Göbel, Karl - Der Tempel ein Gegenbild der wahrhaftigen Hütte.

Göbel, Karl - Der Tempel ein Gegenbild der wahrhaftigen Hütte.

Nur, wer sein eigenes Herz kennt, der wird es glaublich finden, dass die Blindheit des natürlichen Menschen über sich selbst so undurchdringlich dicht und dick sei, wie sie der Herr in jenem Sprichwort beschreibt: Du siehst nicht den Balken in deinem Auge. Ein so großes Ding wie einen Balken nicht sehen können, ist gewiss ein hoher Grad von Blindheit, und nun gar einen Balken im Auge, im eigenen Auge nicht wahrnehmen können, ist das stärkste, was von der Blindheit ausgesagt werden kann. In solcher totalen Finsternis befinden sich nicht nur gewöhnliche, sondern manchmal sogar edle und begabte, ja gottesfürchtige Menschen. Wie eifrig war David, den reichen Mann zu verurteilen, der, obwohl er selbst hundert Schafe hatte, dennoch dem Armen sein einziges Schäflein raubte und doch hatte David, indem er seinen hastigen Urteilsspruch fällte, nicht die leiseste Ahnung davon, dass er selbst dieser Mann sei und er also, ohne es zu wissen, sich selbst verurteilt hatte. Wie eifrig waren die Schulen und das Volk, um den Stephanus vor Gericht zu ziehen, weil er den Tempel geschändet habe, und dabei kam ihnen nicht von fern der Gedanke, dass sie selbst den Tempel geschändet hatten, indem sie ihn zum Kaufhaus, ja zur Mördergrube gemacht hatten, davon nicht zu reden, dass sie durch die Tötung Christi den wahrhaftigen Tempel abgebrochen hatten. Wahrlich, es gehörte der äußerste Grad von Verblendung dazu, um unter diesen Umständen gegen Stephanus eine Klage wegen Lästerung des Tempels zu erheben. Auf die Verteidigung gegen diesen besonderen Klagepunktes, die Lästerung des Tempels betreffend, geht Stephanus in unserm heutigen Text ein:

Es hatten unsere Väter die Hütte des Zeugnisses in der Wüste, wie er ihnen das verordnet hatte, da er zu Mose redete, dass er sie machen sollte nach dem Vorbild, das er gesehen hatte; welche unsere Väter auch annahmen, und brachten sie mit Josua in das Land, das die Heiden inne hatten, welche Gott ausstieß vor dem Angesicht unserer Väter, bis zur Zeit Davids. Der fand Gnade bei Gott, und bat, dass er eine Hütte finden mochte dem Gott Jakobs. Salomo aber baute ihm ein Haus. Aber der Allerhöchste wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind, wie der Prophet spricht: „Der Himmel ist mein Stuhl und die Erde meiner Füße Schemel; was wollt ihr mir denn für ein Haus bauen, spricht der Herr, oder welches ist die Stätte meiner Ruhe? Hat nicht meine Hand das alles gemacht?“ Apostelgesch. 7,44-50.

Stephanus hatte im vorigen Abschnitt, wo sichs darum handelte, zu zeigen, dass er Mosen nicht gelästert habe, von dem halsstarrigen Benehmen des Volkes reden müssen und daran erinnern, wie sie den ihnen von Gott zum Propheten und Mittler gesandten Moses verstoßen und dagegen den Aaron zum Mittler zwischen sich und Gott erwählt hatten, damit er ihnen Götter mache, die vor ihnen hergingen. Stephanus hatte seinen Zuhörern vorhalten müssen, wie das Volk für die Missetat des alttestamentlichen Papismus und damit verbundenen Kälberdienstes von Gott mit Dahingebung in eigentlichen krassen Götzendienst gestraft und jenseits Babel weggeworfen worden war, nachdem es selbst innerlich Babel geworden. Im heutigen Abschnitt, wo Stephanus von Moses zum Tempel übergeht, kann er von dem gottvergessenen Verhalten des Volkes absehen und ausschließlich bei der gnädigen und weisen Tätigkeit Gottes verweilen, indem er zeigt, wie der Gott der Herrlichkeit durch Errichtung der Stiftshütte in der Wüste, durch Einbringung derselben ins heilige Land und Austreibung der Feinde vor ihr her, durch Vorbereitung des Tempelbaues durch David und Ausführung desselben durch Salomo, sein Volk stufenweise für die Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit erziehen und reif machen wollte. Die Wahrheit, welche Stephanus durch seine geschichtliche Darstellung zur Anerkennung bringen will, also das Thema dieses Abschnittes seiner Rede wäre etwa in folgende Worte zusammenzufassen:

