Göbel, Karl - Moses, der Prophet, ein Vorläufer

Göbel, Karl - Moses, der Prophet, ein Vorläufer

Warum gibts in der Geschichte des Reiches Gottes, wie es sich in der jüdischen und christlichen Kirche entwickelt hat, so wenig bleibende und dauernde Gestaltungen? Warum ist alles der Veränderung unterworfen? Das kommt erstens daher, weil Gott die Geschichte macht, oder, mit Daniel zu reden, Zeit und Stunde ändert, d. h. Zeiträume und Zeitabschnitte schafft. Solcher von Gott herbeigeführten Veränderungen und dadurch abgegrenzten Perioden lassen sich viele nachweisen. Zunächst im alten Bund: die Zeit der Erzväter, das Volk unter Moses und dem Gesetz, Israel im gelobten Lande unter Richtern, die Zeit der Könige, Zerteilung des Reiches, Gefangenschaft in Assur und Babel, nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft Israels kümmerliche Zeit unter der Herrschaft der Weltreiche. Sodann im neuen Bund: der Messias, die Messiasgemeinde aus Israel, die Kirche aus den Heiden, die Märtyrerzeit, das Christentum Staatskirche, Ausbildung der Herrschaft des Papsttums, Reformation, Mission rc. rc. Und wir sind noch nicht am Ende, denn das Reich Gottes soll eine Geschichte haben, wie jedes Menschenkind seine Entwicklung und jeder Baum sein Wachstum hat. Das Reich Gottes ist eine Leiter, die auf der Erde steht, damit man von Sprosse zu Sprosse daran aufsteigen kann bis in den Himmel. Gott schafft aber solche Veränderungen, um die Zustände und die Menschen zu veredeln. Wie ein edler Wein nicht immer auf seinen Hefen liegen bleiben darf, sondern von Zeit zu Zeit umgestochen werden muss in ein anderes Fass; wie ein Baum verpflanzt und gepfropft und beschnitten werden muss, und Sonnenschein und Regen haben, so muss auch das Reich Gottes mancherlei Veränderungen und Umbildungen erleiden, damit es durch Voranstalten und Hauptanstalten hindurch seiner schließlichen Vollendung entgegengeführt werden könne. Der Wechsel und Wandel in der Welt- und Kirchengeschichte hat aber nicht bloß gute und gottgewollte Ursachen, sondern auch böse, von denen man sagen muss: Das hat der Feind getan. Es ist die beständige Absicht des Teufels, das Werk Gottes zu verderben. Wie die Schlange den Eingang ins Paradies gefunden hat und in die Arche, in den Apostelkreis und in die Pfingstgemeinde; so schleicht sie sich auch in die Kirche und in alle göttlichen Stiftungen, mögen sie Namen haben, welche sie wollen, und verdirbt sie allmählich wie der Rost das Eisen und die Motten die Gewänder. Ist das Verderben durch diese satanische Einwirkung bis auf einen solchen Grad gestiegen, dass dem Werk Gottes Gefahr droht, dann muss Gott einschreiten und neue Formen schaffen für die Wirkungen seines Geistes, neue Bahnen für den Entwicklungsgang seines Reiches, neue Stätten für die Offenbarung seiner Herrlichkeit. Das Faule, Abgestorbene muss vernichtet und die Luft gereinigt werden. Vier Exempel davon, wie der Teufel das Gute, von Gott Geschaffene verdirbt, und dadurch von Gott herbeigeführte Umformungen und Neuerungen nötig macht oder beschleunigt, liefert unser heutiger Text:

