Härter, Franz-Heinrich - Die Sammlung des Volkes Gottes

Härter, Franz-Heinrich - Die Sammlung des Volkes Gottes

Eine Pfingstpredigt
über Apostelgeschichte 2, 1-15;
F. Härter,
Pfarrer an der Neuen Kirche, Augsb. Konfession.
Straßburg,
1847.

Apostelgeschichte 2, 1-15.
1. Und als der Tag der Pfingsten erfüllt war, waren sie Alle einmütig bei einander.
2. Und es geschah schnell ein Brausen vom Himmel, als eines gewaltigen Windes, und erfüllte das ganze Haus, da sie saßen.
3. Und man sah an ihnen Zungen zerteilt, als wären sie feurig. Und er setzte sich auf einen Jeglichen unter ihnen;
4. Und wurden Alle voll des heiligen Geistes, und fingen an zu predigen mit andern Zungen, nachdem der Geist ihnen gab auszusprechen.
5. Es waren aber Juden zu Jerusalem wohnend, die waren gottesfürchtige Männer, aus allerlei Volk, das unter dem Himmel ist.
6. Da nun diese Stimme geschah, kam die Menge zusammen, und wurden bestürzt; denn es hörte ein Jeglicher, dass sie mit seiner Sprache redeten.
7. Sie erstaunten aber Alle, verwunderten sich, und sprachen unter einander: Siehe, sind nicht diese Alle, die da reden, aus Galiläa?
8. Wie hören wir denn ein Jeglicher seine Sprache, darin wir geboren sind?
9. Parther, und Meder, und Elamiter, und die wir wohnen in Mesopotamien, und in Judäa, und Kappadocien, Pontus und Asien,
10. Phrygien und Pamphylien, Ägypten, und an den Enden von Libyen bei Cyrene, und Ausländer von Rom,
11. Juden und Judengenossen, Kreter und Araber: wir hören sie mit unsern Zungen die großen Taten Gottes reden.
12. Sie verwunderten sich aber Alle, und wurden irre, und sprachen Einer zu dem Andern: Was will das werden?
13. Die Andern aber hatten es ihren Spott, und sprachen: Sie sind voll süßen Weins.
14. Da trat Petrus auf mit den Elfen, erhob seine Stimme, und redete zu ihnen: Ihr Juden, liebe Männer, und alle, die ihr zu Jerusalem wohnt, das sei euch kund getan, und lasst meine Worte zu euren Ohren eingehen.
15. Denn diese sind nicht trunken, wie ihr wähnt; sintemal es ist die dritte Stunde am Tag.

Die Sammlung des Volkes Gottes

Der Pfingsttag ist eines der bedeutungsvollsten Feste unsers Glaubens. Wer es würdig zu begehen wünscht, werde in seiner Seele still, und beuge sich anbetend gegen das Allerheiligste, aus dessen geheimnisvoller Tiefe die Kraft aus der Höhe fließt, um uns zu beleben mit göttlicher Liebe!

Pfingsten heißt einfach: der fünfzigste Tag. Die Zahl fünfzig hatte unter Israel eine wichtige Bedeutung. Das Volk zählte seine Zeit nach Jahrwochen1)! Wann sieben solcher Wochen verflossen waren, wurde das fünfzigste Jahr besonders festlich mit Posaunenton angekündigt, als das große Hall- oder Erlass-Jahr, da Jedermann wieder zu dem Seinen kommen sollte. Ein Jeglicher erhielt alsdann sein Erbe wieder, und wer Schulden hatte, dem wurden sie erlassen, dass Alles, was die Glieder des Volkes unter sich trennte, ausgeglichen, und Israel als ein Brudervolk sich seiner Einheit freudig bewusst würde, vor dem Angesichte des Herrn, seines Bundesgottes2).

