, wer nicht kommen kann, darüber betrübet wird und mit jener Seele, Psalm. 42, ihr Herz und ihren Schmerz ausschüttet: Ich wollte gern hingehen mit dem Haufen und mit ihnen wallen zum Hause Gottes mit Frohlocken und Danken? Sollte es wol dahin kommen mit jedem Christen, daß er, wie Christus, erklärt:

Wisset ihr nicht, daß ich seyn muß in dem, das meines Vaters ist? Die Gedanken hierüber sind frey, aber die Wünsche und Gebete der Frommen sind auch frey.

Wenn Trübsal da ist, so suchet man Gott, spricht der Prophet, und an einem andern Ort: Anfechtung lehret aufs Wort merken. Doch, wollten nicht auch Andere kommen, wollten nicht die Unangefochtenen, die Glücklichen ebenfalls sich setzen um diesen Tisch, wie leer würde er dann seyn. Freylich, es giebt mehr Leidende, als die von der Welt dafür angesehen werden; seinen tiefsten Kummer verschließet gerne das Herz und thut sich vor Gott nur auf und weinet vor ihm, wischt aber die Thränen weg, wenn Menschen kommen, und spricht von andern Dingen mit dem Munde, während das Herz noch fortredet von seinem Kummer. Deren mögen auch hier seyn und bey sich sprechen in diesem Augenblick: Ich bin es und ich bin gekommen, ein Wort des Trostes zu hören von dir. Ich will es geben, wie Gott es uns in dem heiligen Buche giebt. Allein führet auch nicht das Glück hieher und läßt den Glücklichen begehren ein Wort, darein er seinen Dank lege? oder ein ernstes Wort, das ihn Mäßigung lehre, weil sein Herz in Gefahr des Stolzes und eitler Überhebung ist? Wer denkt an die Aufgabe seines Lebens, was er soll leisten nach Gottes Gebot und seinem Gewissen, leistet es aber nicht, geht zögernd seinen Weg, träg an sein Werk: möchte der sich nicht antreiben lassen durch irgend ein Gotteswort? Vor dessen Schelten sich die Himmel entsetzen, sollte dessen treibendes Wort nicht einen Menschen bewegen? Wer führt den Sichern hierher, den Verstockten, welcher meint, es hätte gar keine Gefahr mit ihm? O, der gute Geist läßt gar keinen los; wenn er auch noch so sehr betrübet worden, so weicht er während der Gnadenzeit doch nimmer gänzlich, und, sey es, daß er führe mit eines fremden Gedankens Gewalt hieher oder daß er die Umstände, welche als Zufall erscheinen, dabey walten läßt, bringet er auch Sichere hieher und wenn Gott giebt das rechte Wort auszusprechen, durchfähret es ihn auch, schrecket ihn auf aus dem Schlafe, daß er spricht: Wie ist es mit mir! steht es so gefährlich um meine Seele? Dagegen wer redlich den guten Kampf kämpft, der kommt willig und fleißig, dem ist's heiß geworden die Woche und er hat geharret der Stunde, wo Gott ihm eine Labung giebt, ihm voll einschenkt. Und die sich lieb haben und oft zusammen gehn zum Hause Gottes, wenn zwischen die eine trennende Hand sich drängt, sey's der verschiedenen Bestimmung oder des Todes Hand: sie stärken sich durch Gottes Wort auf die bange Stunde und suchen, was ihnen Trost geben könne. Wenn diese alle kommen, so werden die Tische voll, ob auch der Schaffner möge dann sorgen, daß der Vorrath zu klein unter so Viele sey, nun er nimmt's, wie Jesus that, betet darüber und sie werden alle satt. Das ist heute das kurze Wort: „Über ein Kleines,“ dazu ich spreche: Es ist dein Wort, o Jesus, sey du bey uns mit Segnender Gewalt und lehre mich mittheilen von deiner Gabe. Lehre die Gäste auch beten vor dem Mahle deines Worts und laß ungespeiset heute keinen einzigen gehen. Ich rede kühn vor dir: nicht sowohl mein Werk, als dein Werk ist hier vonnöthen: dein Wort ist unsre Speise auf unsrer Pilgerreise. Amen!

Evangelium Joh. 16,16-23. Über ein Kleines - - mich nichts fragen.