“Dies ist der Moses, der zu den Kindern von Israel gesagt hat: „Einen Propheten wird euch der Herr, euer Gott, erwecken aus euern Brüdern, gleichwie mich; den sollt ihr hören,“ Dieser ists, der in der Gemeine in der Wüste mit dem Engel war, der mit ihm redete auf dem Berge Sinai, und mit unsern Vätern; dieser empfing das lebendige Wort uns zu geben, welchem nicht wollten gehorsam werden eure Väter, sondern stießen ihn von sich, und wandten sich um mit ihren Herzen gen Ägypten, und sprachen zu Aaron: „Mache uns Götter, die vor uns hingehen; denn wir wissen nicht, was diesem Moses, der uns aus dem Lande Ägypten geführt hat, widerfahren ist.“ Und machten ein Kalb zu der Zeit, und opferten dem Götzen Opfer, und freuten sich der Werke ihrer Hände. Aber Gott wandte sich, und gab sie dahin, dass sie dienten des Himmels Heer; wie denn geschrieben steht in dem Buch der Propheten: „Habt ihr vom Haus Israel die vierzig Jahr in der Wüste mir auch je Opfer und Vieh geopfert? Und ihr nähmet die Hütte Molochs an, und das Gestirn eures Gottes Remphan, die Bilder, die ihr gemacht hattet, sie anzubeten; und ich will euch wegwerfen jenseits Babylon.““
Apostelgesch. 7,37-43.

Wenn das, was wir im Eingang ausgesprochen haben, Wahrheit ist, so gibt es ein verkehrtes, sündhaftes Hängen am Alten, wenn man nämlich mit Zähigkeit an Zuständen und Gestaltungen hängt, die der Teufel verdürben und verderblich gemacht hat, die aber von Gott eben deswegen zur Abschaffung und Umschmelzung bestimmt sind. Solchen Starrsinn, der ein Versteinertsein und Verfaultsein zugleich anzeigt, hatten die Juden zu den Zeiten des Stephanus, indem sie Mosen und das Gesetz für die höchste und einzig mögliche Offenbarungsstufe Gottes hielten und den Stephanus der Lästerung beschuldigten, weil er nicht bloß an Moses glaubte, sondern auch an Christum und zwar an Christum in der Person Jesu von Nazareth. Dieser Anklage gegenüber spricht Stephanus in vorstehendem Abschnitt seiner Verteidigungsrede den Gedanken aus:

Moses, der Prophet, ist nur ein Vorläufer Jesu,

und weist solches nach

  1. in Ausrichtung seines Amtes,
  2. in der Aufnahme, die er beim Volke fand.

Es heißt im Text: „Dieser ist der Moses, der zu den Kindern von Israel gesagt hat: Einen Propheten wird euch der Herr, euer Gott, erwecken aus euren Brüdern, gleichwie mich, den sollt ihr hören“ (V. 37). Stephanus will damit sagen: Ich lästere Mosen darum noch nicht, weil ich an einen zweiten Moses glaube, nämlich an Jesum. Zu diesem Glauben bin ich vollkommen berechtigt, weil Moses selbst von einem künftigen großen Nachfolger, der ein Prophet gleich wie er sein werde, geweissagt hat. - Ein zweiter Moses musste kommen 1) weil das Werk des Ersten nur eine Vorstufe war. Das Gesetz, das durch Moses gegeben worden, konnte nicht die Erfüllung der dem Abraham gegebenen Verheißung sein, sondern es ist nur als eine Zwischenstufe neben eingekommen, um die Wahrheit, die erst durch Christum kommen konnte, anzubahnen. 2) Weil das Volk nicht einmal auf dieser Vorstufe stehen blieb, den Moses wieder von sich stieß, das Gesetz nicht hielt und in Abfall geriet. Lasst uns diese beiden Ursachen, aus denen das Kommen eines anderen Moses folgen musste, näher beleuchten.

I.

Im vorigen Abschnitt hatte Stephanus den Moses dargestellt als Obersten und Erlöser; nunmehr stellt er ihn auch hin als Prophet. Moses war ein Prophet d. h. ein Sprecher Gottes, weil der Engel des Herrn auf dem Berge Sinai mit ihm redete und er das lebendige Wort (die zehn Gebote) empfing, uns zu geben (V. 38). Aber diese Offenbarung war eine unvollkommene, weil sie nur durch der Engel Geschäfte (V. 53) geschah; weil ferner Moses das Gesetz dem Volke nicht ins Herz schreiben konnte, sondern nur auf steinerne Tafeln. Zudem beschränkte sich die Wirksamkeit des Moses nur auf „die Wüste“ die vierzig Jahre hindurch, aber er führte das Volk nicht nach Kanaan.