Was im Alten Bund nur Vorbild war, ist im Neuen Bunde Leben und Wesen geworden; dies trat am ersten Pfingstfest der Kirche Christi auf eine merkwürdige Weise in dem Pfingstwunder geschichtlich hervor, durch die Sprachengabe und die Stiftung der ersten Gemeinde. Die wunderbare Sprachengabe, welche mit der Ausgießung des heiligen Geistes verbunden war, ist nichts Anderes gewesen, als der Gegensatz von dem, was sich in uralter Zeit ereignete, da die Menschen in ihrem Stolze ein Weltreich stiften wollten, und der Herr dann durch ein Strafwunder ihre Sprache verwirrte, die bis dahin in aller Welt gesprochen worden3)! Durch die Sprachverwirrung zu Babel wurden die Menschen in verschiedene Zungen und Völker zerteilt, und die Einheit der Sprache, welche bis dahin das Band ihrer Einigung gewesen war, ging verloren.

Wenn man in der Apostelgeschichte die Erzählung der Pfingstbegebenheit mit Nachdenken liest, sieht man bald ein, dass die Zungen, worin die mit dem heiligen Geist und mit Feuer Getauften die großen Taten Gottes verkündigten, keine gewöhnliche Sprachen waren, sondern es muss eine Wundersprache gewesen sein, die denen, welche dafür Empfänglichkeit hatten sie zu verstehen, wie ihre Muttersprache klang, sie mochten aus noch so verschiedenen Gegenden der Erde stammen; da hingegen die Unempfänglichen, die Spötter, Nichts vernehmen konnten, weswegen diese auch die Lästerung ausstießen: „Sie sind voll süßen Weines!“

Ohne uns darüber in weitläufige Erklärungen einzulassen, können wir daraus den Schluss ziehen, dass der heilige Geist allen denen, die gottesfürchtig waren, durch das Pfingstwunder begreiflich machte, dass sie zusammen gehörten, und berufen seien, Ein Volk zu bilden; daher sich auch an demselben Tag bei drei Tausend taufen ließen4), welche sogleich treu und fest zusammenhielten, und in der Kraft der ersten Liebe, wie Ein Herz und Eine Seele waren5). Nun hörte zwar, am Ende des ersten Jahrhunderts schon, die wunderbare Sprachengabe wieder auf, wie geweissagt worden6). Nachdem nämlich das Neue Testament vollendet war, und die Kirche Christi um das geschriebene Wort sich scharen konnte, bedurfte man des Wunderzeichens nicht mehr, um die Christen zu belehren, dass sie, die weiland nicht Ein Volk waren, nun Gottes Volk seien7)! Hier, im Gnadenstand, sollen die Glieder des Reiches Gottes nicht durch äußerliche Zeichen zusammengehalten werden, sondern durch den Glauben an Jesum Christum und sein Evangelium; darum wird dieses ewige Evangelium denen, die auf Erden sitzen und wohnen, und allen Heiden, und Geschlechtern, und Sprachen, und Völkern verkündigt8), durch die einfache Weissagung oder Predigt des Wortes Gottes, woraus der Glaube kommt9). Und so sammelt der heilige Geist, vom Morgen und Abend, von Mitternacht und Mittag, Alle, die dem Worte glauben, zu einer großen Herde, um den Einen guten Hirten, der für die Schafe sein Leben ließ, und die Geschichte des ersten Pfingstfestes geht fort, bis an das Ende der Gnadenzeit. Möge Er auch uns mächtig treiben, an unsern Hirten uns anzuschließen, da wir nun nachdenken wollen über:

Die Sammlung des Volkes Gottes durch den heiligen Geist.

Der heilige Geist hat dabei stets eine zweifache Wirksamkeit:

  1. Er beruft aus der Zerstreuung der Welt die Glieder des Volkes Gottes.
  2. Er erzieht die Berufenen zur Einheit in Christo.

1. Die Berufung des Volkes Gottes

ist das erste große Gnadenwerk des heiligen Geistes; denn zu dem Reich Gottes zu gehören ist eine besondere Gnade; darum heißt es auch: „Gott hat uns berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Vorsatz und Gnade, die uns gegeben ist in Christo Jesu vor der Zeit der Welt10)“. Der Vorsatz Gottes ist sein ewiger Ratschluss, Alle diejenigen zu Gliedern seines Volkes aufzunehmen, die an Jesum Christum, seinen Sohn, von Herzen glauben. Denn der Vater hat den Sohn lieb, und hat ihm Alles in seine Hand gegeben11). Der heilige Geist aber geht stets darauf aus, Seelen in das Gnadenreich zu retten, und dadurch den Sohn zu verklären12).

