Harms, Claus - Winter- und Sommer-Postille - Am ersten Sonntage in den Fasten, Quadragesimä oder Invocavit.

Harms, Claus - Winter- und Sommer-Postille - Am ersten Sonntage in den Fasten, Quadragesimä oder Invocavit.

Nro. 558, V. 5. (Der Anfang: Jesus kommt von allem Bösen etc.)

„Und sind stille.“ Denn die Ewigkeit lächelt uns an, wie eine Mutter ihre weinenden Kinder, und tröstet uns über des Lebens Schmerzen und sagt uns Beystand zu, wenn wir bedroht und versucht werden von dem Bösen. Da ist Jesus, der erste Überwinder. Ihm nach, ihm nach, meine Brüder! Sein Exempel weist uns den Weg, seine Herrlichkeit ist unser Ziel. So sprach er: „Wer mein Jünger seyn will, der nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ So sprach er ferner: „Vater, ich will, daß, wo ich bin, auch die bey mir seyn, die du mir gegeben hast, daß sie meine Herrlichkeit sehen.“ Und wir beten:

Zeuch uns nach dir! So eilen wir
Zum Himmel voll Verlangen.
Du bist, du bist, O Jesu Christ,
Vor uns voran gegangen.

Zeuch uns nach dir! Denn schwach sind wir,
Nur zu geneigt dem Bösen.
Wir sind ja dein: Du kannst allein
Vom Bösen uns erlösen.
No. 321, 1. 4.

Ich seh' im Geiste drey Widerredner auftreten. Der erste sagt: Es ist ein Leichtes, Ihm nachfolgen und den Sieg über das Böse davontragen, zeihe mich jemand einer Sünde! sag einer, wo ich Lügen geredet, wissentlich Schaden gestiftet habe! kaum saß ich weiß, daß ich versucht worden. Wol bin ich zuweilen gereizt und gelocket, und der Gedanke an den Vortheil des Bösen ist zuweilen in mir aufgestiegen, aber leicht blieb ich des Gedankens Herr, leicht wieß ich den Verführer zurück. - Antwort: Wie man es macht, so hat man es auch; allein, obs recht ist, Widerredner, daß du die Sache leicht machst? Das Grobe nur fällt dem Leichtsinn ins Auge; der Christensinn hat eine zarte, feine Empfindung. Und im Kleinen treu seyn ist doch mehr wie im Großen.

Der zweyte Widerredner sagt: Es ist zu schwer, Jesu nachfolgen und stets den Sieg über das Böse davontragen. Ach, fehlen wir nicht alle mannigfaltig? Die Sünden halten uns umlagert, wie ein Kriegsheer eine Stadt umlagert, daß keine Güter hineinkommen, - so daß keine guten Gedanken in uns aufkommen. Die bösen Gedanken setzen sich wie Degenspitzen auf die Brust und zwingen den Menschen zur Unthat. Es ist zu schwer für das schwache Herz, in den täglichen Kämpfen zu bestehen; es ist zu schwer für die Seele, sich rein und unschuldig zu erhalten; wer kann Muth fassen, so er weiß, daß er doch nicht siegen werde? - Antwort: Wie weißt du das? Du kannst! Verjage den Schwermuth, der dir alles verdüstert, und höre den Zuspruch Gottes: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ blicke auf Jesum, und nimm zur Losung die Worte in den Kampf: Ihm nach und siegen.