Die Stiftshütte Mosis und der Tempel Salomonis waren nur Schattenrisse und Bilder eines künftigen wahrhaftigen Heiligtums.

Dass dem so sei wird klar werden

  1. an der Geschichte des vorbildlichen Tempels,
  2. an dem Wesen und der Geschichte der wahrhaftigen Hütte.

„Es hatten unsere Väter die Hütte des Zeugnisses in der Wüste“ (V. 44). Welch eine gnädige Herablassung, dass es dem „Allerhöchsten,“ der herniedergefahren war, das Elend seines Volkes zu sehen und sie zu erlösen, dass es diesem Allerhöchsten nun auch gefiel, bleibend unter seinem Volk zu wohnen und sich eine Wohnstätte errichten zu lassen. Eine besonders gnädige Herablassung des Allerhöchsten lag aber auch darin, dass er sich in der Art seines Wohnens der Lebensart seines Volkes so zu sagen anbequemte. So lange das Volk wanderte und unter Zelten und Laubhütten wohnte, lässt Gott sich auch ein Reisezelt errichten, um mitzuwandern. Dies Zelt heißt die Hütte des Zeugnisses, weil in ihr das Zeugnis der steinernen Tafeln mit den zehn Worten bewahrt wurde, in welchem Gott den Kindern Israel als in einer feierlichen Bundesurkunde bezeugte und zusicherte. Er, der sie aus Ägypten geführt habe, wolle ferner der Herr ihr Gott sein und sie sollten sein Volk sein, und dadurch bleiben, dass sie keine anderen Götter neben ihm hätten und in seinen Rechten und Geboten wandelten.