Weil Moses die Unzulänglichkeit seines Amtes voraussah, darum weissagt er eben, dass ein zweiter Prophet gleich wie er kommen werde, und die Ähnlichkeit des zweiten Propheten mit dem Ersten bestand darin, dass beide Bundesmittler sein sollten. Der Erste der Mittler des Gesetzesbundes, der Andere der Mittler des Gnadenbundes, der Erste der Mittler eines zeitlichen vergänglichen Bundes, der Zweite der Mittler eines ewigen unveränderlichen Bundes; der Erste, der Prophet, der das lebendige Wort bloß empfing, der Zweite, der Sohn, der liebe Sohn, der das lebendige Wort in Person war. Wäre Moses etwas anderes gewesen als ein Vorläufer, hätte er statt einer bloßen Voranstalt die schließliche Offenbarung Gottes an das Volk gebracht, so wäre das Werk Gottes, das er ausrichten sollte, nicht nur ein unvollkommenes geblieben, sondern auch völlig misslungen: denn das Volk wollte dem Worte seines Mittlers nicht gehorsam sein, wandte sein Herz nach Ägypten und brach den eben geschlossenen Bund.

II.

Der Verwerfung der Amtstätigkeit des Moses ging aber, wie es nicht anders sein konnte, die undankbarste schnödeste Aufnahme, die seine Person bei den Vätern fand, zur Seite. Die ungehorsamen Väter wollten ihn nicht hören und stießen ihn von sich. Als Heiland, der sie aus Ägypten führen sollte, hatten sie sich zwar den Moses als er zum zweitenmal kam, gefallen lassen und waren ihm gefolgt, aber zum Propheten wollten sie ihn nicht haben, sie hörten ihn nicht. Die Folge der Verwerfung des wahren Propheten und Mittlers Moses war, dass die abtrünnigen Väter dem Kälberdienst frönten unter dem falschen, selbsterwählten Mittler Aaron. Von Mose wandten sie sich zu Aaron und sprachen: „Mache uns Götter, die vor uns hingehen, denn wir wissen nicht, was diesem Mose, der uns aus dem Land Ägypten geführt hat, widerfahren ist. Und machten ein Kalb zu der Zeit und opferten diesem Götzen Opfer und freuten sich des Werks ihrer Hände“ (V. 40. 41). Dieses goldene Kalb sollte zwar nach der Meinung des schwachen Aaron kein Götzenbild, sondern nur ein Bild Jehovas sein; aber abgesehen davon, dass die Verehrung Jehovas unter irgend einem Bild eine Missetat gegen das zweite Gebot war, sah der große Haufe in dem goldenen Kalb nur den heidnischen Abgott, weshalb auch Stephanus es geradezu ein Götzenbild nennt. Die Strafe dieses Abfalles war zunächst, dass Gott sich wandte und sie dahin gab, dass sie dienten des Himmels Heer, und die Hütte Molochs annahmen und das Gestirn des Gottes Remphan (V. 42. 43). Aus dem Bilderdienst verfielen sie in eigentlichen groben Götzendienst und vertauschten die Hütte Jehovas mit der Hütte Molochs. So strafte Gott Sünde mit Sünde. Weil das Volk sich durch den Kälberdienst versündigt hatte, entzog sich Gott ihm, ließ es ins Verderben rennen, ohne es auf seiner abschüssigen Bahn aufzuhalten und so gerieten sie rettungslos in die Gewalt der Sünde. Für die Sünde, die sie gegen Moses dadurch begangen hatten, dass sie ihn verleugneten und den Aaron sich zum Mittler erwählten, wurden sie dadurch gestraft, dass sie auch von dem Gott des Moses abfallen und den Moloch statt des Jehova und des Götzen Hütte statt der Stiftshütte annehmen mussten. Früher wollten sie sündigen, setzt mussten sie sündigen.