Ergreifend ist es, von dem Standpunkt der rettenden Gnade aus den Zustand der verlorenen Menschheit zu betrachten. Zerstreut wie hirtenlose Schafe treiben sich die Seelen umher; gelöst ist das heilige Band, das sie mit Gott und in Gott vereinigen sollte; dagegen sind sie alle gebunden durch eine feindliche Gewalt, die sie an die Erde fesselt, und unter dem Gesetz des Todes gefangen hält. Sie sorgen, und jagen, und müden sich ab; sie lieben und hassen sich wechselweise; halten äußerlich zusammen und sind doch innerlich getrennt, und die Sünde die in ihnen ist, lässt ihnen keinen Frieden, sondern ein verborgenes Weh, dem der natürliche Mensch keinen Namen zu geben weiß, drängt sich aus der Tiefe der Seele hervor, in den Stunden, wo die äußere Betäubung ein wenig unterbrochen wird.

Das Wort Gottes erklärt uns diesen Zustand durch einen merkwürdigen Ausspruch; es sagt: „Das ängstliche Harren der Kreatur, wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes13)!“ Das ists! - Auch bewusstlos fühlt der natürliche Mensch, dass er noch einen Funken des göttlichen Lebens in sich trägt; aber durch die Verwüstung und den Betrug der Sünde ist dieser Funke so verdeckt und vergraben, dass es oft gar schwer hält, bis der Lebensodem des Geistes der Wahrheit dahin durch dringen und ihn soweit anfachen kann, dass der Mensch in seinem Gewissen von der Sünde und der Notwendigkeit einer Erlösung deutlich überzeugt wird. Darum sehen wir auch, dass da, wo das Wort vom Kreuz gepredigt wird, anfangs meist bloß einzelne besonders empfängliche Seelen aufwachen, und als Erstlinge den heiligen Ruf annehmen, während Viele nur lange nachher sich aufschließen für die Gnadenbotschaft.

Wie Viele ihn nun aufnehmen, und an den Namen glauben, in welchem allein Heil für Alle ist, denen gibt Er, der alle Gewalt hat im Himmel und auf Erden, Macht Gottes Kinder zu werden14). Kein Mensch ist zum Voraus von der Kindschaft ausgeschlossen; denn Christus ist die Versöhnung für die Sünden der ganzen Welt15); aber wer nicht glauben will, schließt sich selber davon aus, weil er verachtet das Zeugnis des heiligen Geistes, und seine dringende Bitte: „Lasst euch versöhnen mit Gott16)!“ Da liegt ein tiefes Geheimnis für unsern kurzsichtigen Geist; warum nehmen Manche die freundliche Einladung nicht an? - Wir haben darauf nur eine Antwort: Der Mensch kann der Gnade Gottes widerstehen, und hartnäckig fortfahren dem rechtmäßigen Herrn den Gehorsam zu verweigern; und Gott zwingt nicht, denn die Gnade ist kein Zwang, sondern freie Liebe, die ausgeht für das Reich Gottes zu werben, in welches nur Freiwillige aufgenommen werden17).

Demnach wäre für Viele das Versöhnungsblut am Kreuze vergebens geflossen, und das größte Werk der Liebe Gottes wäre zum Teil wirkungslos und eitel? - O nein! Christus hat das ewig gültige Opfer auf Golgatha für Alle dargebracht, damit Allen die Möglichkeit der Rettung erworben würde, und Keiner einst im Gericht sich beklagen könne, er sei ausgeschlossen gewesen vom Gnadenrat der göttlichen Barmherzigkeit. Allein diese Möglichkeit ist nicht Gesetz, sondern Evangelium, das heißt gute Botschaft, die den Verlorenen, während der Gnadenzeit, gepredigt wird. Diese Predigt begann zu Jerusalem, und ging von da aus in alle Weltgegenden; denn nicht für das jüdische Volk allein sollte Jesus sterben, sondern, dass er die Kinder Gottes, die zerstreut waren, zusammenbrächte18).

