Goßner, Johannes - Evangelische Hauskanzel - Am Sonntag Septuagesimae

Goßner, Johannes - Evangelische Hauskanzel - Am Sonntag Septuagesimae

Evang. Matth. 20, 1 - 16.

Von den Arbeitern im Weinberge.

Das Himmelreich auf Erden ist ein Weinberg oder ein Arbeitsfeld, das Himmelreich im Himmel ist der Lohn, der Gnadenlohn der Arbeit im Himmelreiche auf Erden. Denn die Arbeit ist schon Gnade, wie vielmehr das Himmelreich im Himmel.

Der Hausvater ist Gott der Herr, und Sein Weinberg ist die Kirche, die das Himmelreich auf Erden ist. Der Herr hat diesen Weinberg, Sein Reich auf Erden nicht gestiftet, weil Er es bedarf oder davon leben will, wie ein Mensch, der Weinberge und Felder hat, um davon zu leben; Er bedarf keines Dinges weder im Himmel noch auf Erden. Er hat diesen Weinberg bloß angelegt, um der müßigen Arbeiter willen, daß sie Arbeit und Unterhalt, Nahrung und Kleidung finden und nicht verhungern und umkommen müssen. Darum geht der Hausherr zu verschiedenen Zeiten des Tages aus und miethet sich Arbeiter, um ihnen Brod zu verschaffen und Lohn geben zu können. Er will die Armen glücklich machen. So hat Gott, Christus die Kirche auf Erden nicht um Seinetwillen, sondern um der armen Sünder willen gestiftet, und Seinen Sohn gesandt, daß sie durch Ihn in Seinem Reiche selig werden.

Er ging früh Morgens aus, Arbeiter zu miethen in Seinen Weinberg. Einige Menschen werden am frühen Morgen ihres Lebens zu Gott bekehrt und gerufen, der Kirche einverleibt und zum Wirken angestellt, bis es Nacht wird, da Niemand wirken kann. Das ist ja große Gnade, wenn der Herr so frühe mit Seinem Gnadenrufe dir zuvorgekommen ist. Da bist du Ihm mehr schuldig, als Er dir. Dafür mußt du Ihm danken; Er ist dir aber weder Dank noch Lohn schuldig. Doch heißt es: Da Er mit den Arbeitern eins ward um einen Groschen zum Tagelohn, sandte Er sie in Seinen Weinberg. Er ist so gütig, daß Er denen, die sich miethen oder zur Arbeit in Seinem Weinberge anstellen lassen, sogar Lohn verspricht und giebt. Ein Groschen scheint zwar nicht viel zu seyn, aber das ist ein großer, schwerer Groschen, es ist das Himmelreich auf Erden und im Himmel, es ist die ewige Seligkeit, die hier, sobald man dem Werke des Herrn sich hingiebt, schon anfängt, und ewig im Himmel wahrt; ein Groschen, den uns Niemand mehr nehmen, von dem man ewig leben und zehren kann. Es ist die ganze Herrlichkeit Gottes, die Gott als Gnadenlohn Jedem giebt, der hier im Reiche Jesu Ihm dient und sein Leben Ihm weiht.