Die Hütte des Zeugnisses war aber nicht von Moses nach eigenem Gutdünken erfunden worden, sondern er hatte sie auf Befehl und Anweisung Gottes gemacht nach einem Vorbild, welches der Herr ihm im Gesicht gezeigt hatte, wie denn Gott zu ihm gesprochen hatte1): „Siehe zu, dass du Alles machst nach dem Bild, das du auf dem Berg gesehen hast“ (vgl. V. 44). Die Bestimmung der Stiftshütte, die wegen des Wohnens Gottes in ihr das Heiligtum hieß, war also eine doppelte: 1) Das Zeugnis der zehn Worte auf den zwei steinernen Tafeln als Bundesurkunde Gottes mit seinem Volk zu bewahren. 2) Ein Schattenriss himmlischer Dinge und ein Sinnbild göttlicher Gnadenratschlüsse und Geheimnisse zu sein, die Gott im Lauf der Zeit durch die Geschichte seines Volkes und die herrlichen Taten seiner herablassenden Liebe zur Ausführung bringen und mündlich verkündigen lassen wollte. Außerdem brachte der Besitz des heiligen Wanderzeltes, das an den Geschicken des Volkes in Glück und Unglück Teil hatte, dem Volk noch einen anderweitigen Segen, nämlich den Sieg über die Feinde. Davon sagt Stephanus: die Väter brachten es mit Josua in das Land, das die Heiden inne hatten. Vermöge der Gnadengegenwart in seinem Heiligtum „stieß Gott (von der Zeit Josuas an) die Heiden aus vor dem Angesicht unserer Väter bis zu der Zeit Davids“ (V. 45). Wie die Gnade des, der im Busch wohnte, das wehrlose Volk mit hohem Arm aus Ägypten geführt hatte, so verschaffte die Gegenwart Gottes in der Hütte des Zeugnisses seinem Volk den Sieg über die Heidenvölker und den Besitz des gelobten Landes. Zwei Zeiträume in der Geschichte Israels umschließt der Besitz der Hütte des Zeugnisses: 1) das Leben in der Wüste, als den Zeitraum der unsäglichen Geduld und Langmut Gottes, der vierzig Jahre hindurch das Volk heimsuchte und ihre Weise duldete, trotz dem, dass sie die Hütte Molochs angenommen hatten. 2) Das Leben im gelobten Lande von Josua bis David, wo der Gott der Herrlichkeit die Feinde vertilgte und sein Volk im verheißenen Land ohne sichtbares menschliches Oberhaupt selbst regierte und ihm Richter und Heilande und Propheten erweckte. - Einem in der Geschichte seines Volkes bewanderten Israeliten mussten bei Anhörung dieser wenigen Worte des Stephanus, in denen er die Geschichte der Stiftshütte und somit des heiligen Volkes nicht sowohl erzählt, als nur flüchtig andeutet, die Erinnerung an alle Wunder, Errettungen und Offenbarungen des Gottes der Herrlichkeit im Gedächtnis auftauchen. Nicht das war das größte Wunder Gottes in diesem Zeitraum, dass Jerichos Mauern vor der Bundeslade und dem Feldgeschrei der Kinder Israels umfielen, oder dass die Sonne auf Josuas Befehl stille stand, oder Gideon und Barak, Simson und Jephtha wunderbare Siege erfochten; sondern das unvergleichlich größte Wunder bestand darin, dass das Volk Israel Jahrhunderte lang ohne König, ohne Fürst, ohne höchste Obrigkeit existieren konnte, ohne sich selbst aufzureiben. Diesen beispiellosen, in seiner Art einzigen Zustand schildert die Heilige Schrift mit den einfachen Worten: Zu der Zeit war kein König in Israel; ein Jeglicher tat, was ihm recht däuchte2). Dieser Zustand war aber nur dadurch möglich, dass der Gott der Herrlichkeit bei und mit seinem Volk war und seinen allerhöchsten Willen und seine Macht entweder durch Offenbarungen, die dem die Hütte bedienenden Hohenpriester zu Teil wurden, oder durch Wunder, welche von der Lade des Zeugnisses ausgingen, kund gab. Es war dies die Zeit der eigentlichsten Theokratie oder Gottesherrschaft. Dass die beiden obengenannten Zeiträume, der der Pilgerschaft in der Wüste und der der Austreibung der Kanaaniten nicht schneller verliefen, dass also die Kinder Israel vierzig Jahre lang in der Wüste bleiben mussten, sowie dass die Austreibung der Heiden Jahrhunderte hindurch währte - was Josua begonnen hatte, vollendete erst David durch die Eroberung Jerusalems - davon lag die Schuld in der Halsstarrigkeit des Volkes. Diese Halsstarrigkeit konnte jedoch die Treue des Bundesgottes nicht aufheben und die Ausführung seines Gnadenrates zwar aufhalten, aber nicht vereiteln. Der fromme David, der das letzte Bollwerk der Heiden, die Stadt Jerusalem, eingenommen und somit die Stätte wiedergewonnen hatte, wo einst Abraham seinen Sohn zum Opfer darbrachte, der fand Gnade bei Gott und bat, dass er eine Hütte finden möchte dem Gott Jakobs (V. 46). Aber diese Bitte wurde ihm nicht in der Weise gewährt, wie er sich vorgestellt hatte. Es wurde ihm nicht erlaubt, selbst dem Herrn ein Haus zu bauen, sondern er durfte die Erbauung des Tempels nur vorbereiten. So erwies sich Gott an David zwar als den Gott der Verheißung, aber auch als den Allerhöchsten, der auch den erhabensten und frömmsten Menschengedanken die Ausführung versagt, wenn sie mit seinem Plan und Ratschluss nicht übereinstimmen.