Die Zerstreuung der Menschen war eine Wirkung der Sünde, ein Strafgericht über ihren Hochmut; ihre Wiedervereinigung zu Einer Gottesfamilie, zu Einem Volk von Gotteskindern, ist eine Wirkung der Gnade, die ihre erlösende Kraft an den Demütigen offenbart. Der erste Schritt zur Erlösung ist der Glaube an den Allerdemütigsten, nämlich an den tieferniedrigten Gottes-Sohn, an den gekreuzigten Heiland der Welt. Wer sich nun nicht demütigen will, der glaubt nicht, und kann also trotzig in diesem Unglauben bis an das Ende der Gnadenzeit beharren, bis er Den im Richterernst kommen sieht, welchen er verachtet hat zur Zeit, da ihm der Tag des Heils verkündet, und die Rettung seiner Seele ohne Verdienst und umsonst angeboten ward.

Es kommt vor allen Dingen darauf an, dass der Mensch demütig genug werde seinen verlorenen Zustand zu erkennen, und seine Sündenschuld einzugestehen; dies ist es, was der heilige Geist bei jedem Einzelnen zuerst bewirken muss19). Dadurch erwacht alsdann das Verlangen nach Erlösung, und der Mensch erkennt den hohen Wert der Berufung, die an ihn ergangen; wer aber in stolzer Selbstgefälligkeit sich in seinem Wissen und Streben betört, achtet der Berufung nicht. Hierin liegt der Grund, warum nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Gewaltige, nicht viele Edle berufen sind, sondern das Verachtete hat Gott erwählt, und das da Nichts ist, dass er zunichte mache was Etwas ist20). Nachdrücklich zeigt uns dies der Herr selbst in dem Gleichnis vom großen Abendmahl21); die Erstgeladenen werden darum ausgeschlossen, weil sie mit ihren irdischen Gütern, Sorgen und Freuden beschäftigt, es nicht achteten, da ihnen gesagt wurde: „Kommt, denn es ist Alles bereit!“ Der Knecht aber ging sodann aus auf die Gassen der Stadt, und führte die Armen, und Krüppel, und Lahmen, und Blinden herein; und weil noch Raum da war, rief er endlich auch die Fremdlinge von den Landstraßen und Zäunen, und füllte das Haus. So ruft der heilige Geist Unzählige zusammen, aus allen Heiden, und Völkern und Sprachen22), Teil zu nehmen an den himmlischen Gütern des Reiches Gottes, und ein Volk zu bilden, das ihm priesterlich diene, und geistliche Opfer bringe23).

Nun ist aber zu bemerken, dass aus den Berufenen selbst noch eine Auswahl geschieht, weil die Berufung zum Glied des Volkes Gottes Manches nach sich zieht, was erst offenbar machen muss, ob die Demut gründlich und der Glaube standhaft genug sei, damit die Gnade Gottes das angefangene Werk auch in dem Menschen vollführen könnte24). Dabei gestaltet sich nun das Meiste ganz anders, als es anfangs geschienen; Viele die in der Berufung die Ersten waren, werden die Letzten, und die Letzten werden die Ersten25), während das Volk Gottes gereinigt wird26); denn der Geist Gottes hat nach der Berufung noch ein anderes großes Gnadenwerk in jedem Einzelnen auszuführen, nämlich:

2. Er erzieht die Berufenen zur Einheit in Christo.

Diese Einheit der Gläubigen ist der Haupt-Gegenstand der hohepriesterlichen Fürbitte, welche Jesus für seine streitende Kirche aussprach, als er hinging sich für die Seinen zum Opfer zu weihen. „Ich bitte,“ rief er, „nicht allein für sie, sondern auch für die, so durch ihr Wort an mich glauben werden, auf dass sie Alle Eins seien, gleich wie Du, Vater, in mir, und ich in Dir; dass auch sie in uns Eins seien!27)“ Die Kraft solcher Fürbitte offenbart sich an den Gläubigen durch eine besondere Einwirkung des heiligen Geistes, welcher die Kinder Gottes, Jedes für sich, in seine Gnadenzucht nimmt, und das ist ein vorzügliches Wunder in der Erlösungsanstalt auf Erden, welches uns mit dankendem Staunen erfüllt, wenn wir einmal einen offenen Sinn dafür haben.

