Gossner, Johannes Evangelista - Briefe an eine leidende Freundin - Berlin, 5. August 30.

Gossner, Johannes Evangelista - Briefe an eine leidende Freundin - Berlin, 5. August 30.

Ich finde ja Ihren Vorhang nicht mehr, also auch Sie, liebe Freundin, nicht hinter demselben. Was ist das? Vergeben Sie, es geht mir auch mit anderen, und fast mit allen Freunden so. Das Briefschreiben will mir gar nicht mehr anstehen, und ich komme so schwer dazu, seitdem ich mit so vielen Arbeiten und Bürden in meinem neuen Amte zu kämpfen habe. Die Petersburger klagen entsetzlich, dass ich ihnen gar nicht mehr schreibe usw. Sehen Sie, es ist als wenn ich selbst hinter einem Vorhang säße, und ihn nicht mehr wegschieben könnte.

Ich war ohnlängst an der Ostsee, und badete mich dort, ob mit Gewinn für meine Gesundheit kann ich noch nicht sagen. Ich wollte dort ausruhen, aber es kam auch ans Predigen. Das läuft mir überall nach, wenn ich gleich nicht will. Es waren lauter fromme Badegäste dort und gute Landleute, die nach Gottes Wort fragen, und Niemand reicht ihnen das Brot des Lebens, sie sind wie Schafe ohne Hirten, denn diese haben den Namen, und kümmern sich gar nicht um die Seelen. So forderte mich Alles dringend auf zu predigen und ich konnte nicht widerstehen, ich predigte in meiner Stube, die voll Badegäste war, und die Landleute standen draußen vor den Fenstern scharenweise von allen umliegenden Dörfern der Insel Usedom und hörten mit vieler Rührung, Dank und Freude zu; Sie waren so begierig nach Bibeln, als wenn Hungersnot im Lande wäre, und so arm sie sind, war ihnen ein Traktätchen von zwei bis drei Seiten lieber als ein Taler, selbst für ihre Produkte, die sie uns brachten. Ach wie reif ist die Ernte und wo sind die Arbeiter!! Und werden Sie's glauben, die Sache ward beim Landrat angezeigt, und die Polizeidiener erschienen am letzten Sonntag, rekognoszierten Sonntag Morgen vor meiner Wohnung wie feindliche Vorposten, stellten sich während der Erbauung dicht ans Fenster, drückten das Fenster ein, um zu sehen, was in meiner Stube wäre und was und wie ich's da machte (und es war doch die Ministerin Bernstorff mit ihren Kindern drin und lauter honette Badegäste), und gebärdeten sich sehr unanständig und verächtlich. Da sehen Sie, wo Christus hinkommt folgt ihm der Teufel nach und sucht zu versäuern, was der HErr gut macht. Aber so muss es ja sein in dieser Welt; in der andern, die wir hoffen, wird eine Scheidung, eine Wand und Kluft sein, die sie nicht überspringen können.

Nun bin ich wieder hier an meinem Bethlehemskirchlein und mache in Gottes Namen wieder fort, so lange ich kann.

Der Gesangbuchstreit scheint auch für mich vorbei zu sein, indem ich allein in der ganzen Stadt das alte behalte, und alle andern Kirchen das neue haben. Grüßen Sie ja recht herzlich Ihre lieben Kinder und Kindeskinder, die Freunde und Freundinnen. Gnade und Friede sei mit Ihnen, und wenn es hinter dem Vorhang langweilig oder drückend werden will, so denken Sie, dass wir Alle noch hinter dem großen Vorhang sitzen und schwitzen, und wenn der einmal fällt, wie werden wir uns freuen! In der seligen Hoffnung harren Sie noch ein wenig aus, er fällt bald, und dann sehen Sie ewig keinen Vorhang mehr, sondern mit aufgedecktem Angesicht die Klarheit des HErrn. Beten Sie für

Ihren Gossner.

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