Auch in den folgenden Zeiten gingen das Schicksal des Volkes und das Schicksal des Heiligtums Hand in Hand. Wie unter Moses das Volk in Laubhütten gewohnt hatte und sein Gott in einem Reisezelt; wie unter Josua und David das Volk gegen seine Feinde Krieg geführt und mit ihnen und für sie die Lade des Zeugnisses gestritten hatte; so ließ sich Gott, als er dem Volk unter Salomo Ruhe und dauernden Frieden gegeben hatte; als jedermann sicher unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnte, statt des Wanderzeltes der Stiftshütte einen steinernen Tempel bauen. Salomo aber baute ihm ein Haus, heißts V. 47. Damit war der dritte Abschnitt in der Geschichte des Heiligtums eingetreten. Die Verheißung, die der Gott der Herrlichkeit dem Abraham gegeben hatte, dass er seinem Samen das Land zu besitzen geben wolle (V. 5), und dass sie in diesem Land ihm dem Jehova dienen sollten (V. 7), war nunmehr nach Vollendung des Tempels aufs herrlichste erfüllt. Israel stand auf dem Höhepunkt seiner Geschichte. Aber gerade auf diesem höchsten Gipfel zeigt sich unwidersprechlich, dass das jetzt erreichte Ziel der Laufbahn des Volkes und der jetzt aufs prächtigste eingerichtete Tempeldienst, doch nur vorbildlich und vorläufig sein sollten, und dass Gott für die höchste Offenbarung der Geheimnisse seines Gnadenrates sich eine andere Zeit, eine andere Stätte, und eine andere Weise vorbehalten habe. Diese Erkenntnis hatte schon Salomo und sprach sie aus in seinem Gebet bei Einweihung des Tempels in den Worten: Meinst du auch, dass Gott auf Erden wohne? Siehe der Himmel und aller Himmel Himmel mögen Dich nicht versorgen. Wie sollte es denn dies Haus tun, das ich gebaut habe3). Genau denselben Gedanken spricht Stephanus aus, wenn er sagt: „Aber der Allerhöchste wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind, wie der Prophet spricht: der Himmel ist mein Stuhl und die Erde meiner Füße Schemel; was wollt ihr mir denn für ein Haus bauen, spricht der Herr; oder welches ist die Stätte meiner Ruhe? Hat nicht meine Hand das Alles gemacht?“ (V. 48-50). Durch die Anführung dieser Stelle aus dem Propheten Jesaias4) will Stephanus seinen Zuhörern zum Bewusstsein bringen, dass Salomo viel würdiger von Gott gedacht habe als sie, und sie folglich sehr unsalomonisch gesinnt wären, indem sie mit ihrem zweiten, nicht einmal von Salomo erbauten Tempel abgöttischen Missbrauch trieben und den allerhöchsten Gott daran fesseln und so zu sagen drin einsperren wollten. Der hohe Rat sollte durch die ganze Rede des Stephanus und namentlich durch deren uns heute vorliegenden Schluss zu der Erkenntnis kommen, dass das Werk Gottes noch nicht vollendet sei. Das Heiligtum war unter Moses ein Zelt in der Wüste, unter Josua und David ein Zelt im gelobten Land, endlich unter Salomo ein steinernes Haus; aber das Alles war nur Vorbereitung, nur weissagendes Vorbild auf die einstige Errichtung des wahren Heiligtums. Nur das Vorbild war fertig, nicht aber das wahre Heiligtum des eigentlichen Tempels, den der allerhöchste Gott einst auf Erden zu bauen beschlossen hatte. Auf die Frage: Welches ist die Stätte meiner Ruhe? (V. 49) sollten die Juden die Antwort suchen und dadurch erkennen, dass das große Geheimnis der Gottseligkeit, wovon Moses im Gesicht eine sinnbildliche Darstellung gesehen und von dieser symbolischen Erscheinung ein Abbild in der Hütte des Zeugnisses gemacht hatte, ihnen noch nicht kündlich und offenbar sei.