Um die dritte Stunde ging Er wieder aus, und sahe Andere am Markte müßig stehen, und sprach zu ihnen: Gehet ihr auch hin in den Weinberg, ich will euch geben was recht ist. Müßig stehen sie Alle am Markte dieser Welt, feil für Jeden, der sie miethen und werben will. Müßig sind sie Alle, die nicht für Gott, für Christus und Christi Reich arbeiten. Alles Thun und Wirken, Rennen und Laufen ist so viel als nichts gethan, purer Müßiggang, was nicht in Gott, für Gott und mit Gott gewirkt und geschafft wird. Verloren ist alle Zeit, Mühe und Arbeit, die nicht für den Herrn angewendet wird. Und wen der Herr nicht ruft und miethet, der muß ewig müßig stehen; es ist daher große Gnade, vom Herrn in Seinen Weinberg, in Sein Reich gerufen zu werden. Es ist Gnade, weil, wenn Er nicht ruft, die Welt, der Satan, das Fleisch auch kommt und wirbt und miethet; und Viele geben sich in diesen Dienst der Sünde, und arbeiten nur für die Welt, für das Fleisch und für den Satan, deren Lohn die Verdammniß und die ewige Hölle ist. O selig, wenn dich der Herr schon um die dritte Stunde, in deinen besten Jahren, in deiner Jugend gerufen, erweckt, bekehrt und erleuchtet hat, und du für Ihn gewonnen worden bist - Er wird dir geben was recht ist, du wirst nicht zu kurz kommen. Dein Lohn wird groß seyn, und deine Freude ewig. Wer aber noch müßig steht, noch nicht gerufen ist vom Herrn, der passe auf, der merke auf den ersten Ruf des Herrn, und sey bereit auf den ersten Wink aufzustehen und zu des Herrn Werk sich zu begeben. Es überhöre ja Niemand und versäume Keiner, sich rufen, wecken und anstellen zu lassen im Weinberge des Herrn. Man lasse Alles liegen, man gebe Alles hin, um nur dem Herrn, dem Gnadenrufe zu folgen. Kein Glück der Erde, kein Gewinn und Vortheil, den die Welt darbietet, keine Lust des Fleisches, keine Ehre und Ansehn bei Menschen müsse dich zurückhalten auf dem Markte der Welt, wenn der Herr ruft. Er bezahlt anders als die Welt, und wenn sie dir all ihre Schätze, Reichthümer, Ehren, Lüste und Vergnügungen verheißt, und wirklich schon angeboten und in deinen Schooß geschüttet hätte, laß sie fahren und fallen, wirf Alles weg, achte es mit Paulus für Schaden, Auskehricht und Dreck. Der Groschen, den dir der Heiland bietet, ist mehr als aller Welt Gut und Lust, ist der Himmel und das ewige Leben, es sind die unausforschlichen Reichthümer Christi - was kein Auge gesehen, kein Ohr gehöret hat und in keines Menschen Herz gekommen ist.

Abermal ging Er aus um die sechste und neunte Stunde, und that gleich also; d. h. um Mittag und um drei Uhr, in der Mitte des Mannes-Alters ruft Er Einige, und nimmt sie an, wenn sie gehen und kommen. Man muß zu jeder Zeit bereit seyn und es allemal für Gnade halten, wenn der Herr es sich gefallen läßt, uns zu brauchen, und Seine Gnade, Ihm dienen zu dürfen, uns schenken will. Er fährt immer fort, und ist nie müßig, immer geht Er uns nach - o wenn wir Ihn nur hörten und verständen! Wie oft kommt Er an's Herz und weckt uns und ruft uns, aber wir hören nicht.