Dann tritt der dritte Widerredner vor: Was streitet ihr, obs leicht, obs schwer sey, Jesu nachfolgen und den Sieg über das Böse davon tragen. Ich würde nicht sprechen, wenn ihr die Sache nicht so überaus wichtig machtet, und meine Meinung ist: das kümmert uns ja nicht. Das schädliche Böse hasse ich, das schädliche Gute meide ich; das Böse, das Nutzen bringt, wenns nicht zu böse ist, das Gute, das Vortheil schafft, wenns nicht zu schwer ist, beides nicht genau nehmen, so halte ich es und lebe in Frieden. - O, du kennst nicht einmal den Streit des Guten und Bösen, dein kaltes Gefallen an der Welt läßt dich kein Gefallen an höhern Dingen finden, dein Sinn ist verschlossen für das Unsichtbare und Ewige, dein Kaltsinn macht deine Seele erstarren, und alle Gedanken schleichen niedrig an dir herum, deiner fliegt auf zu Gott, keiner erfaßt ein himmlisches Gut.

Kaltsinn, Schwermuth, Leichtsinn, lasset mich ausreden. Die des einen oder andern Sinnes sind unter den Anwesenden, hören die mich an. Vom Streit des Guten und Bösen will ich reden. Dazu erflehe ich mir den Beystand Gottes im Gebete der Christen.

Text. Die Versuchungsgeschichte. Matth. 4,1-11.

Versuchungen ähnlicher Art indeß ereignen sich täglich. Von der Versuchung Eva's an bis auf den heutigen Tag (ach, wie mancher mag noch heute in Versuchung gerathen!) ist jeder Mensch versucht worden, hat wol jeder Mensch den Streit des Guten und Bösen selber erfahren. Darum ists eine bekannte Sache, von welcher wir reden wollen:

Vom Streit des Guten und Bösen.

Laßt uns denselben betrachten

  1. als einen Streit des Zweifels und des Vertrauens,
  2. als einen Streit der Vermessenheit und der Bescheidenheit
  3. als einen Streit der Weltlust und der Gottesliebe.

I.

Wäre nichts Gutes an uns, so fände kein Streit Statt. Aber so wie ein Kind geboren wird, ist ja das Amt der Kirche da und bringt mittels des Sakramente der Taufe das Kind in den Einfluß des heiligen Geistes. Das Kind wächset auf, nicht unter Heiden, sondern unter Christen und die Seele nimmt Gutes in sich auf aus der christlichen Gemeinschaft. Es kommt dazu der christliche Unterricht in und außer der Schule, der ganz vergeblich doch wol bey keinem einzigen Kinde bleibt. So geht der Mensch mit mehrerem oder wenigerem, jeder mit etwas Guten in die Welt, immer weiter in die Welt hinein. Sein Gutes wird von der Welt gefährdet, wird den Verderbungen der Verführer ausgesetzt. Ist das Gute schwach und geringe, so hat das Böse leichter Spiel und Sieg über dasselbe. Eltern, Eltern, thut eures Theils alles was ihr könnt, um das Gute in euern Kindern zu befestigen und zu vermehren. Sie bleiben nicht frey von Versuchungen, nicht lange frey.

Jesus wollte anfangen. Er hatte sich eben bereitet zu seinem Werk, als schon der Versucher zu ihm trat. Für seine Absicht hatte er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet, nun hungerte ihn. Der Versucher sprach: Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brod werden. Jesus erwiederte ihm: Der Mensch lebet nicht allein von Brod, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes gehet - will sagen: von alledem, wodurch der Mensch, auf irgend eine Weise, nach Gottes Willen erhalten werden kann. Seht, er hatte Vertrauen; der Versucher wollte ihm Mistrauen und Zweifel einflößen, wollte das Gute und das Böse in Streit bringen.