II. Die Frage: Welches ist die Stätte meiner Ruhe? Welches ist der wahre Tempel Gottes?

oder mit andern Worten: welches ist der Gottesgedanke, von dem die Stiftshütte zwar ein Schattenriss war, der aber seiner wirklichen leiblichen Darstellung noch entgegensieht? - diese Frage wird auch uns zur Beantwortung vorgelegt. Die Kinder Israel hatten die Verheißung, sie sollten Gott dienen im heiligen Land, „an dieser Stätte,“ und diese Verheißung war durch Salomo zur vorläufigen Erfüllung gekommen. Wir haben auch eine Verheißung und sie lautet: „Siehe da, eine Hütte Gottes bei den Menschen; und Er wird bei ihnen wohnen und sie werden sein Volk sein und Er Selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein“5). Das ist das Gotteswort, welches schon in der mosaischen Stiftshütte und im salomonischen Tempel seine sinnbildliche und bloß vorläufige Darstellung gefunden hatte, aber es bleiben nun noch die Fragen zu beantworten: Wodurch ist dies Gotteswort verwirklicht worden, und wie weit ist es bis jetzt erfüllt? und sodann: Wie wird es einst völlig erfüllt werden?

Die Weissagung von der Hütte Gottes bei den Menschen und vom Wohnen Gottes bei ihnen, deren abbildender Schattenriss die Stiftshütte war, ist wirklich erfüllt durch die Menschwerdung Gottes in der Person Jesu. Der Leib Christi ist der wahre und einzige Tempel Gottes bei den Menschen und seit Jesus selbst sich für den Tempel Gottes feierlich erklärt hat, ist das große Geheimnis der Gottseligkeit: „Siehe da eine Hütte Gottes bei den Menschen,“ Jedermann erkennbar. Das Wort ward Fleisch, sagt Johannes, und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit. Das Wohnen Gottes in Christo und die unausdenkbar tiefe Weise, in welcher dieser Jehova-Jesus mit uns sein und bei uns Menschen wohnen wolle, ist ausgesprochen in dem Namen, mit dem die Jungfrau Maria ihren Sohn heißen sollte, nämlich Immanuel. Gott war in Christo und darum, weil Gott auf Erden in ihm wohnte, gabs eine Hütte Gottes bei den Menschen und Jesus war diese Hütte und zwar die einzig wahrhaftige Hütte. Anfangs wohnte Gott in Christo unter uns in der Schwachheit des Fleisches, aber das Volk der Juden hat diesen Tempel Gottes zerbrochen und Christus hat ihn in drei Tagen wiedergebaut, indem durch die Auferstehung sein Fleisch zu einem geistlichen Leib verklärt wurde und diese verklärte Leiblichkeit Christi ist „die größere vollkommnere Hütte, die nicht mit Händen gemacht und nicht von dieser Schöpfung ist“6), sondern aus der neuen Schöpfung, aus der Wiedergeburt stammt. Mit diesem von Gott erbauten Bau, in welchem die Fülle der Gottheit nicht mehr in Schwachheit, sondern in Herrlichkeit wohnt, ist er vermöge seiner Himmelfahrt hindurchgegangen durch aller Himmel Himmel, droben vor dem Angesicht Gottes zu erscheinen für uns. Nun wissen wir die Antwort auf die Frage: Wo ist die Stätte seiner Ruhe? Sie ist das Wohnen Gottes in Christo. Jetzt kennen wir das Geheimnis, das durch die Stiftshütte abgeschattet war, die Vereinigung Gottes mit der Menschheit in Christo.

Aber auch dieser Tempel Gottes ist noch nicht fertig, oder, was dasselbe ist, die Verheißung von der Hütte Gottes bei den Menschen sieht ihrer endlichen Erfüllung erst noch entgegen. Derjenige, welcher der Tempel Gottes ist, wird auch den Tempel bauen und endlich zu seinem Tempel kommen, und zu dieser Bestimmung, ein Tempel Gottes im höchsten Sinn zu sein, ist mit und in Christo auch das erlöste Menschengeschlecht erwählt. Wie Christus eine Hütte Gottes bei den Menschen ist, so soll das erlöste Menschengeschlecht durch Verklärung seiner Leiber zu einer Behausung Gottes im Geist werden. Christi gottmenschliche Natur ist der Anfang der Hütte Gottes unter den Menschen, aber vollendet wird dieser Bau erst dann sein, wenn die Gemeinde, welche da ist der Leib Christi, verklärt und dem Haupt ähnlich gemacht sein wird. Wenn die ganze Gemeinde sich erbaut haben wird zu einer Behausung Gottes im Geist, die aus lauter lebendigen geistlichen Bausteinen besteht; wenn jedes Glied ein Immanuel ist, d. h. wenn Gott bei dem Menschen ist und der Mensch bei Gott ist; wenn, um mit Ezechiel zu reden, Gottes Heiligtum unter ihnen sein wird ewiglich7); dann ist der Tempel Gottes fertig; denn dann gibt es nicht bloß eine Hütte Gottes, die der Menschensohn Jesus ist, sondern eine Hütte Gottes bei den Menschen, welche die Gemeinde in Christo Jesu ist; die menschliche Natur, nicht bloß Christi, sondern der erlösten Menschheit, ist dann ein Bestandteil des himmlischen Heiligtums. Die schließliche Vollendung des Tempels fällt also in die allerletzte Zeit, wenn Christus einst Alles neu macht.