Sogar um die elfte Stunde ging Er noch aus, und fand Andere müßig stehen, und sprach: Was stehet ihr hier den ganzen Tag müßig? „Sie sprachen zu Ihm: Es hat uns Niemand gedinget. Er sprach zu ihnen: Gehet ihr auch hin in den Weinberg, und was recht seyn wird, will ich euch geben. Bis an den Abend des Lebens, bis in's hohe Alter stehen die Leute müßig, bleiben ohne Arbeit, ohne den Herrn und Sein Reich, dienen der Welt und dem Satan bis in's graue Alter; den ganzen Tag ihres Lebens vergeuden sie ohne an die Ewigkeit zu denken, ohne nach Gott zu fragen ohne den Herrn zu suchen, ohne zu fragen: was muß ich thun, daß ich selig werde? was wird's hernach werden? wo werde ich in der Ewigkeit bleiben? Das sind die, welche sagen, es hat uns Niemand gedungen. Unter Christen gilt diese Entschuldigung nicht. Seyd ihr nicht auf den Herrn getauft und confirmirt? Habt ihr nicht das Gelübde abgelegt, Ihm zu leben und zu sterben? Habt ihr nicht den Leib und das Blut des Herrn empfangen? Habt ihr nie gehört, daß ihr Rechenschaft geben müßt von jedem unnützen Worte das aus eurem Munde geht? daß der gerechte Richter einem Jeden vergelten wird nach seinen Werken, wie er gehandelt hat bei Leibes Leben, es sey gut oder böse? Wißt ihr nicht, daß Christus für euch gestorben ist, daß ihr Ihm und nicht euch selber leben sollt? - Nun, sey es, daß ihr bisher dennoch müßig standet und euren Herrn nicht kanntet; jetzt aber, wenn ihr Seine Stimme höret, und Er euch ruft, verstocket eure Herzen nicht, sondern glaubt, Er nimmt euch noch an, Er will nicht, daß ihr verloren geht, Er sendet euch noch die letzte Stunde eures Lebens in Seinen Weinberg, und will euch auch jetzt noch geben, was recht ist, den ganzen Groschen, wie den ersten Arbeitern. Denn so hat Er es beschlossen in Seinem ewigen Liebesrath.

Da es nun Abend ward, sprach der Herr des Weinberges zu Seinem Schaffner: Rufe die Arbeiter, und gieb ihnen den Lohn; und hebe an bei den Letzten, bis zu den Ersten. Wenn es nun Abend wird, du treuer Arbeiter, so gilt's Belohnen. Harre geduldig, der Herr des Weinberges, der dich berufen hat, vergißt es nicht, was Er versprochen hat und was recht ist. Ist es gleich eine Gnade für dich gewesen, daß Er dich nicht hat müßig stehen lassen am Markte den ganzen Tag, sondern dir Arbeit in Seinem Weinberge verschafft hat, ist gleich das Berufen unverdiente Gnade und Ehre gewesen, so will Er, wie Er versprochen hat, es dennoch belohnen; das ist Seine Freude und Seine Ehre; das beugt dich um so mehr, und du liebst Ihn desto mehr; denn die Arbeit in Seinem Weinberge ist schon Lohns genug, und man wäre unglücklich und gestraft, wenn man Ihm nichts thun dürfte, sondern müßig stehen müßte. Nun aber lohnt Er noch besonders - welche unverdiente Ehre, welche Gnade, welche Freude! wie dankt man Ihm! wie liebt man Ihn dafür! Daß Er aber bei den Letzten anheben läßt, und diese zuerst belohnt, und dann erst die Ersten, das ist wunderlich, und wird sich erst hernach herausstellen, und von selbst klar werden, warum Er so handelt; wir wollen warten.

Da kamen, die um die elfte Stunde gedinget waren, und empfing ein Jeglicher seinen Groschen - die nicht gedingt haben, sondern im Vertrauen auf die Güte des Herrn an die Arbeit gingen. Diese glaubten gewiß, sie würden hintenan stehen müssen, und würden bekommen was übrig bleibt, indem sie am wenigsten, ja gar nichts verdient hätten, weil sie erst so spät, kurz vor dem Feierabend in die Arbeit getreten, und froh waren, daß sie doch noch gewürdiget wurden, einige Augenblicke zu arbeiten in dem Weinberge eines so reichen Herrn; denn arbeiten ist doch schöner und besser als müßig stehen. Aber dieser Herr war ein weiser Mann. Gerade bei diesen, bei solchen, die so gesinnet sind, daß sie es für Gnade halten, die jeden Augenblick, den sie noch für den Herrn was thun können und dürfen für Gnade und Ehre halten, bei Solchen fängt Er an zu lohnen, und läßt die Andern warten.