So knüpft der Zweifel sich zuvörderst an des Leibes Nahrung und Nothdurft, und will dem Menschen das Vertrauen rauben, daß Gott, der die Vögel des Himmels speiset, auch ihn gewiß nicht werde umkommen lassen. Man nennet im Sprüchwort den Hunger ein scharfes Schwerdt, doch viel öfter als den Hunger selber gefährdet die Furcht vor ihm das Vertrauen auf Gott. Sie, sie ist die Versucherin, welche den Zweifel erweckt. - Wie so niedergeschlagen, wie so sorgsam, du Vater vieler Kinder? Du zweifelst, ob es dir gelingen werde, dich und die Deinen fernerhin ehrlich und redlich zu ernähren, ihren Hunger zu stillen, ihre Blöße zu decken, in dieser Zeit? Der Zweifel streitet in dir gegen das Vertrauen deiner Seele. Du vertraust den allweisen Gott und glaubst, daß er Mittel und Wege kenne zu helfen, auch da, wo dein Verstand stille steht; aber der Zweifel sagt: Vertrau seiner ungewissen Hülfe nicht! Du vertraust dem allmächtigen Gott und glaubst, er könne die Noth abwenden, auch dann, wann nichts gethan wird mit Menschenmacht; aber der Zweifel sagt: Seine Hülfe möchte zu spät kommen! Du vertraust dem allgütigen Gott und glaubst, er werde sich dein erbarmen, wann alle dich verlassen:, aber der Zweifel sagt: Wäre er gütig und liebevoll, er hätte sich längst dein erbarmet. - So kämpfet der Zweifel wider das Vertrauen und will es entfernen aus der Brust, die sich desselben freuet. Doch vertheidige, schütze, rette es, Christ! Widerstehe dem Zweifel, dem Teufel, so fliehet er von dir, sorgender Vater, so fliehet er von dir, weinende Mutter, - Gott verläßt dich nicht! Gott verläßt euch nicht, klagende Waisen; Vater und Mutter verlassen euch zwar, aber der Herr, Gott, nicht!

Es knüpft der Zweifel sich überhaupt an die Leiden und Unfälle des Lebens. Im Glücke blüht unser Vertrauen; wenn alles wohlgeht, dann glauben wir feste. Dann sind wir Helden im Glauben und Vertrauen - aber welche? Helden, wie manche Krieger in Friedenszeit, die von ihrer Tapferkeit prahlen und, wenns nun zum Treffen geht, bald die Fahne verlassen. Solche Helden sind wir, wenn unser Vertrauen nicht versucht ist. Es tritt nun der Versucher hinzu: der Gesunde wird krank , der Vornehme gering und verächtlich, der Freund findet sich zurückgesetzt, der Geliebte sieht sich vergessen, die Gattin wird durch Untreue betrübt, der Vater sieht seinen Stolz und seine Hoffnung eine Schande und ein Spott werden - da knüpft sich der Zweifel an; ob wirklich ein gutes Wesen die Welt erschaffen, die so voll von Plagen und Leiden ist? ob denn Gott wirklich die Welt regiere, in welcher solche Frevel geschehn? ob denn Gott richte mit Gerechtigkeit, da solche Unthaten nicht auf der Stelle an dem Thäter bestraft würden? ob Gott die Liebe sey, da er doch so betrübe? Diese Zweifel treten auf wider Glauben und Vertrauen, Frage um Frage, Grund um Grund, Spruch um Spruch. Doch, Christen, Christen, werfet ja euer Vertrauen nicht weg! Das hat Freud' und Leben, die Zweifel bringen Pein und Tod.

Es knüpft sich der Zweifel an das Gute, welches Menschen denken und thun. Wie elendes Moos sich an den Fruchtbaum setzt und dessen Wachsthum und Gewächs hindert, so beschleicht der Zweifel auch gute Seelen, die es ernstlich mit ihrem Besserwerden meinen, und verderben des Lebens Blüthen und Früchte. Der Sünder fühlt nicht, wie weit er abstehe von Gottes Liebe und Gnade, wie tief er gesunken sey durch Übertretung und Sünde - der bessere Mensch fühlt seinen Rückstand, blickt wehmüthig zur Tugendhöhe hinauf. Da kommen die zweifelnden Gedanken, ob er je sich von der Sünde frey machen werde? ob er je lauteres Gute zu Stande bringen - ob er je werde rein erfunden werden vor dem Heiligen? Diese Gedanken treten in Kampf mit seinem Glauben an den barmherzigen, langmüthigen Gott, mit seinem Vertrauen auf Gottes Milde und Gnade. Er wird bange um die Vergebung, er verzagt an seinem Fortkommen. Er will beichten, aber der Zweifel verschließt ihm den Mund; er will beten, aber der Zweifel erstickt das Gebet seiner Seele; er verläßt die Einsamkeit und beginnt Thaten, aber der Zweifel hat seine Kraft gelähmt, denn das Vertrauen, aus welchem die Seele ihre schönste Nahrung zieht, das Vertrauen mangelt. Arme Seele, gründe, stärke, mehre dein Vertrauen wieder! Ermuntre dich zum neuen Kampfe! Widerstehe dem Zweifel, dem Teufel, so weichet er von dir!