Eine weitere Strafe für ihren Abfall erlitten die Kinder Israel, nachdem das Maß ihrer Sünden voll war, durch die Wegführungen nach Damaskus und Babel. So bewies also Gott, dass er in großer Geduld und Langmut die Sünden der Väter viele Geschlechtsfolgen hindurch au den Kindern teils trägt, teils züchtigend heimsucht, aber endlich, wenn das nichts hilft, sein eigenes unter dem Volke aufgerichtetes Werk selbst zerstört und das abtrünnige Volk wegwirft. Diese scheinbare Zerstörung des Werkes Gottes durch die Wegführung gen Babel hatte aber eine so gründliche Heilung des Volkes von der Sünde des Götzendienstes zur Folge, dass es nie wieder in denselben verfiel. Die Kinder Israel hielten seit der Wegführung nach Babel so starr und steif an dem von ihren Vätern verleugneten und verstoßenen Moses, dass sie von keinerlei vorbildlichem Beruf ihres Moses, und wäre es auch der eines Vorläufers des Messias, etwas wissen wollten und sich von leidenschaftlicher Verehrung gegen ihn, der doch ein bloßer Vorläufer war, verleiten ließen, seinen großen Nachfolger, Jesum, zu verwerfen.

Von diesem Irrtum hoffte Stephanus seine Zuhörer zu überzeugen und sie zu bewegen 1) an Jesum glauben zu lernen als den wahren Nachfolger des Moses. Das Werk des ersten Moses, das er als Prophet ausgerichtet hatte, war zerstört, der Bund war vom Volk unzähligemal gebrochen und darum die Wegführung jenseits Babel als Strafe verhängt worden. Auf die Rückkehr aus Babel war aber kümmerliche Zeit und endlich neue Knechtschaft unter römischem Joch und, was noch viel schlimmer war, unter dem mit Menschensatzungen aller Art entstellten Gesetz gefolgt. Es musste also notwendig etwas Neues geschahen, um die verfallenen Mauern Zions wieder aufzurichten und die gefangenen Seelen zu befreien. Dazu erweckte Gott Jesum, den von Moses verheißenen anderen Propheten. Wie Moses der Prophet und Mittler des alten Bundes dem Volk Bundesgesetze und Bundesrechte gegeben und den israelitischen Volkshaufen in eine Gemeinde Gottes zusammengefasst hatte, so sollte Jesus, der Prophet und Mittler des neuen Bundes die Bundesgnaden austeilen und die Bundesverheißungen erfüllen durch Sammlung einer Messiasgemeinde, die frei von knechtischer Furcht im Geist und in der Wahrheit anbetete. Mosis Weissagung von dem aus den Brüdern zu erweckenden Propheten: „den sollt ihr hören“ (V. 37) war, als Stephanus vor dem hohen Rat stand, an der Menge des jüdischen Volkes noch nicht erfüllt, obwohl die Stimme vom Himmel diesen Ausspruch wiederholt und Jesum als den bezeichnet hatte, an welchem er sich erfüllen solle. Darum wurde die Aufforderung, den vom Vater als seinen lieben Sohn bezeichneten Propheten Jesum zu hören, durch die Apostel und Jünger Jesu dem Volk immer wieder nahe gelegt, ob sie ihr nachkommen möchten. Stephanus wollte