Da aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und sie empfingen auch ein Jeglicher seinen Groschen. Und da sie den empfingen, „murreten sie wider den Hausvater, und sprachen: Die Letzten haben nur Eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleich gemacht, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben. Da zeigt sich schon, warum der Herr, der tiefer blickte als auf die Oberfläche, bei den Letzten anheben ließ, und die Ersten zurücksetzte. Sie verrathen sich selbst: sie hatten eine verkehrte, viel zu gute, hohe Meinung von sich selbst und von ihrer Arbeit; erkannten das Verhältniß zwischen ihrer Arbeit und dem Lohne, dem Groschen, nicht. Sie meinten, sie würden mehr empfangen als die Letzten, und also mehr als gedingt und ausgemacht oder versprochen war, mehr als den Groschen; meinten, sie hätten es verdient, mehr verdient als die Letzten, weil sie länger gearbeitet, des Tages Last und Hitze getragen hätten. Sie hielten es also nicht für Gnade, und besondere Gnade, daß sie gewürdiget wurden zu arbeiten in des Herrn Weinberg, und so frühe, gleich vom Morgen an den ganzen Tag, oder doch längere Zeit gewürdiget wurden als die Letztern zu arbeiten und nicht müßig stehen zu müssen - das erkannten sie nicht, sie schätzten sich und ihre Arbeit zu hoch, hielten es für verdienstlich, glaubten nicht und wußten nicht, daß ihre Arbeit nicht werth sey des Lohnes, des Groschens, den der Herr versprochen hat. Diese falsche Meinung, die Ueberschätzung ihres Verdienstes und Geringschätzung des Lohnes, zugleich der Neid, daß sie den Letztern den Groschen nicht gönnten, sie und ihre Arbeit gering schätzten und sich und die ihrige höher achteten und anschlugen, sich des Lohnes würdiger schätzten, das war es, was sie in den Augen des weisen und guten Herrn herabsetzte und unwürdiger machte. Die Demuth der Letztern, die Geringschätzung ihrer Arbeit und ihrer selbst gefiel Ihm besser, darum ließ Er bei ihnen anheben und zog sie den murrenden Selbstgerechten vor. Wir sehen da recht klar, wie man sich und seine Arbeit in dem Herrn, sie sey lang oder kurz, anzusehen, was man von sich und seinem Thun zu halten hat, wenn es in den Augen des Herrn etwas gelten soll. Was denn? was sollst du von dir und deinem Thun halten? Nichts. Dann gilt es etwas in den Augen des Herrn. Hältst du aber von dir und deinem Thun und Wirken viel, machst du etwas aus dir selbst und deinem Thun, so giltst du nichts und wirst zu Schanden vor dem Herrn. Wer etwas zu verdienen glaubt, der verdient eben darum nichts; wer aber erkennt, daß er nichts verdient, und Gott dankt und es für Gnade halt, daß er etwas thun darf und kann, der wird belohnt, gewürdiget und vorgezogen. Die Demuth erhält den Preis, den Gnaden-Lohn und wird gekrönt. Er antwortete aber, und sagte zu Einem unter ihnen: Mein Freund, ich thue dir nicht unrecht. Bist du nicht mit mir eins geworden um einen Groschen? Nimm, was dein ist, und gehe hin. Ich will aber diesem Letzten geben, gleich wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu thun, was ich will, mit dem Meinen? Stehest du darum scheel, daß ich so gütig bin? Das stolze Murren des Neides wird hiermit widerlegt und zurechtgewiesen. Denn was war es anders als der Hochmuth, der sich und sein Thun höher achtete als den Gnadenlohn; der Groschen dünkte sie zu gering für sie, weil ihn die Letztern auch bekommen. Das heißt doch eben so viel, als: der Himmel ist den stolzen Heiligen, den Pharisäern und Selbstgerechten zu enge und zu niedrig, weil ihn die armen Zöllner und Schächer auch bekommen, wenn sie in der letzten Stunde noch Buße thun und sich wahrhaftig bekehren. Sie verstehen das Geheimniß nicht, daß der Groschen, der Himmel, die Seligkeit immer noch Gnade bleibt, wenn wir auch tausend Jahre darum dienten, die Last und Hitze eines Jahrtausends trügen, ja eben so sehr Gnade und unverdientes Geschenk, als bei dem größten Dieb und Mörder, der erst am Galgen sich bekehrt. So groß ist der Groschen, die Gnade der Sündenvergebung, die Rechtfertigung durch Jesu Blut und Wunden, die Annahme an Kindesstatt, die Aufnahme in die himmlische Herrlichkeit, die immer alles Verdienst himmelweit übersteigt, so daß Jeder, der noch so heilig, fromm und gerecht gelebt hat, noch so viel Gutes gethan, und Trübsal und Verfolgung erduldet hat, dennoch sagen muß: ich bin ein unwürdiger Mensch, ich bin nicht werth aller Barmherzigkeit und Treue die der Herr an mir gethan hat, ich bin ein ewiger Schuldner und kann Gott durch alle Ewigkeiten nicht genug danken, daß er mich so früh gesucht und gefunden, in Seinen Weinberg berufen und so lange darin geduldet hat; es sey ferne von mir mehr Lohn als der Schächer zu fordern, vielmehr habe ich mehr zu danken und mich tiefer zu beugen, daß der Herr mich vorgezogen und begnadigt hat.