Weicht, ihr zweifelnden Gedanken;
Werde ich treu und standhaft seyn?
Werd' ich siegen, werd' ich wanken?
Wank' ich, wird mir Gott verzeihn?
Mein versuchter Mittler giebt
Hülfe jedem, der ihn liebt,
Giebt mir heilige Gedanken,
Muth und Treue nicht zu wanken.

Singet dieß einstimmig, nach dem 5ten Vers im Gesange 587.

II.

Der Teufel führte ein ander Mal Jesum in die heilige Stadt, auf die Zinne des Tempels, und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so laß dich hinab, denn es stehet geschrieben: Er wird seinen Engeln über dir Befehl thun, und sie werden dich auf den Händen tragen, auf daß du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Da sprach Jesus zu ihm: Wiederum stehet auch geschrieben: Du sollst Gott deinen Herrn nicht versuchen.

Eine solche Wunderthat würde Jesum sogleich beym Anfang seines Geschäfts bekannt und berühmt im Lande gemacht haben. Das Volk hätte ihn für den Messias gehalten und als den Gottgesendeten angebetet. Allein, so ging sein Plan nicht; der war frömmer und tiefer angelegt. Nicht dem Rath des bösen Geistes zufolge, sondern dem zuwider sollte der Plan gehen. Das wußte Christus wol, daß Gott ihn behüten würde, bis er sein großes Werk vollbracht hatte, in allen Gefahren, die unfehlbar über ihn kämen, aber Gefahren machen, Gefahren suchen und in den gemachten, gesuchten Gefahren die göttliche Beschützung zu erwarten, dazu war er zu bescheiden, damit wollte er Gott nicht versuchen. Die Bescheidenheit, sollte man denken, wäre eine natürliche und darum unverlierbare Tugend des kurzsichtigen, fehlerhaften, in aller Absicht schwachen Menschen. Sein Körper, wie hinfällig! sein Verstand, wie blöde! sein Wille und Vorsatz, wie veränderlich und weichhaft! Doch nein, früh regt sich der Dünkel bey dem Menschen von sich selbst, früh macht der Mensch ungebührliche Ansprüche an Andere, und Gott selbst möchte er neue Weisen lehren. Er vermißt sich: denn der ist vermessen, welcher zu viel von sich verspricht, zu viel von Andern fordert. Oft genug wird der Mensch erinnert, bescheiden zu seyn, aber seine Vermessenheit streitet wider die Bescheidenheit.