Die betrübendste Erscheinung für alle Anfänger im Christentum, ist der Mangel an Einheit unter den Berufenen; schon Viele sind daran ganz irre geworden, weil sie sich nicht zu erklären wussten, wie es zugeht, dass unter denen, die Christo angehören wollen, so wenig Übereinstimmung herrscht. Die ängstlichen Gedanken derer, die meinen, die Kirche Christi könne auf Erden nicht bestehen, weil in ihr so viel Zwiespalt sich kund tut, vermögen wir auf die genügendste Weise mit einem einzigen Wort zu lösen: Die Begnadigten sind noch keine Erzogenen! Der Gnadenstand ist eben ein Erziehungsstand, und der Geist Gottes ist der Erzieher der Gläubigen. Wir wollen gar nicht davon sprechen, dass es in der sichtbaren Kirche Christi zu aller Zeit Heuchler und Maulchristen gab, die sich nur zum Schein an die Gemeinschaft anschlossen, und als falsche Brüder sich einschlichen, um Verwirrung zu stiften28); sondern selbst redliche Seelen, die sich an rechtschaffene Lehrer hielten, wurden von jeher verleitet, Parteiungen und Spaltungen aufzubringen, wie wir dies in der Gemeinde zu Korinth sehen, die der heilige Geist bestrafen musste, weil sich die Einen Paulisch, die Andern Apollisch, die Dritten Kephisch und noch Andere Christisch nannten29).

So geht es meistens den jungen Kindern in Christo; sie sind noch unerfahren, haben viel Fleischliches an sich, hängen sich an das Werkzeug ihrer Erweckung, lassen sich wägen und wiegen von allerlei Winde der Lehre30), können vor Nebendingen die Hauptsachen nicht erkennen, halten sich mehr an die Form als an das Wesen des Christentums, haben oft gar Großes im Sinn und sind dabei meistens doch leidensscheu und kreuzflüchtig, weil sie in der Anfechtung noch nicht bewährt worden. Wie viel hat da ihr Erzieher zu tun, bis er sie gereinigt hat von dem ungöttlichen Wesen, das sie noch aus der Welt an sich tragen, und ihnen den bösen Eigenwillen abgewöhnt, und den guten, den wohlgefälligen und den vollkommenen Gotteswillen eingeprägt hat31)!

Schwierig und wunderbar ist die Art, wie der heilige Geist sein Erziehungsgeschäft in den Gnadenzöglingen treibt; er findet leider nicht viele Seelen, die demütig und kindlich genug sind, um auf dem einfachen Weg der inneren Führung erzogen zu werden; bei den Meisten muss er auch äußerliche Mittel anwenden, und Gnadengericht herbeiführen, die den Gläubigen ihre Missgriffe und Fehltritte fühlbar machen; das sind die Gerichte an dem Hause Gottes, wovon geschrieben steht32), und welche oft über ganze Gemeinden und Abteilungen der Kirche ergehen, aber auch bei den einzelnen Gliedern derselben nicht ausbleiben.

Wenn irgendwo eine Zeitlang das Evangelium rein und lauter gepredigt worden, dass eine Ernte zu hoffen steht, wird dem Satan erlaubt sie zu sichten; und nun stürmt er darauf los mit Versuchungen aller Art; Irrlehrer treten auf, die verwirrend auf die Seelen einwirken; es entstehen Parteiungen; die Gläubigen selbst entzweien sich, und die feindlichen Mächte schreiten verwüstend einher. So ging es bei den Korinthern, an welche der Apostel schreibt: „Es müssen Rotten unter euch sein, auf dass die, so rechtschaffen sind, offenbar unter euch werden33)!“. So geht es noch an manchen Orten, wo durch die Entzweiung im Äußern erst die Christen einsehen lernen, dass ihnen die innere Einheit in Christo fehlt, und die redlichen Seelen angetrieben werden, ernstlicher das Eine was Not ist zu suchen, und dringender zu flehen um das kommen des Reiches Gottes.