Wornach sollten sie auch fragen an dem Tage, da einer dem andern zurief: der Herr ist wahrhaftig auferstanden! oder an dem Tage, da sie nach seiner Verheißung die Kraft des heiligen Geistes empfingen, den er sandte vom Vater und durch ihn in alle Wahrheit sie leitete? Da hörte das ängstliche Fragen von selbst auf; sie wußten, was er mit dem Worte gemeinet hatte: „Über ein Kleines.“ Bis an jenen Tag hatte er ihnen dieß Wort gegeben — und zugleich uns gegeben, mit demselben der Zukunft, seiner Zukunft, entgegen zu gehn, weder den Muth zu verlieren, noch den Weg zu verfehlen. Wir betrachten:

das Wort „Über ein Kleines“ nach seiner mehrfachen Wirksamkeit.

  1. Es heitert den Traurigen auf;
  2. es hält den Fröhlichen an;
  3. es treibt den Langsamen fort;
  4. es fahrt den Sicheren durch;
  5. es steht dem Kämpfenden bey;
  6. es hält den Scheidenden fest.

I.

Zuerst zu kommen, ist ein Recht des Unglücks. Andre mögen Geduld haben, bis man gehört und getröstet hat den Unglücklichen. So ist's im Weltlichen und muß im Geistlichen nicht anders seyn. Ihr habet nun Traurigkeit, spricht Jesus, aber ich will euch wieder sehn; über ein Kleines, so werdet ihr mich sehen. Herr, gieb du mir zu wählen unter der großen Zahl der Traurigen, wem von ihnen zuerst diese Bibelgabe zu reichen sey. Gebe ich sie zuerst denjenigen, die um das Kleine jedoch groß bekümmert sind, ob sie tröstet das Wort: Über ein Kleines. Was das Kleine ist? Was der Herr selbst dazu gemacht mit jenem Spruch: Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen. Welches ? Darnach die Heiden trachten und ängstlich fragen: Was sollen wir essen, trinken, womit uns kleiden? Freylich, spricht der Dürftige, ich kenne auch wohl des Apostels Vermahnung: Wenn wir Nahrung und Kleider haben, so lasset uns begnügen. Das sollte mir auch genug seyn, aber ich entbehre das und kann seufzen, wie David: Ach, du Herr, wie so lange! Doch wollte ich mir lassen genügen auch an dem zu Wenigen, aber es begehren die Meinigen von mir; fordern dem ab, der nichts hat, sehen auf die Hände, die leer sind: das ist mein Trauren und Weinen. Fasse du den Gottestrost, nimm an das Jesuswort: „Über ein Kleines.“ Du sprichst: Ein Wort doch nur? Ich setze hinzu: aber wessen? Es ist das Wort dessen, der deinen Kummer kennt, der deine Thränen zählt, der den Thieren ihr Futter giebt, den jungen Raben, die ihn anrufen, wie du ihn anrufst mit deinen Kindern, von dem hast du das Wort: „Über ein Kleines!“ Es kann nicht lange mehr währen: Gott hat gesagt: „Über ein Kleines!“ sagten die Heiden schon: Oft kommt im Augenblick, was nicht gehoffet in Jahren; wievielmehr muß ein Christ gewärtigen, daß Gottes Hülfe nicht ferne sey. Über ein Kleines, und die Traurigkeit soll in Freude verkehret werden. — Du hast Brod und giebst Andern zu essen, aber dein Leiden ist jenes, von dem im Psalm steht: Der mein Brod isset, tritt mich mit Füßen: du klagst über verletzte Freundschaft. Wol ist sie auch ein Brod des Lebens und ein glücklicher Mensch, der desselben reichlich hat. Ein Armer, Bitterarmer, wer es nicht hat, wem es genommen wird vom Munde seiner Seelen. Sind diese Klagen nicht häufig, meine Zuhörer, und sollte nicht mancher unter uns seyn, der sie führt, oder nicht führt, sondern im Stillen trägt, dem die Nähesten gerade die Wehesten sind, deren Vertrauen er verloren hat ohne seine Schuld, deren Liebe ohne Sünde? Könnte das Herz hassen, wie es gehasset wird, dann litte es weniger, aber wie es nicht hassen darf, so kann es auch nicht. Auf der einen Seite stehet der alte Bund noch fest, wie er ist errichtet in den Jahren der Jugend schon, wie er geschlossen ist durch völlige Hingabe des Herzens, wie er geheiliget worden unter den Augen Gottes und im Berufen auf ihn: der Bund steht noch einerseits, und die Seele grämt sich über des Freundes, der Freundin Untreu, gehet nach mit bittendem Wort, und die Macht der Thränen ist vergeblich. Gott, lenke du das Herz, ist das Gebet, beuge den starren Sinn, erweiche du endlich, endlich die harte Seele, daß sie wieder mein werde und siehe meine Traurigkeit an. „Über ein Kleines,“ ist Gottes Antwort. Die Welt hat kein größeres Gut, als die Ehre; wie theuer dem Menschen, das ist bekannt. Der Christ unterscheidet nach Joh. 12,43 wo von den Obersten gesagt wird: Sie hatten die Ehre bey den Menschen lieber, denn die Ehre bey Gott, aber wie er auch die Ehre Gottes kennte und es weiß, wie er dieselbe befördern soll, daß Gottes Name überall gepriesen werde; wie er's weiß, daß zu einer gesegneten Wirksamkeit, sey's im Kleinen oder Großen, wenn nicht Ehre, doch Vertrauen und ein guter Name eine Bedingung sind: so bekümmert es auch ein Christenherz tief, wenn seine weltliche Ehre gekränkt, sein guter Name ihm geraubet wird. Zwar bleibet das Gotteszeugniß ein schöner Trost allezeit, doch das Herz will sich nicht zufrieden stellen, es ist ihm zu spät, daß droben erst die Unschuld an's Licht kommen, die Redlichkeit bezeugt werden soll, es will sehen auf Erden schon die Erklärung, daß die Feinde daran gelogen haben. Geduld! „Über ein Kleines“ ist das Wort Gottes und seine Vertröstung, und weiter redet Gott: Du weinest, aber deine Traurigkeit soll in Freude verkehret werden; die Sache ruhet in meiner Hand, und lasse dir sagen aus meinem Wort, Sprüchw. 19: Ein falscher Zeuge bleibet nicht ungestrafte und wer Lügen frech redet, wird nicht entrinnen. Gott redet oft plötzlich zu einer Sache, wird zu deiner Sache auch reden; fasse den Trost: „Über ein Kleines!“