In der Vermessenheit erwartet der Mensch erstlich zu viel von Gott. Gott soll ihn beschirmen in jeder Gefahr, Gott soll ihn aus jeder Noth reißen, Gott soll ihm jeden Schmerz lindern und heilen. Ist das bescheiden? ist das gebührlich? schämet dein Herz sich nicht, Mensch, dieß zu verlangen? In jeder Gefahr, auch wenn du in deiner Ausgelassenheit Gefahren suchst, muthwillig dich in Gefahren stürzest, tollkühn dein Leben aufs Spiel setzest? Gott soll dich leiten und führen, wenn du betrunken, in der finstern Nacht, lebensgefährliche Pfade gehst? - Aus jeder Noth, auch wenn du dich leichtsinnig in Armuth und Elend bringst, wenn du die Hände in den Schooß legst und die Arbeit fliehst, wenn dir schon Ein oder zwey Mal geholfen worden, dann soll Gott dir bey alter Lebensweise zum dritten Mal helfen? Ist das nicht unbescheiden? - Jeden Schmerz, also auch die Schmerzen der Unmäßigkeit, der Unvorsichtigkeit, die Schmerzen der Krankheit, die du dir selber zugezogen, aufgeladen hast? jeden Schmerz soll Gott lindern und heilen? Doch nicht völlig muß deine natürliche Bescheidenheit überwunden und gewichen seyn. Du wagst es nicht, öffentlich das für dich erbitten zu lassen, du wagst es nicht, selber dein Verlangen Gott im Gebete vorzutragen, nur liegt es als Ansinnen an Gott im stillen Grunde deiner Seele. Aber rufe die Bescheidenheit, die schüchterne, wieder! Wehre der Vermessenheit, daß sie Muth fassen könne! Nimm der Vermessenheit die Rede, damit du hörest, was die sanfte Bescheidenheit lehrt!

Wie von Gott so auch ferner von den Menschen erwartet der Vermessene zu viel. Er mißt sich zu viel Ehre ab, Alle sollen ihm ausgezeichnete Hochschätzung beweisen. Er mißt sich zu viel Gewalt ab, Alle sollen sich in seinen Willen und in seine Laune fügen. Die Hochschätzung wird ihm nicht zu Theil, und die Bescheidenheit erinnert ihn, weß Standes er sey, wie gering seine Vorzüge, wie klein seine Verdienste an dem Maaßstabe wahrer Größe seyen. Seine Gewalt wird zurückgedrängt, und die Bescheidenheit lehrt ihn, wieweit nur sein Amt gehe, wie tief nur sein Scharfsinn dringe, wie viel nur seine Erfahrung umfasse. Bittre Wahrheiten, ach, nähme der Mensch sie doch an! Wie eine heilsame Arzney würden sie wirken, welche die Natur wieder auf ihre Bahn bringt. Die Bescheidenheit ist Natur, und sie muß siegen im Streit mit der Vermessenheit, welche an dem ohnmächtigen, kurzsichtigen, veränderlichen Menschen wahre Unnatur ist.

Endlich von sich selbst erwartet und verspricht sogleich der Vermessene zu viel, insbesondre was seine Besserung und Pflichtübung betrifft. Fraget Sünder, ob sie sich wol losreißen könnten? Mancher wird sagen, daß ers wol könne. Fraget Wollüstlinge, ob sie sich wol loswinden könnten aus den Zauberstricken? Mancher wird sagen: ja, sobald es ihm gefiele. Fraget Trunkenbolde, ob sie so tief gesunken seyen, daß sie ihren fernern Fall nicht hemmen könnten? Mancher wird sagen, daß er sich des Trunks wol enthalten könnte, wenn er wollte. Allein die erste Gesellschaft, der nächste Anlaß, der schwächste Reitz strafet sie Lügen. Sie haben sich vermessen, denn ihre Kräfte reichen so weit nicht mehr. - Wir meinten, die Bescheidenheit wäre eine natürliche Tugend. Ja, von Natur erhebt der Mensch vor der Erhabenheit der Pflicht, vor dem Ernst der Gebote, vor der Schwierigkeit, sein Gewissen rein zu erhalten. Von Natur hegt er ein schwaches Gefühl von dem, was er vermag, ist bange und sorget, daß er die Pflicht ja im Auge behalte, ja die Gelegenheit der Übertretung melde. Aber die Vermessenheit fällt über die Bescheidenheit her mit prahlenden Worten, macht den Menschen stärker wie er ist, klüger wie er ist, besser wie er ist. Er wird sicher gemacht, denkt seltener an die Pflicht, wacht weniger über sein Herz, geht öfter - freywillig in die Versuchung hinein - und kommt darin um. Mein

Christ, mein Christ,
Sey nicht vermessen, wach' und streite!
Denn machen muß, wer fallen kann.
Dein Herz hat seine schwache Seite,
Die greift der Feind der Tugend an.
Die Sicherheit droht dir den Fall;
Drum wache stets! wach' überall!