Das Schwere, was beständig die Kirche Christi auf Erden zu erdulden hat, kann den einzelnen Berufenen zum heilsamen Erziehungsmittel dienen, allein es ist noch bei weitem nicht hinreichend um sie zu Auserwählten zu machen; darum sendet der Herr einem Jeden seine besonderen Züchtigungen, die seinen Bedürfnissen mit großer Weisheit angemessen sind. Dem Einen entreißt er mit scheinbarer Unbarmherzigkeit ein zeitliches Gut, woran das Herz noch mit abgöttischer Liebe hing, zeigt ihm aber, mitten in seinem Seelenjammer, ein besseres ewiges Gut, dass er ihm geben möchte; einem Andern zerstört er mit unerwartetem Schicksalsschlag die eitlen irdischen Hoffnungen, und weckt dadurch in dem gedemütigten Herzen das Verlangen nach himmlischem Trost; so zerschlägt er und heilt wieder, führt in die Hölle und wieder heraus34); nimmt eine Unart und Untugend nach der andern vor, lässt keine ungestraft, und offenbart einem jeden Gnadenkind mit Vatertreue und heiligem Ernst, was ihm noch fehlt, um in jene Einigung mit Christo einzutreten, wo der Gehorsam des Glaubens und der Liebe zur völligen Reife gelangt.

Wer sich nun vom Geist Gottes strafen lässt, wird klug; wer ungestraft sein will, bleibt ein Narr, wie die Schrift sagt35). Von diesen letzteren gibt es freilich eine große Zahl, welche dem heiligen Geist aus der Schule laufen, und dann in Gefahr kommen, entweder als Abgefallene in den andern Tod zu sinken, oder erst durch viel schwerere Gerichte wiederzukehren, nachdem sie einen bedeutenden Teil ihrer Gnadenzeit verloren haben. - Die rechte Klugheit hält aus in der Gnadenzucht, und das verständige Gotteskind wächst dadurch stufenweise zu dem Maß des vollkommenen Alters Christi36), das heißt: zu jener inneren Glaubens-Klarheit, wodurch die Seele fähig wird einzusehen, wie in Christo Jesu die Einigung aller wahrhaft Gläubigen schon vorhanden ist, und zu jener inneren Liebes-Kraft, die sich in dieser Einheit in Christo feststellt, und mit Bewusstsein behaupten lernt.

Die Einheit, von der wir reden, ist nämlich nicht Etwas, das erst durch Übereinkunft der Christen braucht gestiftet zu werden, sondern sie besteht von Anfang her in der Kirche Christi unter allen denen, die Christo angehören. Von ihr zeugt der heilige Geist in den Worten: „Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal Einer in Christo Jesu!37)“ Diese Worte zeigen deutlich, dass man die Einheit auf Erden nicht im Äußern suchen dürfe, wie es die Welt zu tun pflegt, sondern es ist die geistliche Einigung des Lebens, das in Einem, nämlich in Christo Jesu seinen Grund hat. Die Einigungsregel heißt: „Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht.38)

So wie die Reben an Einem Weinstock, und die Glieder an Einem Leib, bei aller äußern Verschiedenheit, in dem Grunde ihres gemeinschaftlichen Lebens innig verbunden sind, so ist es auch mit der wahren Lebensgemeinschaft in Christo. Alle Christen, die den Ruf angenommen, sind in Jesum Christum eingepflanzt als neue Kreaturen39); aber es währt oft geraume Zeit, bis der eingepflanzte wiedergeborene Mensch mit dem neuen Lebensgrund fest zusammenwächst; und so lange das verborgene Lebensband nicht innig und tief genug durch die Liebe eingewurzelt und gegründet ist40), kann der Berufene noch nicht begreifen, dass die Einheit in Christo, für alle seine wahren Jünger, bereits vorhanden ist in voller Kraft des göttlichen Lebens.

Ja, der Herr hat schon sein Volk auf Erden, seinen geistlichen Tempel aus lebendigen Steinen erbaut41), seine Kirche, die einig und heilig ist42); das ist aber nicht eine Einzelne von jenen Abteilungen der geschichtlichen Christenheit, die nach gewissen mehr oder weniger zweckmäßigen Ordnungen und Verfassungen sich äußerlich zusammengesellt haben. Wir wollen denjenigen dieser Gemeinschaften, welche sich treu an das geschriebene Wort Gottes halten, und die Sakramente verwalten, wie sie der Herr eingesetzt hat, ihre Wichtigkeit und Nützlichkeit gar nicht streitig machen; nur soll sich keine ausschließlich für die allein wahre, für die allgemeine Kirche ausgeben, denn diese ist in der Gnadenzeit kein Gegenstand des Schauens, sondern des Glaubens; es ist jene Einheit in Christo, zu welcher der heilige Geist die Berufenen erzieht, indem er in der Prüfungsglut ihren Glauben reinigt, und Alle, welche die Probe bestehen, zu Auserwählten bildet.