In den so eben ausgelegten Andeutungen des Stephanus über die weissagende Geschichte des vorbildlichen Tempels liegt für uns eine ernste Warnung und eine kräftige Ermunterung, die wir beide wohl zu beherzigen haben.

Die Warnung geht dahin, dass wir nicht in den Irrtum der Juden fallen, Etwas für den wesenhaften, wirklichen Tempel Gottes zu halten, was nicht der Tempel Gottes, sondern höchstens annährungsweise ein Tempel Gottes ist. Wir wollen nicht von denen reden, die ein Kirchengebäude, oder gar ein Gefäß, darum für ein Tabernakel, d. h. für eine Hütte Gottes, für ein Allerheiligstes halten, weil sie meinen, der in Brot verwandelte Gott sei darin. Wie gesagt, auf Niederlegung dieses römischen Irrtums, der mindestens eine Sünde wider das zweite Gebot ist, wollen wir jetzt nicht eingehen; aber es gibt auch eine unter Protestanten vorkommende, irrtümliche Vorstellung, die aus Überschätzung des Kirchentums und aus falscher Kirchlichkeit hervorgegangen, diese oder jene Konfessionskirche ausschließlich für den Tempel Gottes hält. Diese Vorstellung ist unbiblisch und engherzig, denn sowenig die Messiasgemeinde aus den Juden ausschließlich den Tempel Gottes ausmachte, weil ja die Messiasgemeinde aus den Heiden notwendig hinzugehörte; ebenso wenig bildet irgend eine protestantische Konfessionskirche (habe sie auch die reinste Lehre, oder die apostolischste Verfassung, oder die lebendigsten Glieder) für sich allein den Tempel Gottes. Eine Einzelkirche verhält sich zu der allgemeinen Kirche, wie eine Nation zur gesamten Menschheit. Die Halle Salomonis war nicht der Tempel, sondern nur ein Teil davon. Aber wir gehen noch weiter und sagen: Auch die Eine, heilige, allgemeine Kirche ist noch nicht die Hütte Gottes unter den Menschen. Die Hütte Gottes unter den Menschen ist noch gar nicht aufgerichtet, also ist sie weder hier noch dort und zwar darum nicht, weil die Gemeinde noch nicht verklärt ist. Die Eine, heilige, allgemeine Kirche ist noch nicht die Hütte Gottes, sondern sie wird erst zur Hütte Gottes, wenn der Herr zu seinem Tempel gekommen sein wird. Indessen sind Ansätze zur Hütte Gottes vorhanden bei allen denen, die Christi Geist haben und darum für ihre Personen einstweilen Tempel des Heiligen Geistes sind; ferner bei allen denen, die im Abendmahl Christi Fleisch und Blut im Glauben genossen haben und darum „von seinem Fleisch und Gebein“ sind. Das sind aber nur Anfänge, nur einzelne Bausteine, die in der Zurüstung begriffen sind, denn solange der Herr nicht zu seinem Tempel gekommen ist, oder mit andern Worten, so lange die Gemeinde nicht auferstanden und verklärt ist, sondern noch gefangen liegt im Leibe dieses Todes; so lange ist auch die Hütte Gottes noch nicht erschienen. - Die Aussage von der Hütte Gottes bei den Menschen ist ein Wort der Weissagung, das die höchsten und tiefsten Geheimnisse des Gnadenbundes in sich schließt. Man darf aber die höchsten und herrlichsten Gottesverheißungen nicht dadurch abschwächen, dass man sie auf die erste, beste Erscheinung, die eine entfernte Ähnlichkeit darbietet, sofort anwendet. Man darf nicht irgend einen frommen Gedanken gleich in das höchste und tiefste Gotteswort einkleiden. Das würde z. B. geschehen, wenn man jede christliche Haushaltung ohne weiteres eine Hütte Gottes bei den Menschen nennen wollte. Weil der Herr bei Zachäus eingekehrt war, darum war sein Haus noch nicht eine Hütte Gottes bei den Menschen, sondern seinem Haus war nur Heil widerfahren. Die Erbauung der Hütte Gottes bei den Menschen hat ihre Geschichte und ehe die Zeit erfüllt ist, in der der Herr Alles neu gemacht hat, ist ihr Bau noch nicht vollendet.