Darum sagt der Herr: Kann ich nicht thun mit dem Meinen was ich will? Der Groschen ist Sein, der Himmel, die Seligkeit, die Gnade ist Sein, und ist immer ein unverdientes Geschenk und Gnade, Er mag sie geben wem Er will, es ist Keiner derselben würdig, und Keiner kann sie verdienen; denn sonst wäre ja Gnade nicht Gnade, sondern Verdienst. Das ist es eben, die Seligkeit ist so groß, daß der Heilige wie der Sünder, der Erste wie der Letzte von den Berufenen sich schämen und beugen, und Jeder bekennen muß: Aus Gnaden sind wir selig geworden durch den Glauben, und nicht aus den Werken, umsonst, durch Christi Verdienst, daß sich Niemand rühme. Die Ruhmsucht der Ersten: wir haben des Tages Last und Hitze getragen, und haben also mehr verdient als die Letzten, die nur eine Stunde gearbeitet haben, diese Ruhmsucht und Werthschätzung des eigenen Verdienstes, ist eitel und unrecht, Anmaßung und Unwissenheit, blinder Pharisäer-Stolz, elende Selbstgerechtigkeit, die sich vorne anstellt, und im Grunde dieselbe Sprache wie die des Pharisäers: ich danke dir, daß ich nicht bin wie andere Leute, ich faste zweimal, gebe den Zehnten rc. Es ist dasselbe Selbstvertrauen, das andere/ arme Sünder verachtet und sich selbst erhebt über sie. Ein Solcher hat den Groschen nicht nur nicht verdient mit seinen Werken und Leiden, sondern hat vielmehr Schläge verdient. Und der Herr giebt lieber dem Zöllner, der an seine Brust schlägt, seine Augen nicht aufhebt, und bloß um Gnade bettelt, als dem Pharisäer, der auf sich selbst vertraut und etwas verdient zu haben glaubt.

Es ist lauter Macht und Güte Gottes, lauter Gnade und Verdienst Christi, wenn ein Mensch selig wird. Denn wenn Er Sünde zurechnen wollte, würde Keiner, der Frömmste und Beste nicht selig; es könnte Keiner vor Ihm bestehen, und auf tausend nicht eins antworten. Die Seligkeit bleibt immer Gnade, ist nicht Schuldigkeit und verdienter Lohn, und es steht immer in Seiner Macht und Gewalt wem Er sie geben will; sie ist immer Sein, nicht unser, immer freie Gnade und unverdientes Gnadengeschenk. Darum soll Keiner den Andern beneiden, Keiner scheel sehen, daß der Herr so gütig ist und auch denen dieselbe Gnade und Seligkeit schenkt, die weniger gethan und gelitten, mehr und länger der Sünde und der Welt gedient, also weniger oder gar nichts verdient zu haben scheinen. Es ist nur Schein, denn eigentlich hat Keiner den Groschen, die Gnade verdient, sondern sie wird Allen geschenkt, umsonst, nur dem Einen früher, dem Andern später; der Eine wird früher, schon in der Jugend, der Andere später im Alter, am Ende des Lebens berufen. Die Ersten haben also nicht nur nicht mehr verdient, sondern mehr zu danken, sind mehr schuldig, haben sich um so mehr zu beugen, abzubitten; denn wenn der Herr mit ihnen in's Gericht ginge, würde viel mehr Schuld als Verdienst, viel mehr Sünde als Gerechtigkeit herauskommen, weil auch die Gerechtigkeit der Gerechten, des Propheten, ein beflecktes Kleid ist.

