Girgensohn, Thomas - Zur Erbauung - Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.
Lasst uns ihn lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.
(1. Joh. 4, 19.)
Die beiden Sätze in vorstehendem Spruche sind durch das „denn“ unauflöslich mit einander verbunden; wenn der zweite Satz gilt, so gilt auch der erste, wenn die Liebe Gottes uns umfasst, so muss sie unsere Liebe gegen Gott zur Folge haben. So sollte es sein. Verwunderlich und befremdend aber ist es doch, dass in der Wirklichkeit diese beiden, die Liebe Gottes und die Liebe zu Gott, nicht in jenem von Gott gefügten Zusammenhange mit einander stehen. Das eine steht zwar in alle Wege fest: Er hat uns zuerst geliebt; von Anfang der Welt an ist die schaffende, erhaltende, regierende, erlösende, heiligende Liebe Gottes der Menschheit zugewandt gewesen; seit die christliche Kirche besteht, weidet der gute Hirte seine Heerde; an jedem einzelnen Gliede der Kirche erfüllt sich reichlich Psalm 103, 8: Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte; und wenn auch Trübsal den Christen nicht mangelt und das Wasser ihnen oft bis an die Seele geht, so bleibt es doch unumstößlich wahr: Die Güte des Herrn ist es, dass wir nicht gar aus sind; seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu und deine Treue ist groß (Klagel. Jerem. 3, 22. 23); daran ist gar nicht zu zweifeln: Er hat uns zuerst geliebt. Wo aber findet sich unter den Menschen die Bestätigung und Bewährung des Wortes: Lasst uns ihn lieben, oder nach dem Urtext: Wir lieben ihn? Abgesehen von der Heidenwelt macht sich ja doch mitten in der Christenheit die Gottlosigkeit und Sünde breit; und, wo man nicht in groben Sünden wandelt, da prägt sich doch im Tun und Lassen so vielfach die Selbstsucht, der Hochmut, die Eitelkeit, Begehrlichkeit und Kreuzesscheu aus, welche Früchte des Unkrautsamens die Liebe aus dem Herzen verdrängen. Die Ursache, die Liebe Gottes, ist in Tätigkeit; aber die Wirkung, die Liebe zu Gott, will nicht eintreten; es ist geschieden, was Gott zusammengefügt hat. Verwunderlich und befremdend ist das alles freilich, insofern die Sünde selbst ein Unbegreifliches ist, als insbesondere die Sünde innerhalb der unter dem Einfluss der Gnade stehenden Christenheit wohl ein Geheimnis der Bosheit genannt werden kann. Aber der Schleier des Geheimnisses wird doch in Etwas gelüftet, wenn wir bedenken, dass es ein Bindeglied gibt zwischen der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott, und dass, wenn dieses Bindeglied fehlt, die erstere nicht die rechte Wirkung haben kann. In dem vorstehenden Bibelwort verbindet der Apostel, wie erwähnt, die beiden Sätze mit einem „denn“; in diesem „denn“ liegt jenes Bindeglied beschlossen, sofern Johannes damit seinen Glauben, seine Erkenntnis der Liebe Gottes ausdrückt. Aus dem Unglauben, der Gott nicht erkennen will nach seiner heiligen Liebe, stammt alle Sünde, aller Mangel an Liebe. Die Heiden haben nach Röm. 1, 19 ff. die geoffenbarte Herrlichkeit Gottes nicht erkennen wollen, haben nicht glauben wollen, darum sind sie dahingegeben in Selbstsucht und Lüste, zu tun, was nicht taugt. Wie der Herr Joh. 8, 37 sagt: Meine Rede fährt nicht unter euch, oder Joh. 8, 45: Ich aber, weil ich die Wahrheit sage, so glaubt ihr mir nicht, so geht es überall da, wo innerhalb der Christenheit gepredigt wird: Er hat uns zuerst geliebt, und es doch nicht zu der Frucht kommt: Lasst uns ihn lieben; der Glaube fehlt. Wenn wir jedoch eine Sehnsucht im Herzen tragen nach solcher Frucht, wenn wir es mit dem Liede bekennen dürfen: Ich will dich lieben meine Krone, ich will dich lieben meinen Gott, dann müssen wir uns vor Allem mahnen lassen: Bittet um die Erkenntnis der Liebe Gottes, versenket euch doch tiefer und tiefer in das Wort, dessen Mittelpunkt diese Liebe ist (1. Joh. 4, 9), macht in ernstlichem Gebetsumgange mit Gott die Erfahrung von seiner erhörenden Liebe, bedenket täglich seine Wohltaten, ermuntert euch zu Lob und Dank, vergesset nicht, was er euch Gutes getan (Psalm 103, 1. 2). Werden wir mit Johannes (1. Joh. 4, 16) bezeugen können: Wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat, dann ist auch für uns nicht mehr geschieden, was Gott zusammengefügt hat, dann tönt es auch in unserem Herzen: Lasst uns ihn lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.
R. K. 93. Nr. 23.