2) seine Zuhörer bewegen, ihre Sünde zu erkennen, die darin bestand, dass sie es Jesu gerade so gemacht hatten, wie ihre Väter dem Moses, den sie sich als Heiland zur äußeren Erlösung vom Joch der Ägypter hatten gefallen lassen, aber ihn als Prophet verworfen hatten. So hätten auch die Juden sich Jesum als Befreier vom Joch der Römer gefallen lassen, als irdischen König hätten sie ihn bereitwillig ausgerufen, aber als Prophet hatten sie ihn von sich gestoßen. Als Moses auf den Sinai gestiegen war, sagten die Kinder Israel: Wir wissen nicht, was diesem Moses widerfahren ist (V. 40); als Jesus durch Auferstehung und Himmelfahrt zu Gott aufgestiegen war, sagten die Juden: Wir wissen nicht, was diesem Jesus widerfahren ist, und ließen sich das Märlein willig aufbinden, die Jünger hätten Nachts, dieweil die Wächter schliefen, seinen Leichnam gestohlen. Wie Israel das lebendige Wort der zehn Gebote nicht hören mochte, so mochten die Juden den, der sich den Weg, die Wahrheit und das Leben nannte, nicht hören und eben sowenig das lebendige Wort aus dem Munde der Apostel. So verwarfen sie denn den Propheten Jesum und hingen ihr Herz an die goldenen Kälber ihres äußeren Volkstums, ihrer buchstäblichen Gesetzlichkeit und ihres von dem Edomiter Herodes umgebauten Tempels mit seinem zerrissenen Vorhang. Was wird aber dem geschehen, der diesen Propheten nicht hört? Das war eine Frage, deren Beantwortung die Juden erwägen sollten. Ausgesprochen war die Antwort schon von Petrus in seiner Rede an die Männer von Israel nach der Heilung des Lahmen an der schönen Tür des Tempels, wo Petrus gesagt hatte: „Und es wird geschehen, welche Seele denselbigen Propheten nicht hören wird, die soll vertilget werden aus dem Volk“1). - Und es ist also geschehen, die Verwerfung des Volkes hat sich wiederholt. Nachdem die Juden über vierzig Jahre lang nach der Auferstehung Jesu einem anderen Gott als dem Vater Jesu Christi dienen zu können vermeinten, sind Tausend und Hunderttausend Seelen vertilgt und die Übrigen weggeworfen worden in das weite Babel des römischen Weltreiches.

Welche Lehre sollen wir uns aus dieser Geschichte nehmen?

1) Dass die Sünde Israels sich in der christlichen Kirche wiederholt hat. In Israel hat die Verwerfung des Propheten Moses zu einem falschen Gottesdienst und endlich zu völliger Abgötterei geführt; in der Christenheit hat die Verwerfung Jesu als alleinigen Mittlers und Propheten ebenfalls zu einer verderblichen Ausartung der Kirche geführt, von der sie notwendig umkehren muss, wofern sie nicht in völliges Antichristentum verfallen will. Israel hat sich vom einigen Mittler Moses abgewendet und sich einen falschen Mittler, den Aaron, gesucht, der ihnen ein goldenes Kalb machte. Ein großer Teil der Christenheit hat sich statt des zwar zu Gott aufgestiegenen, aber vom Himmel herab regierenden Christus einen Statthalter Christi auf Erden unterschieben lassen, der einen falschen Gottesdienst eingerichtet hat. So wenig Aaron der Stellvertreter oder Statthalter Mosis sein konnte und durfte, eben so wenig kann und darf ein Bischof der christlichen Kirche sich zum Statthalter und Stellvertreter Christi aufwerfen. Die anmaßliche Einschiebung einer Mittelsperson zwischen Christus und seiner Gemeinde hatte zur Folge, dass man noch andere falsche Mittler und Vermittlungen erfand, z. B. die Heiligen und deren Verehrung, Reliquien- und Bilderdienst, Verdienstlichkeit der Werke, und endlich eine das Volk vertreten sollende Priesterschaft und ihr Messopfer. Zwar hat es nicht an mancherlei geistreichen Erklärungen dieser Verirrungen und namentlich des Messopfers gefehlt; aber sie sind eben so wenig in der Wahrheit gegründet, als alle blendenden Scheingründe, die Aaron für den Dienst seines goldenen Kalbes vorgebracht haben mag, das eben nichts mehr und nichts weniger als ein abscheuliches Götzenbild war und von Moses als solches behandelt wurde. Die Strafen der Erwählung eines falschen Mittlers sind immer weiter gehende Ausartungen im Gottesdienst und im Leben, von denen wir folgende namhaft machen:

a) Entziehung „des lebendigen Wortes“ (V. 38), der Bibel, und Vertauschung derselben mit Menschensatzungen und lateinischen Gebetsformeln. Wie Moses die abgöttischen Kinder Israel damit strafte, dass er die von Gott gemachten und beschriebenen Gesetzestafeln zerbrach, so ist die römische Kirche gestraft und straft sich selbst damit, dass sie dem Volk die Bibel entzieht.

b) „Freude am Werk der eigenen Hände“ (V. 41), d. h. am stolzen Bau der Hierarchie, der nichts weiter als ein Produkt der Herrschsucht ist; Freude an der künstlichen, scheinbaren, aber nichts weniger als wirklichen Einheit; Freude au der Pracht eines selbsterfundenen Gottesdienstes, dessen Weihrauch den Sinn für geistliche Nüchternheit umnebelt.

c) Wirkungslosigkeit des Mittleramtes Christi. Weil die Kinder Israel den Aaron zum Mittler erwählten statt des von Gott gesetzten Moses, gerieten sie in den traurigen Zustand in der Wüste, wie wir ihn oben beschrieben haben. Gott entzog sich ihnen und gab sie dahin in völligen Abfall. Wenn die Christen den sogenannten Statthalter Christi erwählen statt Christi, so entzieht sich ihnen Christus und überlässt sie ihren selbst erfundenen Opfern und der Freude am Werk ihrer eigenen Hände. Sein Mittleramt dagegen bleibt unwirksam. Das zeigt sich am klarsten daraus, dass Allen, die menschliche Priester als Vermittler und Vertreter vor Gott suchen, die Gewissheit der Vergebung der Sünden, die Sicherheit, dass sie bei Gott in Gnaden stehen, die Freudigkeit des unmittelbaren Zugangs zu Gott, mit einem Wort die Gerechtigkeit aus dem Glauben fehlt. Nur wer sich auf den einigen Mittler Christum verlässt, weiß, „dass Gott ihm die vollkommene Genugtuung, Gerechtigkeit und Heiligkeit Christi schenkt und zurechnet und ihn als einen solchen ansieht, der nie keine Sünde begangen noch gehabt und selbst allen den Gehorsam vollbracht, den Christus für ihn geleistet“2).

2) Eine zweite Lehre, die wir der Darstellung des Stephanus von den Vorgängen in der Wüste für uns zu entnehmen haben, ist die, dass Jesus auch uns, die er erkauft und erlöst hat durch sein Blut, sich zunächst als Prophet, als Sprecher Gottes, offenbart, um uns den rechten Weg durch die pfadlose Wüste des Lebens zu führen. Als einen Erlöser aus der letzten Not lassen sich viele laue Christen den Herrn Jesum allenfalls gefallen. Er ist ihnen recht, wenn er sie durchs Todestal in den Himmel bringt, wenn Christus ihr letzter Not- und Rettungsanker auf dem Sterbebett wird, aber im Leben ihn hören als Prophet, sich von ihm leiten lassen als Hirt, in seine, des Meisters, Fußstapfen treten und ihm folgen auf den Dornenpfaden der Wüste, mit einem Wort, ihm gehorsam sein, das mögen sie nicht. So ein Stück vom Christentum wollen sie annehmen nach eigenem Maß und Gutdünken; aber Jesum, den persönlichen Mittler, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung, den mögen sie nicht. Sie wollen nicht den ganzen Christus, sondern nur soviel von ihm, als ihnen bequem ist. Das „lebendige Wort“ von Bekehrung, von Erneuerung, von völliger Hingabe des Herzens an den Herrn, von Verleugnung und Kreuzigung des Fleisches und Blutes, das lassen sie nicht an sich kommen. „Sie wenden sich um mit ihrem Herzen nach Ägypten,“ sie wollen nicht frisch vorwärts in die Wüste hinein und durch dieselbe nach Kanaan, sondern rückwärts zu den Fleischtöpfen der Welt und der Dienstbarkeit der Lüste. Solcher Ungehorsam führt zu Abirrungen aller Art und endlich zu gänzlichem Abfall. Wer sich von dem Herrn entfernt, von dem entfernt sich auch der Herr. Wehe uns, wenn sich Gott von uns wendete, uns dahingäbe in Sünde und endlich am jüngsten Tage sprechen müsste: Ich kenne euch nicht, weichet von mir ihr Übeltäter. Damit solches nicht geschehe, wollen wir beten:

Leb in mir als Prophete,
Und leit mich in dein Licht;
Als Priester mich vertrete,
Mein Tun und Lassen richt;
Um deinen ganzen Willen,
Als König zu erfüllen.
Leb, Christe, leb in mir. Amen.

1)
Apg. 3,23
2)
Heidelberger Katechismus, Frage 60
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