Also werden die Letzten die Ersten, und die Ersten die Letzten seyn. So hat es Gott gefallen, damit sich kein Fleisch vor Ihm rühme und Ihm allein alle Ehre bleibe, und wer sich rühmen will, der rühme sich des Herrn. Denn Er ist Alles in Allem und außer Ihm ist Keiner etwas, sondern Alle sind nichts. Die Letzten, die spät Begnadigten, werden die Ersten, nicht weil sie die Besten sind, sondern weil sie sich unten ansetzen, sich für die Letzten, Geringsten, Unwürdigsten halten; und die Ersten werden die Letzten, weil sie sich besser dünken, für verdienstvoll und würdiger des Lohnes halten als die Andern, die spät in die Arbeit eingetreten sind; weil sie sich dünken lassen, etwas zu seyn und zu haben, da sie doch nichts sind und nichts haben, was des Gnadenlohnes und der zukünftigen Herrlichkeit würdig wäre. Wenn die Ersten um so demüthiger sind, weil sie zuerst und früh und länger begnadigt sind, so bleiben sie auch die Ersten. Und wenn die Letzten sich etwas einbilden, daß sie zuletzt, erst am Ende begnadigt wurden, und sich deßwegen für besser halten, so bleiben sie auch die Letzten. Denn wer sich selbst erhöhet, der wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöhet werden.

Viele sind berufen, aber Wenige sind auserwählt. Ein wahres aber erschreckendes Wort. Möchte es uns Alle erwecken, zu fragen, wohin wir gehören, ob in die große Zahl der Berufenen oder unter die kleine der Auserwählten? Es ist unbegreiflich, wie tief der Mensch gefallen ist, daß er auch berufen, begnadigt, und früh berufen und begnadigt, sich erheben, sich dem Stolz, dem Neid und Murren über den gnädigen, barmherzigen Gott und Heiland hingeben kann, und mit Ihm rechten will, und daß er Andern nicht gönnt in der letzten Stunde, im späten Alter, was er aus besonderer Gnade schon in den ersten Stunden, in der frühen Jugend genossen hat. So kann man seinen Gnadenberuf vereiteln. Vielmehr sollten wir suchen unfern Beruf und unsere Erwählung fest zu machen, und uns allemal freuen, wenn Andern auch Gnade widerfahrt, es sey früh oder spät. Sollte sich Magdalena, Zachäus und alle früher begnadigten Sünder nicht gefreut haben, daß auch dem Schächer noch Gnade und das Paradies geworden ist in der letzten Stunde? O ihr berufenen Seelen, schlafet nicht, erhebet euch nicht, fanget alle Tage von Neuem an, denkt, ihr habt noch nie genug gethan, geschweige etwas verdient, oder seyd der Gnade würdiger geworden als andere noch unbegnadigte Sünder. Nehmet die Gnade täglich auf den Knieen an, und wenn ihr Alles gethan habt, Jahre lang gethan habt was ihr schuldig waret, so sprechet und glaubet: Wir sind unnütze Knechte. So nur seyd ihr Auserwählte, Heilige und Geliebte Gottes. Amen.

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