Die herrliche Weissagung von dem wesenhaften Tempel:

Wo Gott und die Menschheit in Einem vereinet.
Wo alle vollkommene Fülle erscheinet,

soll uns zur kräftigsten Ermunterung dienen, lebendige Bausteine an diesem zukünftigen Tempel zu werden. Ein lebendiger Stein an dem geistlichen Hause Gottes ist ein Baustein und ein Baumeister zugleich, er soll sich und andere erbauen. Alles, was er tut, soll zu seiner und des Nächsten Erbauung geschehen. Die lebendigen Bausteine, die Baumeister sind, sollen aber zugleich Bewohner des geistlichen Hauses werden.

Das sind sie aber nur dann, wenn sie gegründet sind auf den Eckstein, Christus. Es ist ein Unterschied zwischen Heißen und Sein, zwischen äußerer Form und innerem Wesen. Wir gehören nur dann zum Heiligtum der wahrhaftigen Hütte, wenn Christus in uns eine Gestalt gewonnen hat; wenn das Neue, das Christus in uns geschaffen hat, vorwiegend ist vor dem Alten. Haben wir mehr Leben in uns als Tod? Mehr Reinigkeit als Unreinigkeit? Ein unreiner Gottestempel ist ein eben so widersprechend Ding, wie eine saubere Behausung unsauberer Geister.

Die Geschichte des vorbildlichen Heiligtums vollzieht sich in uns, wenn wir vor dem Herrn und unter dem Schutz des Herrn wandeln in der Wüste des Lebens; wenn der wahre Josua in uns den Kampf kämpft gegen die Kanaaniter und sie ausstößt; wenn der Friedefürst Salomo in uns regiert und Gotte ein Haus aus uns baut.

Werfen wir noch einen Blick auf Stephanus, von dem wir jetzt Abschied nehmen müssen. „Sie sahen sein Angesicht wie eines Engels Angesicht.“ Das Vorspiel künftiger leiblicher Verklärung war an ihm sichtbar. Etwas von Verklärung muss auch an uns, wenn auch nicht sichtbar, doch vorhanden und uns und anderen wahrnehmbar sein, wenn wir wirklich zum Heiligtum Gottes gehören. Es muss sich in uns, wie Paulus sagt, des Herrn Klarheit spiegeln bis wir verklärt sind in dasselbige Bild von einer Klarheit zur andern, als vom Herrn, der der Geist ist8).

Ist Letzteres geschehen, dann ist Hütte Gottes, das Innewohnen Gottes im Menschen, vollendet, dann ist Alles neu gemacht und im tiefsten, vollsten Sinn wird an dem Überwinder, der Alles ererbt, das Wort erfüllt: Und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein9). Amen.

1)
2. Mos. 35,40; Hebr. 8,5
2)
Richter 21,25
3)
1. Kön. 3,27
4)
Jes. 66,1
5)
Offb. Joh. 221,3
6)
Hebr. 9,11
7)
Hesek. 37,26
8)
2. Cor. 3,18
9)
Offenb. 21,7
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