II.

Und laß die Feinde derweilen lachen, denn über ein Kleines wird ihre Freude sich in Traurigkeit verwandeln. Doch soll meine Rede noch nicht gehen an die, so in sündlicher Freude leben; die wird sie treffen nachher. Jetzt meyne ich die Fröhlichen überhaupt, und möchte Ernst in ihre Freude legen, welcher Mäßigung lehrt und Fassung im Voraus auf eine schlimmere Zeit, die auch „über ein Kleines“ eintreten kann. So that bey den Jüngern der Herr. Er zeigte ihnen das Leiden, das ihnen bevorstand, und schwieg auch das Wort der Trennung nicht: Über ein Kleines, so werdet ihr mich nicht sehen. Freunde, wen oder was unsere Augen noch sehen zu ihrer Ergötzung, was sie betrachten mit herzlichem Wohlgefallen, lasset uns nicht ganz aus unseren Gedanken verlieren das Wort: Über ein Kleines. Nehme ich todten oder lebendigen Schatz zuerst? O! die du so lieb hast, das Weib deiner Jugend, den Mann deiner Seele und deiner Wahl, die Kinder, die euch Gott gegeben, wenig oder viel, wenn noch so viel, ihr ertragt den Gedanken kaum, derselben Eins zu verlieren, und müsset doch, wer weiß über ein wie Kleines, den wirklichen Verlust ertragen. Daß ihr's könnt alsdann, denket früher einmal: Wenn ich eins über ein Kleines verlöre? Wisset ihr wol, daß man auch sündigen kann in der Liebe zu den Seinigen? Gott will doch der Allerbeste seyn und sich nicht verdrängen lassen aus dem Herzen durch irgendwen. Wenn ihr aber denket: Ich stehe mit ihnen, o Gott, in deiner Hand, du hast sie gegeben, du kannst sie nehmen; wenn du vielleicht über ein Kleines sie von mir nähmest: nimm du, was ich nicht länger behalten soll; es fällt doch nicht aus deiner Hand, ich will gefaßt seyn. — Oder woran ihr sonst eure Freude habt: ist's die Liebe und das Lob eurer Mitmenschen; ja, das ist lieblich den Ohren und dem Herzen erquickend, wenn es aufrichtig ist, und ein allzeit offener Weg, was ihr Beßres, Heiliges etwa habt, ihnen mitzutheilen: laßt eure Freude doch ja in gebührenden Schranken sich halten, legt einen Zügel ihr an. Laßt sie nicht überfließen, legt einen Deckel auf sie. Was heißt das? Deckel und Zügel ist der Gedanke: „Über ein Kleines,“ ja über ein Kleines vielleicht wird der Geliebte der Gehaßte und der Gelobte der Verachtete; denn, wie Nr. 667 anfängt: Ach, wie ist der Menschen Liebe veränderlich! Oder war' es die Freude über euren Besitz: Lob macht eitel; Geld und Gut thut es auch und Manchem hats das Herz verdreht, der weiland wacker war. Daß du allezeit wacker bleibest, du vermögender Mann, und die Augen offen behältst für bessere Dinge, die Hände frey zum edleren Werk, das Herz rein von Hoffahrt und Geiz: so erwäge das Wort oft bey dir: „Über ein Kleines.“ Über ein Kleines kann Alles dahin seyn, das Geld verloren, der Acker verkauft, die Schiffe versunken, der Speicher leer, und ich mit einem weißen Stabe aus dem jetzt vollen Hause gehn — vielleicht über ein – Kleines — denn schnell und unvermuthet ist's Manchem wiederfahren.

III.

Den Stab weiter setzen. Neben dem Wege des bürgerlichen Fortkommens läuft ein anderer Weg des geistlichen Fort- und Weiterkommens durch Pflicht und Fleiß. O! wer diesen Weg kennet, dem muß unser Wort ein Sporn werden, der den Langsamen antreibt. Saget, wer thut sich genug in diesem Betracht? wer, der seine Pflicht kennt, muß sich der Trägheit nicht anklagen? wer, der diesen Weg kennt, nicht seufzend ausrufen: Daß ich Langsamer noch nicht weiter bin! Ich rede ja auch zu Greisen, die mit einem Fuß im Grabe stehen: also da schon? Über ein Kleines: so sinkt ihr völlig hinab. Manchmal in eurem langen Leben mögt ihr den Vorsatz gefaßt haben, zu laufen in dem Kampf, der uns verordnet ist nach des Apostels Vermahnung, Ebr. 12,1, und seyd immer bald müde geworden und in Schlaf gesunken. Was wollt ihr schlafen und ruhen, spricht Jesus zu seinen Jüngern. Der Feind ist nahe; über ein Kleines kommt der Tod und ruft euch ab. Wie ihr dann sterbet, so fahrt ihr, und wie ihr fahret, so bleibt ihr. Ich rede zu Männern der mittlern Jahre: werden wir hinankommen zu den Jahren der Greise? Das hat Mancher gehofft, darin sich Mancher getäuscht. Über ein Kleines: ach, wie die Blätter am Baume, so ist es mit uns sterblichen Menschen Feyerabend, ehe wir fertig sind! Du willst in der Nacht arbeiten? Hattest du Licht dazu? Christus redet von der Nacht, daß Niemand darin wirken kann. Männer der mittleren Jahre! noch einmal hört ihr das Wort: „Über ein Kleines.“ Über ein Kleines wird die Kraft sich zu verlieren anfangen, der Geist stumpf werden und der Körper zugleich, die Lust schwinden, welche schwere Dinge geringe macht, der Muth weichen, der uns jetzt zu kühnen Thaten noch anfeuerte über ein Kleines, wer weiß, über ein wie Kleines! Und wenn wir dann dastehen, schwach an Geist und Leib, wie wollen wir bestehen, wenn nicht unsre Werke unsre Vertreter sind? wie wollen wir vor der Welt bestehen, die uns Brod und Amt gegeben? wie vor denen bestehen, die auf ähnlicher Bahn vorausgeeilt sind und sich den Dank ihrer Mitwelt erwerben? wie vor Gott bestehen, der uns so manche Thür zum guten Wirken aufgethan und das Werkzeug in die Hand gegeben? Über ein Kleines, so ist die Zeit der Verantwortung da. „Über ein Kleines“ das Wort treibe den Langsamen fort. — Ich gedenke noch der Zweyhundert und fünfzehn, die vor zwey Sonntagen hier das Gelübde des treuen redlichen Strebens abgelegt. Ihr habt es gewiß ernstlich gemeint und in den verflossenen Tagen hoffentlich Schritte vorwärts gethan: werdet ihr fortfahren? Wenn die Welt euch nicht bezaubert. Das kommt von außen; wenn ihr euch nicht der Trägheit ergebt, das ist die Feindin in euch. Nehmet wahr die glücklichen Jahre, die schöne Saatzeit alles Trefflichen. Über ein Kleines ist sie entflohn. Ich gedenke der Jünglinge, die in diesen Tagen ihre Laufbahn von Neuem, wie deren insonderheit, die eine ganz neue beginnen. Über ein Kleines — so ist die Bildungszeit dahin. Ihr wisset, welche Hoffnungsblüthen an eurem Stamm hängen, welche Vater und Mutter und Geschwister haben hängen sehen. Ihr wisset, was ihr gelobt beym Eintritt in diese Stadt. Ja, aus sichrer Erfahrung ist's mir bekannt, welch' schöne Gelübde mancher Jüngling faßt. Ihr seyd im Hause Gottes jetzt, wiederholt es, wiederholt es Gott in diesem Augenblick, und in diesem Augenblick leget die Jahre hinein, die ihr werdet zubringen hier — sie sind ein Kleines nur – und spreche Jeder: So soll doch Großes geschehen darin, und diese Stunde ein Sporn seyn, wenn ich je langsam werde.

IV.

Wer am Ende steht, sieht oft mit Zittern und Beben, daß er am Ende ist. Er hatte sich die Zeit nicht also kurz gedacht. Ja, das ist immer nur ein Kleines. Ich wende meine Rede wieder von euch zunächst und spreche zur ganzen Versammlung. „Über ein Kleines“ das Wort ist von großer Wirksamkeit: es fährt den Sicheren durch. Ich kann sie nicht auf-, nicht aussuchen unter euch, die Sichern; aber Jeder stelle sich selbst der Rede dar, und trete im Geist hervor auf das Wort an ihn. Wen ich meyne? Den, der eine Jugend voll Sünden hinter sich und nun gesündigt hat bis in seine spätern Jahre, nunmehr aber in manchen Stücken aufgehört hat, und sich zu Muthe seyn lässet, als sey nichts geschehen. O du hast deine Wohnung genommen auf einem feuerspeyenden Berge, den du nicht kennest. Ehe du dich dessen verstehest — über ein Kleines — bricht er auf und schleudert dich hinab in ein Thal, da du nimmer wieder aufstehst. Du fürchtest nichts: das ist eben die Sicherheit, deine sündliche Sicherheit. Denn, wer gesündiget und nicht die Thränen-, die Seufzer-, die Angstbuße gethan, wer nicht die scharfen Zähne der Reue gefühlt und in solchem Schmerz die erbarmende, vergebende Gnade gesuchet hat: der ist noch in seinen Sünden, unangesehen, daß er sie jetzt nicht mehr verübet; denn unbereute Sünde ist fortgesetzte Sünde. Darüber werden dir einmal die Augen aufgehen, Gott gebe, übergehen. „Über ein Kleines“ das Wort mag heute keine Macht an dir haben: morgen, oder wer weiß, wie bald, wird es deine Seele überwältigen. Es gilt dir nichts, da du es im Hause Gottes hörst, o Gottes Wort ist auch keineswegs in einem Gebäude beschlossen; es kann dir auf der Straße begegnen, es kann zu dir in deine Schlafkammer treten, es kann dich am Rocke fassen, wenn du am Sarge eines Freundes stehst; – Über ein Kleines liegest du auch so — es kann dir zugeläutet werden, indem die Hausuhr die Stunde schlägt wenn Gott eben diese Stunde zu deinem Heile bereitet hat. — Ich werde gefragt, wen ich meyne? Ich meyne Jedweden, der im sichern Verlaß auf sein etwaniges Gute, das er verrichtet hat oder das er an sich trägt, der Ewigkeit entgegenlebt, so, wie er ist, vor Gottes Richterstuhl zu treten gedenkt. Wie der Gemeinde zu Sarden geschrieben wurde. Offenbarung 3, so redet dein Prediger zu dir: Ich weiß deine Werke, denn du hast den Namen, daß du lebest und bist todt, todt nämlich ist dein Werk, das du treibest. Das Werk deiner Mildtätigkeit, deine Allmosen hast du getödtet durch die Nebenabsichten dabey, deren jede ein Stich war, mit welchem du das Werk um das Leben brachtest, das in ihm war. Todt ist das Werk deines Berufes; denn du dientest weder Gott noch Menschen in deinem Beruf, sondern dir selbst, indem du auf den Lohn und die Ehre davon dein Augenmerk richtetest. Todt ist deine Liebe selbst, mit der du an deiner Familie und an deinen Freunden hingst: forsche nach, siehe scharf zu, dann wirst du finden, wie du habest nicht sie, sondern dich geliebt, nicht ihr, sondern dein Vergnügen gesucht, nicht sowol ihr Glück, als dein Glück. Ziehe ab von deinen Thaten, was Eigennutz, Eitelkeit, Unlust u. dgl. ist an ihnen, was wird dann übrig seyn? Du scheust, diese Rechnung zu machen? O sie wird dir vorgemacht werden und dir unter die Augen gestellt, du sicherer Mann, und über ein Kleines wird's geschehen. Du verachtest mein Wort. Aber Gott kann auch schreiben, kann zu irgend einer Stunde Finger an der Wand erscheinen lassen, wie eines Menschen Hand, welche schreiben, Dan. 5. Davor wirst du dich denn, wie jener König, entfärben, die Gedanken werden dich schrecken und die Beine zittern – und ein anderer Prediger wird dir die Schrift deuten: Tekel, d. h. du bist in einer Wage gewogen und zu leicht befunden. Und des Nachts wurde der Chaldäer König getödtet. - So kann auch über ein Kleines die Botschaft an dich kommen: Du Narr, diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern. Wache auf denn, sichrer Sünder — du weißt nicht, ob du Bußtag mit uns halten werdest— und das Wort: „Über ein Kleines“ durchbebe dich!

V.

Dankt es der Gnade Gottes, ihr Guten, daß sie euch bey Zeiten geweckt hat aus dem Schlafe der Sicherheit und gerufen in den Kampf des Glaubens und der Tugend. Ach, wie wollt ich, daß meinen Ruf der Herr möchte verstärken an allen Sicheren in dieser Gemeinde, daß ich nicht der Leerer bloß, sondern auch der Bekehrer würde! Die ihr die Augen aufschlagt und sehet den geistlichen Kampf, in welchem die Frommen stehn, erschreckt nicht davor! und ihr Frommen in diesem Kampf, werdet nicht wankend! „Über ein Kleines“ das Wort steht allen Kämpfenden bey. Ist es denn wirklich so heiß gewesen bisher? und kann ich nicht mit des Apostels Worten sagen, Ebr. 12,4: Ihr habet noch nicht bis auf's Blut widerstanden in euren Kämpfen mit der Sünde? Den Jüngern deutete der Herr die Zukunft, und also traf's ein: Ihr werdet weinen und heulen. Hast du denn auch geweint, daß man dich wollte abwendig machen von deinem Bekenntniß? Es mag schon manche Thräne vergossen worden seyn, sie werden noch häufiger fließen, wenn wieder der Glaube den Christen theuer wird. Nicht allen zugleich. Da wird denn Einer den Andern für einen Abgefallenen, Irr- Ungläubigen halten — in einem Hause drey wider zwey und zwey wider drey seyn, wovon schon Exempel vorhanden. Das ist der Unfriede, den der große Friedefürst Jesus Christus selbst auf die Erde brachte, das ist das Schwerdt, welches er auszog, und hat es uns hinterlassen. Dieses Schwerdt des Glaubens, ihr Gläubigen, feget es; denn es ist ähnliche Zeit geworden, wie da Christus zu seinen Jüngern sagte: Kaufet ein Schwerdt. Mancher führet es. Treuer Kämpfer, wird dir auch bange? treuer Kämpfer, ermüdest du auch? Höre das Gotteswort: „Über ein Kleines!“ und finde Beystand in dem. Wie viele sind doch, die mit dir kämpfen, wenn auch nicht neben dir, daß dein Auge sie wahrnimmt; wie sind auch deren so Viele, die sich damit trösten, daß nun bald, bald erfolge der Sieg, und bald aufgehe der helle Morgenstern, Jesus Christus; daß nicht könne lange mehr ausbleiben, um dessen Aufgang so viel gebetet wird. — Glauben und Tugend ist nimmer getrennt bey den Gläubigen; aber wo der Angriff zunächst auf die Tugend berichtet ist, mein Bruder, auf die Keuschheit, auf die Redlichkeit, auf die Amtstreue, auf die Nächstenliebe, daß du mußt kämpfen alle Tag und oft nahe daran bist, dich gefangen zu geben: o halte aus! Über ein Kleines, ein Kleines nur, so wird dich Gott befreyen aus den Händen und dem Umgang solcher Menschen. Über ein Kleines nur wird Gott dir eine Stärke geben, wie du sie nimmer gekannt, vor der die Seelenfeinde erschrecken und zu Schanden werden plötzlich. Da soll Großes in dir zum Vorschein kommen, wie ein neuer Mensch sollst du geboren werden: kann das ohne Traurigkeit abgehn? Ein Weib, wenn sie gebieret, hat sie Traurigkeit, denn ihre Stunde ist kommen; aber — — derweilen halte dich fest, nur noch eine kleine Zeit, und denke an jenes Gleichniß, Luc. 18, da Christus sagt: Sollte Gott nicht retten seine Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen? Er wird sie retten in einer Kürze. Über ein Kleines, das Wort steht den Kämpfenden bey.

VI.

Das ist nur Kampf mit Menschen. Wir kennen auch den Kampf mit Gott selbst, wo es scheint, als wenn er selbst uns den Glauben an sich, an seine Vatertreue und gütige Führung nehmen wollte. Solches geschieht und welche Probe war eine schwerere zu nennen als die, wenn er trennet, die sich lieben. „Über ein Kleines“ das Wort hält den Scheidenden fest. In Eine Schilderung möchte ich alle Bilder von dieser Art bringen; lege jeder Zuhörer sein Kummerbild und was ihn besonders tröstet dahinein. Sehet einen Vater scheiden aus dem Kreise der Seinigen. Er hat's schon lange gefühlt, daß das Ende herankomme; nun geht auch seiner Gattin und seinen Kindern ein Licht darüber auf. Ihrem Weinen begegnet sein sanfter segnender Blick; in ihr lautes Weinen fällt sein tröstendes Wort: Ja, Kinder, ich sterbe, doch Gott wird mit euch seyn; über ein Kleines werdet ihr mich nicht mehr sehn, doch aber über ein kleines, so werdet ihr mich wiedersehen. Bewegter blickt der Vater seine jüngsten Kinder an, als sähe er die so bald nicht wieder: doch tröstet ihn das Wort Jesu: Ich will euch nicht Waisen lassen. Gott ist der rechte Vater über Alles, was Kind heißt. Mit dem ruhiger Blicke des Einverständnisses blickt er die Gattin an: dich werde ich eher — dich werde ich über ein Kleines wiedersehn. Und reicht Allen die Hand auf frohes Wiedersehen und stirbt, nein, er lebet fort; er geht als ginge er nicht; er verschwindet und bleibt doch immer vor der Seele stehn. Ist's nicht also? Die ihr Verlust kennet, o Theure? Die kurze Trennungszeit vertreibet das Andenken der Liebe und hält den Scheidenden fest; „über ein Kleines“ das Wort hält das Band der Getrennten fest.

Das Wort ist euch heute geprediget. Und soll es bloß geprediget worden seyn? Es will auch gelebt werden, denn dazu ist es geprediget. Ich bin mit demselben in eurem Leben umhergegangen, und wohin ich nicht gekommen bin, dahin seyd ihr mit dem Wort gewiesen, auch in dem und dem Falle habe es eine Wirksamkeit. An solchen Worten überhaupt gestaltet sich das Leben, wächst, nährt sich, freut sich, hält, hebt und verklärt sich das Leben. Wo dieß Wort steht, da finden sich mehrere, es war nur Eine Blume von einer ganzen Wiese, oder ein Zweig aus einem großen Walde. Geht selbst in diesen Wald hinein! tretet hinaus auf die Wiese! Ihr kennt sie. Thut es alle Tage! Ich ginge gern alle Tage mit euch. Aber doch Einmal alle Woche gehn wir zusammen. Und Gott mit uns.

Quelle: Harms, Claus - Winter- und Sommer-Postille

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