Warne einer den andern vor der Vermessenheit, wenn ihr zusammen singet diesen 5ten Vers im Gesange 532.

III.

Wiederum führte ihn der Teufel auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit, und sprach zu ihm: Dieß alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Hebe dich weg von mir, Satan, denn es stehet geschrieben: Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen. Da verließ ihn der Teufel, und siehe! da traten die Engel zu ihm und dienten ihm.

Von dem hohen Berge konnte man einen großen Theil des jüdischen Landes übersehen, welches damals ein schönes Land war. Der erwartete Messias sollte König desselben werden und auch fremde Völker unter sein siegreiches Scepter bringen. Vielleicht reget der Anblick Jesum auf, daß er zum Thron und zur Herrschaft eilt, mochte der Versucher denken, - o wenn ich einer der Ersten des neuen Reichs werden könnte, dann wäre ich der Erste, ich alles, er nichts. „Ich will dir, spricht er zu Jesu, zum Throne behülflich seyn, wenn du es mir Dank wissen willst. - Jesus, willst du des Vaters Rath verlassen? willst du König werden und nicht Welterlöser? Völkerbezwinger und nicht Beglücker der Menschheit? willst du das Weltliche dem Himmlischen, das Menschliche dem Göttlichen vorziehn? - Nein, du sprichst: Hebe dich weg von mir, Satan!

Das ist der Streit der Weltlust und der Gottesliebe.

Ein geborner Streit. Mit dem Leibe gehören wir der Welt an. Des Leibes Herkunft und Nahrung, seine Arbeit und Ruhe, seine Freuden und Leiden, sind weltlich. Des Leibes Sinne sind nur für die Welt offen. Was die Sinne berührt, das kennt er; was die Sinne angenehm berührt, darnach verlanget ihn; was in seinen Augen häßlich aussieht, was in seinen Ohren widerlich klingt, was übel riecht und schmeckt, und was er mit Schmerz fühlet, das verabscheut er. Und das ist auch seine Welt, darin ist er heimisch, dahinein gehöret er selber. Mit dem Geiste aber gehören wir anders wohin. Sein Daseyn im Neugebornen läßt der Geist vermuthen und kündigt sich nicht an. Doch bald regen sich Gefühle für etwas mehr als was die Mutterbrust dem Kinde geben kann; bald äußert sich ein Verlangen nach etwas anderm als nach Spielwerk; nach Besitz von Dingen, die nicht da sind, nach Kenntnis von Dingen, die nicht gesehen werden. Und ist der Geist einige Jahre hingehalten, endlich reißt er sich los von der Welt, die für ihn nichts hat, die seinen Hunger nicht stillen, die seinen Durst nicht löschen kann, - sucht, sinnet, sammlet Anderes und findet Beßres, Höheres, hierin und darin findet er Göttliches, und endlich gottgeleitet findet er Gott, den Quell und das Meer der Geister. Er betet an - und liebet ihn.

Da erwächst der Streit des äußerlichen und inwendigen Menschen, oder, der Weltlust und Gottesliebe. Essen und Trinken oder Wahrheit und Tugend? Freunde oder Friede? Lohn oder Dank? Geld oder Gott? Ehre oder Rechtschaffenheit? ein Stern, ein Band oder ein gutes Gewissen? Ruhm bei Menschen oder Gottwohlgefälligkeit? Jenes ist das Weltliche und stehet oft, ja öfter als man es meinet, in Streit mit diesem, welches das Göttliche ist. Der Mensch ist geboren, daß er die Widersprüche löse und aufhebe: begütert seyn im Mangel, fröhlich in der Traurigkeit, unbelohnt und doch belohnt, reich ohne Geld, geehrt in der Unehre, sich ausgezeichnet fühlen, wenn er verkannt wird, und wenn er verachtet wird von den Menschen sich doch nicht grämen.