Nicht vergebens hat also unser ewiger Hoherpriester gebetet, dass Alle, die ihm der Vater gegeben hat, Eins sein sollen. Sie sind Eins vom Anfang der Welterlösung her; und sobald ein Sünder Buße tut, und an den Namen glaubt, in dem allein Heil für Alle ist, wird er auch aus Gnaden berufen, sich dieser Einheit beizugesellen, und sich erziehen zu lassen zum Glied des Volkes Gottes, welches der Vater seinem Sohne sammelt durch den heiligen Geist.

Die Sammlung des Volkes Gottes ist ein fortgesetztes Gnadenwunder, das im Verborgenen geschieht, während der lange Erlösungskampf auf Erden durchgekämpft wird, in welchem die Gläubigen die Kraft des neuen Lebens, das in ihnen ist, bewähren müssen; darum heißen sie auch der Israel Gottes43), oder die streitende Kirche.

Wenn aber die Vollzahl, die nur der Allwissende kennt, gesammelt ist, und Alle, die dem Gnadenzug folgen wollten, mit Christo im inneren Leben vereinigt sind, dann enden sich auch die Kämpfe; denn Jesus Christus führt das letzte Gericht zum Sieg aus, und das Volk Gottes feiert seinen Sabbat im Reich der Herrlichkeit44), dort wo Eine Herde und Ein Hirte45) vereinigt sind in ewiger Liebe.

Geist vom Vater und vom Sohn, Kraft aus der Höhe, komm und verkläre unter uns und in uns Den, der uns mit seinem Blut zum Eigentum erkauft hat! Wecke in uns Allen das Verlangen, Ihm auf Leben und Sterben anzugehören! Heilige uns durch und durch, dass unser Geist ganz, samt Seele und Leib, rein und unsträflich behalten werden auf die Zukunft unsers Herrn Jesu Christi46), und wir als würdige Mitglieder seiner Kirche, die da ist eine Gemeine der Heiligen, arbeitend und kämpfend uns bereiten zum Abendmahl des Lammes47), das die Treubewährten erwartet am großen Ruhetag!

Amen.

1)
Dan. 9,24-27
2)
3. Mos. 25,8-13
3)
1. Mos. 11,1-9
4)
Apg. 2,41-47
5)
Apg. 4,32
6)
1. Kor. 13,8
7)
1. Pet. 2,10
8)
Off. 14,6
9)
Röm. 10,17, wozu man auch 1. Kor. 14,1-19 vergleichen mag
10)
2. Tim. 1,9
11)
Joh. 3,35
12)
Joh. 16,14
13)
Röm. 8,19
14)
Joh. 1,12
15)
1. Joh. 2,2
16)
2. Kor. 5,20
17)
Mat. 23,37
18)
Joh. 11,52
19)
Joh. 18,8-9
20)
1. Kor. 1,28-29
21)
Luk. 14,18-24
22)
Off. 7,9
23) , 41)
1. Pet. 2,5
24)
Phil. 1,6
25)
Mat. 19,30
26)
Tit. 2,14
27)
Joh. 17,20.21
28)
z. B. Gal. 2,4 u. Apg. 20,29.30
29)
1. Kor. 1,10-13
30)
Eph. 4,14
31)
Röm. 12,2
32)
1. Pet. 4,17
33)
1. Kor. 11,19
34)
5. Mos. 32,39; 1. Sam. 2,6
35)
Spr. 12,1
36)
Eph. 4,13
37)
Gal. 3,28
38)
1. Joh. 5,12
39)
2. Kor. 5,17
40)
Eph. 3,17
42)
Eph. 2,19-22
43)
Gal. 6,16
44)
Heb. 4,9-10
45)
Joh. 10,16
46)
1. Thess. 5,23
47)
Off. 19,9
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