Aber diese Widersprüche zu lösen und aufzuheben, dazu gehört die ganze Lebenszeit. Der Streit der Weltlust und der Gottesliebe ist ein lebenswieriger. Die Begierden können unterdrückt, doch nicht erstickt werden, die Lüste können gezügelt, doch nicht zahm gemacht werden. Wir haben Stunden, in welchen das Irdische entfleucht vor dem Himmlischen, in welchen das Zeitliche untergeht in dem Ewigen, in welchen die Welt uns nichts, Gott uns Alles ist. Selige - eilige Stunden, denn oft ehe wir uns deß versehen, ist Gott aus dem Herzen verschwunden, ist uns der Himmel verdunkelt, und wir finden uns wieder in den Schranken der Zeit, angekettet an die Welt, von ihrem Glanz geblendet, von der Lust zu ihren Gütern gejagt. Die Weltlust hat die Gottesliebe überwältigt.

Daß dieses nicht geschehe, laßt uns sorgen! Brüder, Kampfgenossen, seyd gerüstet zum Streit, die Gottesliebe vor der Weltlust zu retten! lernet den Feind kennen: es ist ein Vergnügen, ein Vorteil, eine Ehre, flüchtig, nichtig, eitel! Wofür streitet ihr? um Gott, ob ihr ihn behalten oder verlieren sollt; um euren Glauben, um eure Gewissensruhe, um eine frohe Sterbestunde, um die ewige Freude. Ihr habt Beystand: Gott will euer Beystand seyn – ruft ihn nur an. Jesus will euch nahe stehn - faßt ihn gläubig ins Auge! Mit ihm könnet ihr die Welt überwinden. „Und wenn sie auch voll Teufel wär Und wollt'n euch gar verschlingen, So bebt und zittert nicht so sehr, Es wird euch doch gelingen.“ Der Sieg ist euer, die Weltlust weichet. Da sendet Gott auch zu euch seyne Engel, da sie euch erquicken nach dem heißen Kampfe - den süßen Beyfall eures Gewissens, einen freundlichen Strahl vom Himmel in euer Herz, einen Seelenfreund, der euch Glück wünscht, euch erheitert und erfrischt durch seine innige Teilnahme. O Christen, fühlet eure Kraft als Christen, als Freunde Jesu! Erkennet das Glück, mittels seiner Gott anzugehören. Achtets alles für Schaden und für Verlust, was euch nicht enger mit Jesu verbindet, was euch nicht näher zu Gott bringt! Denke jeder:

O wie thöricht, wenn ich mich
Noch verführen ließe,
Jesu, da ich schon durch dich
Gottes Huld genieße!
Da ich weiß, auf wessen Wort
Ich die Hoffnung gründe,
Daß ich auch unfehlbar dort
Gnad' und Leben finde.
Nicht das Leben, nicht der Tod,
Trübsal nicht noch Freuden,
Mein Erlöser und mein Gott,
Soll von dir mich scheiden.
Welt und Sünd' und Eitelkeit
Und des Eitlen Liebe,
Alles überwind' ich weit,
Herr, durch deine Liebe.

Singet dieß einmüthig zur gemeinschaftlichen Erweckung, jeder als sein ernstes Gelübde, nach dem 6ten und 7ten Vers im Gesange 860.

Der Herr segne Euch und behüte Euch dabey!
Der Herr erleuchte sein Angesicht über Euch und sey Euch gnädig dazu!
Der Herr erhebe sein Angesicht auf Euch und gebe Euch Frieden dafür! Amen.

Quelle: Harms, Claus - Winter- und Sommer-Postille

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/h/harms_c/harms_c_invocavit.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain